Warum das Kreuz?

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Themenbereich: Jesus – der Weg

Thema: Gesetz oder Liebe?

Beitrag : Warum musste Jesus am Kreuz sterben? (Bodo Fiebig, 2018-1)

Um diese Frage gibt es gegenwärtig eine heftige theologische Diskussion: Ist nicht gerade dort, an der Zentralstelle des Neuen Testaments, am Kreuz auf Golgatha, der harte Kontrast zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Gesetz und Liebe manifestiert, unaufhebbar, nicht zu übersehen, nicht zu leugnen, und keiner Harmonisierung zugänglich? Da steht die Forderung Gottes an die Gerechtigkeit der Menschen, und alle sind schuldig. Alle, ohne Ausnahme sind schuldig vor dem Gesetz Gottes. Und hier am Kreuz präsentiert nun Gott seine Rechnung. Ist er nicht doch der harte Ankläger und Richter? Haben wir nicht gerade hier auf Golgatha die dunkle und die helle Seite Gottes überdeutlich vor Augen? Einmal Gott als den Richtenden, der Vergeltung fordert für jede Schuld der Menschen und dann Gott als den Vergebenden, der die Menschen von eben dieser Schuld erlösen will? Sehen wir nicht Jesus als den hellen Gegenspieler Gottes, der dem Racheverlangen seines dunklen innergöttlichen Partners in die Arme fallen muss, um uns verlorene Menschen um den Preis seines eigenen Lebens von der Strafandrohung des alttestamentlichen Richter-Gottes zu erlösen? Man­che altvertrauten Gesangbuchlieder bringen genau diese Theologie zum Ausdruck, z. B. das ansonsten so wunderschöne „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld …“ von Paul Gerhard. Dort heißt es (Vers 2):

Das Lämmlein ist der große Freund und Heiland meiner Seelen;

den, den hat Gott zum Sündenfeind und Sühner wollen wählen:

Geh hin, mein Kind, und nimm dich an

der Kinder, die ich ausgetan zur Straf und Zornesruten.

Die Straf ist schwer, der Zorn ist groß,

du kannst und sollst sie machen los

durch Sterben und durch Bluten“.

An dieser Frage kommen wir nicht vorbei und sie ist eine der beklemmendsten, wenn es darum geht, das Handeln Gottes im Neuen Testament zu verstehen: Was ist das für ein Gott, der, heilig und unerbittlich zugleich, auf der Heiligkeit der Menschen besteht, und der sie, weil sie diesem Anspruch nicht genügen, „für Straf und Zornesruten“ aussondert? Was ist das für ein Gott, der sein Recht auf Strafe für alle Verfehlungen der Menschen um jeden Preis durchsetzen muss, und sei es um den Preis des stellvertretenden Leidens „durch Sterben und durch Bluten“ seines geliebten Sohnes, in einem grausamen, blutigen Prozess, der aller Menschlichkeit Hohn spricht? Haben wir nicht auf Golgatha den dramatischen Höhepunkt eines „Gotteskampfes“ vor uns, eines letzten, entscheidenden Ringens zwischen dem alttestamentlichen, jüdischen Rache-Gott und dem neutestamentlichen, christlichen Gnaden-Gott, der in der Gestalt Jesu diesen Kampf schließlich siegreich besteht?

Wir sind gewöhnt, das Geschehen auf Golgatha immer und vor allem unter dem Aspekt der Vergeltung zu betrachten, die stellvertretend für alle an einem vollzogen wird. Wir meinen: Gott kann Schuld nicht wirklich ungesühnt lassen; Strafe muss sein. Es gibt keine Vergebung, die die Schuld wirklich tilgt, sondern nur ein Abwälzen der Schuld von den Schuldigen auf einen Unschuldigen. Er, der Unschuldige, der Sohn, muss stellvertretend leiden und sterben, damit die Schuldigen, also wir, frei ausgehen und gerettet sind. Wir haben Gott vor Augen als einen, der unerbittlich auf seinem Recht auf Strafe besteht, ja, der vielleicht sogar zum Strafen verpflichtet ist, weil sein eigenes Gesetz es so fordert, der dadurch in einen Konflikt mit sich selbst gerät, weil er die Menschen eigentlich liebt und der schließlich auf die absurde, ja geradezu wahnwitzige Idee verfällt, seinen geliebten Sohn in den Tod, in ein grauenvolles Leiden und Sterben zu schicken, damit sein Leiden und Sterben als Sühne für die Schuld der Menschen angerechnet werden kann und sie so bewahrt bleiben vor den Folgen der eigenen Strafandrohungen Gottes. Der Tod Jesu erscheint uns als letzter Ausweg aus dem innergöttlichen Konflikt zwischen Liebe und Rache, zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Wir haben am Kreuz von Golgatha das Bild von einem gespaltenen, ja schizophrenen Gott vor uns.

Aber ist Gott wirklich so? Hat er sich wirklich in der Bibel Alten und Neuen Testaments so offenbart, oder ist das nicht doch ein selbst gemachtes Gottesbild, ein schrecklicher Götze, von dem das zweite Gebot sagt: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht (2. Mose 20, 5)? Braucht der Gott der Bibel wirklich ein blutiges Opfer, um vergeben zu können? Diese Debatte unter Christen ist meiner Meinung nach völlig unnötig und überflüssig, denn der Einzige, der wirklich weiß, was es mit seinem Leiden und Sterben auf sich hat, Jesus selbst, hat diese Fragen ausführlich und unmissverständlich in einem Gleichnis beantwortet; wir müssen nur genau hinschauen:

Mk 12, 1-8 (vgl. auch Mt 21 33-46 und Lk 20, 9-19): Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs hole. Sie nahmen ihn aber, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte noch einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.

1 Der Weinberg Gottes

Nehmen wir dieses Gleichnis zunächst als das, was es sein will, eine Erzählung, eine Geschichte, die uns unmittelbar anrührt: Ein Mann, einer, der offensichtlich viel Land besitzt, legt einen Weinberg an. Die Zuhörer wissen selbstverständlich genau, was da alles dazugehört: Zum Beispiel heißt es hier: Der Mann zog einen Zaun um den Weinberg. Das ist sehr deutsch übersetzt. Wenn man schon mal dort war in diesem Land, dann weiß man: Dort gibt es keine Zäune aus Holz, Holz ist viel zu kostbar. Dort musste man die Sache anders anpacken: Das Land war (und ist) in den meisten Gegenden stein-reich: Mehr Steine als Erde. Da konnte man nicht einfach Weinreben pflanzen. Man musste das Land erst einmal freiräumen. Man grub also die dicksten Steinbrocken aus dem Boden und legte sie am Rande des Feldes ab. Dort baute man dann eine Trockenmauer aus diesen Steinen. Damit hatte man zweierlei erreicht: Erstens waren auf dem Feld nicht mehr so viele Steine und zweitens war jetzt das Feld geschützt vor den umherziehenden Schaf- und Ziegenherden, die jeden frischen Setzling und jede grüne Rebe sofort abgefressen hätten. In einem größeren Weinberg brauchte man dann noch eine Kelter. Das war eine in den Felsen gehauene Anlage, in die die geernteten Trauben geschüttet wurden, damit man sie dort zerstampfen und auspressen konnte. Der Saft floss in eine tiefer gelegene Wanne. Von dort wurde er in Tonkrüge gefüllt, in denen dann die Gärung stattfand. Außerdem gehörte in jeden ordentlichen Weinberg ein Wachturm. Wenn die Trauben reif wurden, musste man schon gut aufpassen, dass die Ernte nicht doch noch in letzter Minute verloren ging. Man musste die Scharen von Vögeln vertreiben, die über die süßen Beeren herfielen, man musste darauf achten, dass nicht doch eine Herde Ziegen durch eine Lücke in der Mauer hereindrängte und alles kahl fraß … Für den Betrieb so eines Weinbergs gab es eine Art Pachtsystem. Der Grundbesitzer verpachtete das Land an Landarbeiter, die den Weinberg bearbeiteten. Dafür bekamen sie ihren Anteil an der Ernte. Den Rest mussten sie dem Besitzer des Weinbergs abliefern.

Jedem der Zuhörer Jesu war damals klar, wie diese Geschichte gemeint war. Der Weinberg war schon im Alten Testament ein Bild für das Volk Israel, und der Weinbergbesitzer, das ist Gott selbst. Und die Weinbergpächter? Das waren die Verantwortlichen in Israel, die Könige und ihre Minister und Verwalter, die Mächtigen und Reichen, auch die Hohenpriester und Schriftgelehrten, also die geistliche Elite des Landes.

Ja, und da beginnt unsere Geschichte, interessant zu werden: Vers 2: Und der Weinbergbesitzer sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs hole. Soweit läuft alles ganz normal, aber dann kommt’s: Vers 3: Sie nahmen ihn aber, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Na, das ist schon ein starkes Stück: Vertragsbruch und Körperverletzung. Erstaunlich, dass der Besitzer noch so ruhig bleibt: Vers 4: Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Na, also jetzt geht’s aber wirklich zu weit. Diese Pächter sind ja richtige Kriminelle. Wie soll denn das enden? Vers 5: Und er sandte noch einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. Nein, also so kann das nicht weitergehen; das sind doch keine Landarbeiter und Weingartenpächter, das ist doch eine Mörderbande. Jetzt muss aber Schluss sein mit dem Schmusekurs, jetzt muss man hart durchgreifen! Mal sehen, was der Weinbergbesitzer jetzt macht. Vers 6: Da hatte er noch einen, seinen geliebten Sohn; den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Also nicht doch! Um Gottes willen! Das ist doch Wahnsinn! Zu einer solchen Mörderbande kannst du doch nicht deinen Sohn schicken! Was meinst du denn, was die mit ihm machen? Das kann doch nicht gut gehen! Mit denen musst du jetzt Schluss machen, endgültig! Bei denen ist jetzt eine richtige Strafexpedition dran, mit Polizei und Soldaten: Gefangennehmen, aburteilen, aufhängen, Schluss! Vers 7: Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Na, siehst du, ich hab’s doch gleich gesagt: Mit denen kann man’s nicht im Guten versuchen, da muss man mit harter Hand durchgreifen. Und jetzt schnell, schick einen Boten los, den schnellsten den du hast, der soll deinen Sohn warnen, dass er umkehrt. Hoffentlich kommt er nicht zu spät. Vers 8: Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.

Wie ist das zu verstehen? Ist Gott ganz einfach dumm, so wie er da handelt, naiv, vertrauensselig? Sitzt auf Wolke sieben und hat keine Ahnung, wie es wirklich zugeht in dieser Welt? Das Leben auf dieser Erde war doch von Anfang an ein „Kampf ums Dasein“. Jeder gegen jeden, der Stärkere frisst den Schwächeren. Und wenn der Fuchs nicht den Hasen fängt, oder wenigstens eine Maus, dann muss er selber verhungern. Und bei den Menschen ist es ja auch nicht viel besser: Die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte sind eine endlose Kette von Unterdrückung und Ausbeutung, von Raub und Betrug, von Kampf und Krieg, von Leid und Tod. Ist dem Schöpfer seine Schöpfung unter den Händen misslungen? Hat er sich getäuscht, als er von seiner Schöpfung sagte, sie sei „sehr gut“ (1.Mose 1, 31)? Wenigstens im „Weinberg Gottes“, in seinem auserwähltem Volk, sollte es doch anders zugehen!

2 Die Früchte des Menschseins

Aber so weit sind wir noch nicht in unserem Gleichnis. Der Sommer geht seinem Ende entgegen. Die Zeit der Traubenlese, die Zeit der Ernte im „Weinberg“ des Gottesvolkes ist gekommen. Nun schickt Gott seine Boten zu den Verantwortlichen im Volk Israel, dem er so viel Mühe zugewendet hat, damit es gute Früchte bringen kann, um dort nach den „Früchten“ im Weinberg (also im Volk Israel) zu suchen. Welche „Früchte“ könnten da gemeint sein?

Sehen wir in der Bibel nach, wo noch von Israel als dem „Weinberg“ Gottes die Rede ist, z. B. in dem bekannten „Weinberglied“ des Propheten Jesaja (Jes 5, 1-7). Da tauchen (mehr als ein halbes Jahrtausend vor Jesus) die gleichen Bilder auf: Der Weinberg, entsteint und mit edlen Reben bepflanzt, der Turm, die Kelter … Dort wird auch ausdrücklich gesagt, dass mit dem Weinberg das „Haus Israel“ gemeint ist und welche „Früchte“ Gott dort sucht: Rechtsspruch statt Rechtsbruch und Gerechtigkeit statt Geschrei über Schlechtigkeit (in den folgenden Versen bei Jesaja (Jes 5, 8-24) wird das noch im Einzelnen beschrieben).

Die „Früchte“, die Gott in Israel sucht, sind die für das Leben im erwählten Volk Gottes eigentlich selbstverständlichen Grundlagen der Menschlichkeit: Du sollst Vater und Mutter ehren, nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen, den Nächsten nicht verleumden, nicht mit List oder Gewalt an dich zu raffen versuchen, was einem andern gehört. Und was findet Gott in seinem „Weinberg“? Jes 5, 8-19: Er findet Habgier, Lüge, Betrug, Trunkenheit, Verbrechen und Gemeinheit jeder Art bis hin zur völligen Verdrehung aller ethischen Maßstäbe (Vers 20): Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!

Kommt uns das nicht auch für das Leben in den (zumindest den Namen nach) „christlichen“ Ländern sehr bekannt vor? Und sind die Christen nicht auch „Pflanzung“ Gottes? Und erzählt Jesus sein Weinberg-Gleichnis nicht seinen Jüngern? Der Weinberg ist offensichtlich nicht nur ein Gleichnis für das Volk Israel. Er ist auch ein Gleichnis für das ganze Volk Gottes Alten und Neuen Testaments, für Juden und Christen. Und die Weinbergpächter sind ein Bild für alle Verantwortlichen: Für die Fürsten und Könige, für die Präsidenten und Bundeskanzler, die Minister und Staatssekretäre, für die Richter und Anwälte, für die Heerführer und Generäle, für die Universitätsprofessoren und Forschungsleiter, für die Medienleute und Meinungsmacher, für Pfarrer und Bischöfe und für die Firmenbosse und die Vorstandsvorsitzenden der Weltkonzerne, für die Finanzjongleure und Investmentbanker usw., usw. Und heute wie damals geht es vielen dieser verantwortlichen „Weinbergpächter“ (nicht allen, aber doch vielen) vor allem um das eigene Wohl, um die eigene Macht, um den eigenen Gewinn. (Und damit wir nicht ganz so schnell beim Verurteilen der „andern“ sind: Irgendwo sind wir selber ja alle auch Verantwortliche: als Leiter eines Betriebs, als Vorsitzender eines Vereins, als Kirchenvorsteher in der Gemeinde, als Eltern einer Familie …)

Welche Früchte will Gott ernten auf dem „Weinberg“ Israels und dann auch der Christenheit? Wir könnten jetzt die ganze Bibel im AT und NT hernehmen, an vielen Stellen ist von diesen Früchten die Rede. Der Apostel Paulus fasst sie im Galaterbrief einmal in einem Satz zusammen: Gal 5, 22-23: Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit (oder Mäßigung)… Das sind die Früchte, die Gott vom Weinberg des Menschseins ernten will. Und das nicht, weil er sie braucht, sondern weil wir sie brauchen. Der Mensch kann nicht menschenwürdig leben ohne diese Früchte der Menschlichkeit. Wenn der Mensch diese Menschlichkeit verliert, dann wird er nicht zum Tier, sondern zur Bestie. Die großen ideologisch begründeten Unrechtsysteme des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts (Nationalismus, Kommunismus, Raubtier-Kapi­talis­mus) bestätigen das auf erschreckende Weise. Nein, nicht Gott braucht die Früchte vom Weinberg der Menschlichkeit, sondern wir.

3 Botschafter der Menschlichkeit

Und was macht Gott in dieser Situation? Er schickt immer wieder Boten aus, Mahner zur Menschlichkeit. Die Bibel nennt sie Propheten (die gibt es heute auch noch, die heißen nur heute meist nicht mehr so). Und wie es solchen Mahnern zur Menschlichkeit bei den verantwortlichen Pächtern des Weinbergs geht, das kann man schon im Alten Testament nachlesen, z. B. bei Jeremia (Jer 11, 18-19): Der HERR tat mir kund ihr Vorhaben, damit ich’s wisse, und er zeigte es mir. Denn ich war wie ein argloses Lamm gewesen, das zur Schlachtbank geführt wird, und wusste nicht, dass sie gegen mich beratschlagt und gesagt hatten: Lasst uns den Baum in seinem Saft verderben und ihn aus dem Lande der Lebendigen ausrotten, dass seines Namens nimmermehr gedacht werde. Wir sehen: Das Gleichnis Jesu hatte ganz konkrete Vorbilder.

Trotzdem müssen wir feststellen: Die mühevolle und oft auch lebensgefährliche Arbeit der Propheten hat aufs Ganze gesehen das Volk Gottes nicht auf seinen von Gott vorgegebenen Weg bringen und halten können. Die verantwortlichen „Weingärtner“ waren oft nicht Vorbilder und Förderer guten menschlichen Miteinanders, sondern Zerrbilder der Unmenschlichkeit und Verführer zum Bösen. Da hatte Gott noch einen, seinen geliebten Sohn (so heißt es in unserem Gleichnis); den sandte er als letzten auch zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Nun, wir wissen, wie es ausgegangen ist.

Aber warum tut Gott das, hätte er nicht wissen müssen, wie es ausgeht, er ist doch Gott und weiß alles! Warum tut er es dann trotzdem? Ist er wirklich so dumm und so naiv und ahnungslos?

Nein, ganz so dumm, ganz so naiv und ahnungslos, wie wir manch­mal meinen, ist Gott nicht. Aber er hat einen Plan, er hat ein Vorhaben, durch das er seine ganze Schöpfung erlösen will von Bosheit, Feindschaft und Gewalt und heimbringen will in den Lebensraum seiner Liebe. Ein Teil dieses Planes (siehe das Thema „Zwischen Schöpfung und Vollendung“ – die biblisch offenbarte Heilgeschichte in 24 Bildern -) besteht darin, dass in seinem auserwählten Volk eine modellhafte Vorverwirklichung seines Vorhabens geschieht, an der eine leidende, hoffnungsarme und heillose Menschheit einen Vorschein ihres zukünftigen Heils erkennen kann. Er will, dass in seinem Volk die Früchte wahrer Menschlichkeit vorhanden sind als sichtbare Zeichen dafür, dass die menschliche Gemeinschaft nicht so voller Ablehnung und Feindschaft, so voller Gewalt, Kampf und Krieg bleiben muss, wie sie ist und damit durch das Volk Gottes „gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1. Mose 12, 3).

Im Neuen Testament (Jo 13, 34+35) sagt Jesus zu seinen Jüngern: Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Sowohl das alttestamentliche als auch das neutestamentliche Gottesvolk sind (jedes für sich und gemeinsam miteinander) Zeichen und Zeugen für die Vollendung der Menschlichkeit, die Gott verheißen hat.

4 Das Zeichen des Kreuzes

Warum aber musste Jesus diesen grausamen Tod am Kreuz erleiden? Jesus selbst beantwortet in seinem Gleichnis diese Frage ganz unmissverständlich und wir sollten auf seine Antwort hören: Nein, nicht, weil Gott es so wollte! Nicht, weil der ein blutiges Opfer haben musste. Nicht, weil das Racheverlagen des „Weinbergbesitzers“ so unerbittlich war, dass er auf der Todesstrafe bestehen musste, um jeden Preis, und wenn er sie am eigenen Sohn vollziehen müsste. Nein, im Gegenteil! Er hoffte: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Nein, nicht weil Gott es wollte, musste Jesus am Kreuz sterben, sondern weil die Menschen, genauer gesagt: deren verantwortliche „Weingärtner“, also die Mächtigen und Meinungsmacher, die Wohlhabenden und Würdenträger, die Angesehenen und Amtsinhaber es so wollten! Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Es ging um das Erbe. Wenn wir den Sohn töten, dann ist das Erbe unser! Dann sind die Macht und der Reichtum und die Herrlichkeit Gottes unser! Wenn wir Jesus auf die Seite schaffen, dann können wir an seine Stelle treten, dann werden wir sein wie Gott!

Kommt uns das nicht bekannt vor? Ihr werdet sein wie Gott! Das steht doch schon auf den ersten Seiten der Bibel, und das stimmt ja auch: Gott schuf den Menschen als sein Ebenbild! Aber eben nicht als Inhaber seiner Macht, seines Reichtums und seiner Herrlichkeit, sondern als Ebenbild und Anschauungmodell seiner Liebe! Darum ging es beim soganannten „Sündenfall“! Die Menschen, und zwar ausgerechnet jene, die zum ersterwählten (alttestamentlichen) oder zum später hinzuberufenen (neutestamentlichen) Bundesvolk Gottes gehören, möchten sein wie Gott, ausgestattet mit seinem Erbe, mit seiner Macht, mit seinem Reichtum und seiner Herrlichkeit! Welch abgrundtiefe Dummheit! Und welch ungeheuerliche Fehleinschätzung der Eigenschaften und Absichten Gottes! Die Macht Gottes, das ist doch nicht die Macht der Gewalt und der Gewehre, mit denen man erzwingen kann, was einem beliebt! Die Macht Gottes ist die Macht seiner Liebe, mit der er jeden Menschen liebt, sogar noch jene machtversessenen Weinbergpächter. Und der Reichtum Gottes, das sind doch nicht Berge von Gold und Bunker voll Geld! Der Reichtum Gottes ist der Reichtum seiner Güte, die er uns zuwenden, die er an uns verschenken will. Und die Herrlichkeit Gottes, das ist doch nicht die Pracht von schönen Schlössern und schimmerndem Geschmeide, nicht der Prunk von himmelhohen Hallen voll hoheitsvoller Huldigung! Nein, die Herrlichkeit Gottes ist seine Bereitschaft zur Selbsthingabe, mit der er sich zu den Menschen begibt, um ihnen nahe zu sein.

Liebe und Güte und Hingabe, die Macht und den Reichtum und die Herrlichkeit Gottes (die zugleich auch die Früchte wahrer Menschlichkeit sind oder sein sollten), die können wir nicht durch Raub und Mord an uns bringen, die wachsen auch nicht auf dem Acker unseres Egoismus, die können wir nur als Gaben von Gott empfangen. Und ausgerechnet der, der uns, von Gott gesandt, diese Gottesgaben bringen sollte, der wurde von uns, den Menschen, umgebracht.

Jesus sagt selbst, dass er der Überbringer der Gaben Gottes ist (Mt 11,27): Alles (die ganze Fülle der Liebe, der Güte und der Demut Gottes) ist mit übergeben von meinem Vater. Und er ist bereit, das alles in die Gemeinschaft des Menschseins zu investieren (Jo 14, 27): … meinen Frieden gebe ich euch. Und dieser Friede (Schalom) schließt auch körperliche Heilung und äußeres Wohlergehen der Einzelnen mit ein (Mt 11, 5-6): Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt ... Ja, mehr noch: Die Gabe, die Jesus uns bringen will, schließt auch unser Heil in Zeit und Ewigkeit mit ein: Jo 10, 28: … und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Dabei betont Jesus immer wieder, dass es die Gaben der Liebe des Vaters sind, die er zu bringen hat (Jo 3, 16): Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Wir sehen: Gott hat seinen Sohn nicht zu uns geschickt, damit der bei uns etwas holen soll für ihn, sondern dass er uns etwas bringen soll von ihm. Gott will, dass im Weingarten des Menschseins die Früchte der gottgewollten Menschlichkeit vorhanden sind, dass sie da wachsen und reifen. Ohne sie können die Menschen nicht im Guten und im Frieden miteinander leben! Und weil er Jahr um Jahr diese Früchte vergeblich dort sucht, schickt er schließlich seinen Sohn, damit der die Früchte wahren Menschseins erst einmal zu den Menschen bringt, als Vor-Bild zur Anschauung und Nachahmung. Im Gleichnis wird das nicht ausdrücklich so ausgesprochen (das hätte das Bild dieses Gleichnisses gesprengt), aber im Zusammenhang der Botschaft Jesu ist das ganz deutlich erkennbar. Das ist ja auch die einzige Chance, dass Gott doch noch die Früchte wahrer Menschlichkeit im Weinberg des Menschseins finden und „ernten“ kann (für die Menschen, nicht für sich!): dass der Sohn selbst sie erst einmal dort hinbringt. Erst dann, wenn sie da (besonders in der Jüngergemeinschaft) ausgesät, gewachsen und gereift sind, kann er sie da ernten und austeilen an die ganze nach Liebe hungernde und an ihrer eigenen Bosheit leidende Menschheit. Deshalb sendet er den Sohn in den „Weinberg“ des Menschseins, obwohl er die Menschen kennt, und obwohl er weiß, was sie mit seinem Sohn machen werden. Das Zeichen des Kreuzes ist das Zeichen der Liebe, nicht der Rechtsansprüche Gottes.

Nein, Gott ist nicht naiv und ahnungslos und Jesus auch nicht. Er weiß, was ihn erwartet. An mehr als 30 Stellen im NT redet Jesus mit seinen Jüngern davon, dass er leiden muss und getötet werden wird, aber nur an einer einzigen Stelle erklärt er genauer, warum und von wem, hier in unserem Gleichnis von den Weinbergpächtern.

Jesus selbst sagt uns, warum er in diese Welt kam: Nicht, um uns vor dem Zorn Gottes zu retten, sondern um uns die Liebe Gottes in seiner Person und in seinem Verhältnis zum Vater leibhaftig vor Augen zu führen, sie uns zu bringen und zuzueignen, damit die Gemeinschaft der Jesusjünger (stellvertretend für die ganze Menschheit) selbst zum Zeichen der Liebe und Gegenwart Gottes im „Weinberg des Menschseins“ werden kann. Das bedeutet aber: Jede theologische Konstruktion oder Spekulation, die dem nicht entspricht, muss zurückgewiesen werden. Welcher theologische Denker wollte denn von sich behaupten, die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu besser zu wissen als Jesus selbst? Und Jesus selbst sagt unmissverständlich: Er ist nicht in diese Welt gesandt worden, weil der Zorn Gottes über die Menschen so groß war, er ist nicht in diese Welt gekommen, um dem Racheverlangen des Gottes, den er „Unser Vater“ nennt, in den Arm zu fallen. Er musste nicht als neutestamentlicher Gegenspieler des alttestamentlichen Richtergottes das Urteil und die Strafe auf sich nehmen, um die Menschen vor ewiger Verdammnis zu retten, die eben dieser Gott für sie bereithielt. Nein, Jesus wurde in den „Weinberg des Menschseins“ gesandt, weil Gott dort die „Früchte der Menschlichkeit“, ohne die die Menschheit nicht leben kann, suchte und nicht fand, und weil die Menschheit nicht zum Abbild der Liebe Gottes geworden war (1. Mose 1, 27), sondern zum Zerrbild der Gottlosigkeit und damit fast zwangsläufig zur Räuber- und Mörderbande.

Eine „Kreuzestheologie“, die Gott zum Scharfrichter und Urteilsvollstrecker macht, vor dessen Racheverlangen und Todesurteil Jesus uns um den Preis seines eigenen Lebens in Schutz nehmen muss, ist nichts anderes, als die Projektion der eigenen Mordgelüste der „Weinberg- Pächter“ auf den Besitzer des Weinbergs. Das Einzige, dass wir Gott hier zum Vorwurf machen könnten, ist, dass er zu viel Vertrauen investiert hat in die Vertrauenswürdigkeit der Menschen.

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Das Thema „Dein Reich komme“ enthält gegenwärtig folgende Beiträge (der eben verwendete Beitrag ist gelb markiert):

Der Ehebruch

Der Schabbat

Warum musste Jesus am Kreuz sterben?

Brot und Wein

Israel und die Kirche

Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes

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© 2013, Bodo Fiebig Warum musste Jesus am Kreuz sterben?Version 2018-1

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