Themenbereich: Grundfragen des Lebens
Thema: Wer bin ich?
Beitrag 1: Selbstbild und Weltbild (Bodo Fiebig, 2017-7)
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das „Ich“ sagen kann, das auch „Ich“ denken kann, das sich selbst als unverwechselbares Individuum empfinden und verstehen kann. Er ist auch das einzige Lebewesen, das seine Umweltwahrnehmung in einer zusammenhängenden, die Einzelphänomene sinnvoll verknüpfenden Gesamtschau verstehen kann. Selbstverständnis und Umweltverständnis bedingen sich gegenseitig. Nur wer seine Umwelt – wenigstens in deren lebensbedeutsamen Erscheinungsweisen – ansatzweise versteht, kann darin für seine eigene Existenz und für sein eigenes Selbstverständnis einen halbwegs gefestigten Standort finden.
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1 Selbstbild
Dabei muss nicht jede Frage zur eigenen Identität im Gesamtzusammenhang unserer Selbst- und Welterfahrung eine schlüssige und befriedigende Antwort haben. Unser Selbstbild gleicht zumeist eher einem bruchstückhaften Mosaik als einem großen zusammenhängenden Gemälde. Wie sind die einzelnen Steinchen dieses Mosaiks entstanden und wie können sie sich zu einem sinnvollen und befriedigenden Ganzen zusammenfügen?
1.1 Entstehung eines Selbstbildes
Niemand kann heute sagen, wann und unter welchen Umständen zum ersten Mal ein Mensch sich selbst als Individuum wahrgenommen hat. Vielleicht war es nach einem Regen, als ein Einzelner aus einer Sippe von Busch-Jägern sich umdrehte und die Abdrücke seiner Füße im feuchten Boden sah und ihn die überwältigende Einsicht durchfuhr (auch wenn er sie noch nicht in Worte fassen konnte): „Das war ich!“ Vielleicht lernte er schnell, seine Fußabdrücke von denen seiner Sippen-Genossen zu unterscheiden. So wurden sie ihm zum sichtbaren Bild dieses Ich-Gefühls, das sich in seinem Denken zu bilden begann, lange bevor es eine Sprache gab und ein Wort, das ein „Ich-Bewusstsein“ hätte ausdrücken können. Dieses Ich-Gefühl verstärkte sich vielleicht, als er, obwohl noch jung und unerfahren bei der Jagd, zum ersten Mal ein größeres Tier erlegte, und er über dem blutenden, noch lebenswarmen Körper des Tieres einen Triumphschrei ausstieß, der seinem Empfinden Ausdruck verlieh: „Ich, ich habe es besiegt!“
Vielleicht hat sich dieses Ich-Gefühl auch schon in seinen ersten Lebensjahren angebahnt, als seine Mutter ihm gegenüber den Laut, mit dem sie ihre Kinder zu sich rief, immer mit einer etwas anderen Tonlage, mit etwas anderer Stimmfärbung, mit einer ganz eigenen Betonung aussprach. Das könnte sein Bewusstsein verstärkt haben, dass er etwas Eigenes sei, unterscheidbar und unterschieden von allen anderen. Vielleicht wurde sein Selbst-Bewusstsein dadurch gefestigt, dass der Sippen-Häuptling ihn wenige Tage nach jenem ersten Jagderfolg vor der versammelten Sippe mit einer Lautfolge bezeichnete, die so ähnlich klang wie der Triumphschrei, den er über dem erlegten Tier ausgestoßen hatte. Seitdem „nannten“ ihn alle so. Eines Tages hat er dann vielleicht seine Hände mit Holzkohle geschwärzt und an der Stelle, wo in der Höhle sein Schlafplatz war, die Felswand mit den Abdrücken seiner Hände markiert. Auf solche Weise und durch tausend andere kleine Hinweise könnte ein „Selbst-Bewusstsein“ entstanden sein, das zunächst im Wesentlichen aus zwei Komponenten bestand:
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Ich hinterlasse Spuren meines Daseins in der Welt; ich bin der Urheber und Gestalter von Veränderungen.
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Ich werde von meinen nächsten Bezugspersonen als jemand wahrgenommen, der von anderen unterscheidbar ist, anders als alle anderen, und das bringen sie zum Ausdruck, indem sie mich mit einer eigenen, nur mir zugehörigen Lautfolge bezeichnen, mit meinem „Namen“.
1.2 Bestätigung oder Infragestellung des Selbstbildes von außen
Die Frage „Wer bin ich“ kann man sich als Mensch nicht selbst beantworten, jedenfalls solange man nicht wie Robinson allein auf einer einsamen Insel lebt. Unsere eigene Selbsteinschätzung muss sich immer wieder, täglich viele Male, mit dem auseinandersetzen, was von anderen Personen als Rückmeldung auf unser Verhalten und Reden, manchmal auch auf unsere bloße Gegenwart auf uns zukommt.
Wie reagieren andere auf mich und meine Gegenwart, eher positiv und erfreut oder negativ-ablehnend? Wie schätzen mich die andern ein, was trauen sie mir zu, was erwarten sie von mir? Welchen Platz nehme ich in der Gemeinschaft ein, was gelten meine Worte, meine Überzeugungen, mein Tun? Solche Rückmeldungen aus der sozialen Umgebung können eine Bestätigung des eigenen Selbstwertempfindens sein oder auch im Widerspruch zum eigenen Selbstbild stehen. Kritisch für die eigene Existenz wird es immer dann, wenn ein (oft mühsam errungenes) positives Selbstbild auf negative, manchmal auch bewusst herabwürdigende Fremdeinschätzungen trifft. Solche Widersprüche können eine Person zutiefst verunsichern und verletzen. Die neue Modewaffe im sozialen Kampfgetümmel des Großstadtdschungels, das Mobbing, nutzt gerade diese Verletzlichkeit, um unliebsame Konkurrenten/innen auszuschalten, und manchmal erweist sie sich auch im wörtlichen Sinne als tödlich. Gerade in der Pubertät, wo junge Menschen noch auf der Suche nach ihrer Identität sind, können abschätzige und herabwürdigende Urteile von außen (die noch dazu in der Welt-Öffentlichkeit des Internet ausgebreitet und vervielfältigt werden) persönliche Katastrophen auslösen.
Das eigene Selbstbild kann sich nur in der Wechselwirkung von Selbsterfahrung und Fremdeinschätzung herausbilden und festigen. Dass es zwischen beidem mehr oder weniger große Differenzen und Spannungen gibt, ist unvermeidlich (und muss auch noch keinen Schaden anrichten, solange diese Spannungen nicht an die Zerreißgrenze gehen). Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen. Und es bedarf schon eines in langer Lebenserfahrung gefestigten und in vielen Niederlagen erprobten Selbstbewusstseins, um dabei nicht allzu sehr abhängig von fremden Urteilen zu sein.
2 Weltbild
Unter dem Begriff „Weltbild“ müssen wir hier nicht unbedingt eine entfaltete und differenzierte Gesamtschau verstehen, in der alle Wahrnehmungen und Deutungen der eigenen Person und Geschichte und alle Wahrnehmungen der Umwelt, ihrer Gegebenheiten und Veränderungen sich zu einem einzigen großen, in sich stimmigen, überzeugenden und befriedigenden Gesamtbild zusammenfügen. Viel öfter dürfte ein solches “Weltbild“ aus Bruchstücken von mehr oder weniger unverarbeiteten und unverstandenen Einzeleindrücken bestehen, die sich zum Teil nur mühsam in einen sinnvollen Zusammenhang bringen lassen.
2.1 Entstehung eines Weltbildes
Jedes Tier hat eine Umweltwahrnehmung, und sei sie auch noch so ausschnitthaft eingeschränkt auf Wahrnehmungen, die auf Schutz- und Nahrungssuche, auf Sexualität und Fortpflanzung, auf Kampf und Flucht ausgerichtet sind. Selbstverständlich standen alle diese Wahrnehmungen auch dem frühen Menschen zur Verfügung. Für ihn erschloss sich jedoch irgendwann die Umwelt noch in ganz anderer, ganz neuer Weise: Er sah den Baum nicht mehr nur als diesen einzelnen Baum, der Schatten bot oder auch essbare Früchte, sondern er erkannte in ihm ein Exemplar der Kategorie „Baum“, von denen es viele gab, ganz verschieden gestaltet, aber doch alle mit den wesentlichen Merkmalen eines Baumes ausgestattet: Stamm und Wurzeln, Äste und Blätter. Er unterschied „Erde“ von „Stein“, auch wenn die Erde mal braun und mal rot, mal nass und matschig, mal trocken und staubig war, und der Stein mal hell und mal dunkel, mal glatt und mal kantig.
Gewiss war es ein großer Moment in der Entwicklung des Menschseins, als einer von ihnen zum ersten Mal einen Baum mit einer Lautfolge bezeichnete, die er auch auf andere Bäume anwendete und Erde und Stein mit unterschiedlichen Namen nannte, im Wissen, dass Erde und Stein ganz verschiedene Eigenschaften haben können, aber eben doch auch gemeinsame Merkmale, durch die man sie der einen oder anderen Kategorie zuordnen konnte. Und noch größer und bedeutsamer war der Augenblick, als zum ersten Mal ein Mensch einen Laut-Ausdruck verwendete für etwas, was man gar nicht direkt sehen, sondern nur indirekt an seinen Auswirkungen erkennen konnte: die Luft zum Beispiel, die man nach raschem Lauf spürbar einatmete, die einem als Wind ins Gesicht blies und die als Sturm selbst starke Bäume entwurzelte.
So lernte der Mensch nicht nur die verwirrende Vielfalt der Dinge selbst wahrzunehmen, sondern auch, sie in ein einfaches Schema von Kategorien einzuordnen, das ihm half, vieles rascher zu erkennen und besser zu verstehen. Voraussetzung dafür war das gleichzeitige Entstehen von sprachlichen Zuordnungen. Indem er den Baum „Baum“ nannte, konnte er tausend Einzelerscheinungen seiner Umwelt in einem einzigen Begriff zusammenfassen. Ja, er konnte sogar völlig neue Kategorien schaffen, die in der Natur gar nicht vorhanden waren: Wenn er ein Wort fand für „jagbares Tier“ oder „essbare Pflanze“, dann hatte er Kategorien entwickelt, die nicht in den Dingen selbst begründet waren, z. B. in ihrer biologischen Eigenart, sondern die ausschließlich in der Bedeutung begründet waren, die er selbst den Dingen beimaß.
Wenn man mit den heutigen Möglichkeiten voneinander isolierte Menschengruppen der Frühzeit beobachten könnte, und dabei erforschen könnte, welche Kategorien der Wahrnehmung, des Denkens und der Sprache sich bei ihnen entwickelt hätten, dann würde man wahrscheinlich feststellen, dass diese Entwicklungen oft unterschiedlich verlaufen waren und zu deutlich unterschiedlichen Ergebnissen geführt hatten. Viele eher zufällige Erlebnisse hätten zu ganz unterschiedlichen gedanklichen Verarbeitungsprozessen geführt. Die Erfahrung eines Waldbrandes z. B., der eine Gruppe von Frühmenschen einschloss und vielen von ihnen das Leben kostete, hätte bei dieser Gruppe vielleicht dazu geführt, das Feuer grundsätzlich als etwas schrecklich Gefährliches und dämonisch Lebensbedrohliches zu sehen, dem man unbedingt ausweichen müsste. Eine andere Gruppe hätte vielleicht einen durch Blitzschlag entzündeten Baum gefunden, hätte gelernt, das Feuer zu nähren und zu hüten, wie einen hilfreichen Freund, der das Fleisch erlegter Tiere leichter verzehrbar machte, und der nachts gefährliche Tiere vom Lager der Gruppe fernhielt. Menschen-Gruppen, die in kühlen, nassen Gegenden wohnten, hätten gelernt, den Regen zu fürchten, als etwas, was kalt und krank macht, andere, in heißen, trockenen Gebieten verehrten und ersehnten ihn als lebensspendende Macht.
Trotz dieser Verschiedenheiten war aber doch die übergroße Mehrheit der Erfahrungen aller Menschen in allen Weltgegenden ähnlich: Der Wechsel von Tag und Nacht, die immer wiederkehrende Folge der Jahreszeiten, die Lebensgrundlagen in Luft, Wasser und Erde und die Mühsal, ihnen das Lebensnotwendige abzuringen, Paarung und Schwangerschaft, Geburt, Lebenszeit und Tod … Diese gemeinsame Grundlage an Welterfahrung brachte schließlich auch ein gemeinsames, zumindest in den Grundzügen ähnliches Weltverständnis hervor.
2.2 Objektivierung des Weltbilds durch Kommunikation
Die gemeinsame Erfahrungsgrundlage ermöglichte den Mitgliedern einer frühen Horde von Menschen auch eine Art von Kommunikation, durch die sie solche Erfahrungen austauschen und mit der ganzen Gruppe teilen konnten. Hatte z. B. eine der Frauen aus einer Gruppe, die essbare Pflanzen sammelte, die Erfahrung gemacht, dass der Verzehr einer bestimmten Pflanzen-Art heftige Bauchschmerzen verursachte, so konnte sie die anderen durch einen furchterregenden Abwehrlaut davor warnen, die gleiche Pflanze zu essen. Wenn dann trotzdem irgendwann ein anderes Mitglied der Gruppe die gleiche Erfahrung machte, so wurde das Urteil bestätigt und gefestigt: „Diese Pflanze ist nicht gut zu essen.“ So entstand im Austausch individueller Erfahrungen ein gemeinsames Wissen, das, im Gedächtnis bewahrt, noch jahrelang zur Verfügung stand, ja das sogar an die nächste Generation weitergegeben werden konnte.
Später, als die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten schon weiter ausdifferenziert waren, konnte dieses Wissen erweitert und vertieft werden. Nun gab es die „weisen Frauen“, die nicht nur viele Pflanzen kannten, sondern die auch wussten, wie man sie zubereiten musste, damit sie nahrhaft und bekömmlich waren, die auch wussten, welche Pflanzenteile zu einem Brei zerstampft oder zu einem Tee gekocht bei bestimmten Krankheiten oder Verletzungen Linderung brachten. Vielleicht gab es auch einen „Rat der weisen Männer“, der die Geschicke des Stammes in den Gefährdungen durch Wetter und Jahreszeiten, durch Kämpfe und Hungersnöte führte. Bei diesen Männern umfasste das besondere Wissen vielleicht spezielle Techniken beim Bau und bei der Befestigung der Wohnstätte, erprobte Verfahren bei der Bewältigung von Kälte, Dürre oder Überschwemmung, bewährte Vorgehensweisen und erfolgversprechende Strategien bei der Jagd nach bestimmten Tieren, erprobte Taktiken beim Kampf gegen zahlenmäßig überlegene Feinde … Solche „Wissenden“ hatten hohes Ansehen in der Gemeinschaft und sie gaben ihr Wissen sorgsam an die nächste Generation weiter. Vielleicht ergaben sich auch schon Gelegenheiten, wo die „Weisen“ verschiedener Familienklans zusammenkamen und ihr Wissen austauschten, sodass nun die Erfahrungen einer viel größeren Anzahl von Menschen aus verschiedenen Sippen gebündelt und anwendbar wurden.
So wurden Einzelerfahrungen, deren subjektive Einordnung, emotionale Berührung und praktische Bewertung zunächst noch sehr unterschiedlich ausfallen konnten, im Austausch und Vergleich ähnlicher Erfahrungen einer Vielzahl von Menschen nach und nach immer mehr objektiviert. Es entstand ein Bild von der Welt, ihren Gegenständen und Kategorien, ihren Ereignissen und Entwicklungen, das zumindest in der jeweiligen Gruppe zur gültigen „Welt–Anschauung“ wurde. Das war sicher noch kein sprachlich ausformuliertes Denk-System mit differenzierten Deutungsmustern und Bewertungen, aber doch schon ein gemeinsames Netzwerk von Verknüpfungen unterschiedlicher Erfahrungen, die für den Einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaft von Bedeutung waren und das innerhalb der Gruppe ein gemeinsames Verstehen und Handeln ermöglichte.
2.3 Individuelles und kollektives Welt- und Menschenbild
Jeder Mensch hat ein Weltbild; er könnte gar nicht existieren ohne es. Das muss nicht immer ein sprachlich ausformuliertes und in sich stimmiges Gesamtkonzept sein. Manchmal mag es auch nur aus einer Vielzahl unverbundener Eindrücke bestehen, von denen sich nur wenige in einen sinnvollen Zusammenhang ordnen lassen. Erst recht muss so ein Weltbild keine „Ideologie“ sein, wo alle Erfahrungen und alles Wissen in einen großen, von unverrückbaren Wertungen bestimmten Gesamtzusammenhang gesehen werden.
Trotzdem braucht jeder Mensch ein Welt-Wissen und Welt-Verständnis, das den Handlungsrahmen für sein Leben absteckt. Er könnte sich ja abends nicht beruhigt schlafen legen, wenn er nicht wüsste, dass in ein paar Stunden die Sonne wieder aufgeht, und es wieder hell wird. Er könnte den Winter nicht überstehen, wenn ihm nicht seine Erfahrung versicherte, dass der Schnee wieder taut und die Natur danach wieder neues Grün und neue Früchte hervorbringt. Vieles, was im Tierreich durch instinktgesteuerte Abläufe festgelegt ist, muss der Mensch auf Grund seiner Erfahrungen bewusst gestalten.
Jeder Mensch braucht auch ein Selbstbild, das ihm z. B. sagt: „Ich bin kein Adler, der hoch über der Erde schwebt; wenn ich auf diesen felsigen Berg will, dann werde ich wohl auf Händen und Füßen hinaufklettern müssen. Und wenn ich wieder hinunter will, kann ich mich nicht einfach so in die Luft werfen wie er und hinabgleiten; ich würde zu Tode stürzen.“ Oder Jahrtausende später: „Ich bin kein Mathematik-Genie, rechnen war nie meine Stärke. Ich werde mir wohl einen Beruf suchen müssen, bei dem Zahlen keine große Rolle spielen.“ Ohne eine realistische Vorstellung von dem, was wir sind und auch was wir nicht sind, könnten wir nicht bewusst leben und sinnvoll handeln. Seitdem sich Menschen Lebens- und Handlungsräume erschlossen haben, die nicht mehr mit der vorgegebenen Instinktausstattung bewältigt werden können, ist er darauf angewiesen, seine Lebensweisen und Handlungsoptionen durch Wissen und Erfahrung zu begründen. Wir haben und wir brauchen für unser Leben ein einigermaßen stimmiges Welt- und Selbstbild, um in den alltäglichen Situationen unseres Daseins angemessen reagieren und zielgerichtet handeln zu können.
In der Tierwelt sind die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Tierart im Genpool dieser Art weitgehend festgelegt. Die Möglichkeiten zum Erwerb individueller Erfahrungen und zur Entwicklung individueller Problembewältigungsstrategien, die über das genetisch festgelegte Instinktverhalten hinausgehen, sind vergleichsweise gering. Noch geringer sind allerdings die Möglichkeiten, erworbene individuelle Erfahrungen und Fähigkeiten mitzuteilen und sie so anderen Individuen der eigenen Art zugänglich und nutzbar zu machen (obwohl es bei höher entwickelten Tieren häufig vorkommt, dass ältere Tiere die Jungen „anleiten“, wie man sich in bestimmten Situationen „richtig“ verhält). Die Ansätze zur Entwicklung einer „Sprache“ bei Tieren beinhalten jedoch im Allgemeinen nur den Ausdruck einer appellativen Mitteilung (Lockruf, Warnung, Aufforderung, Reviermarkierung …).
Der Mensch dagegen hat mit der Sprache ein Kommunikationssystem entwickelt, das die Möglichkeit bietet, eigene Erfahrungen, Problemlösungen und Ideen zu benennen, sie zu bewerten und zu verknüpfen und sie als gedeutete, von den realen Dingen schon weitgehend abstrahierte „innere Wirklichkeit“ anderen mitzuteilen, sie im Austausch abzugleichen und dadurch auf ihre allgemeingültige Stimmigkeit hin zu überprüfen.
Indem der Mensch die Dinge und ihre Eigenschaften und Beziehungen benennt, ordnet er sie ein in sein Vorstellungs- und Denksystem. Es entsteht in ihm ein subjektives inneres Bild von der Außen-Welt um ihn. Aber erst wenn nun mehrere Menschen über ihr subjektives Weltbild miteinander kommunizieren, indem sie mit Hilfe der Sprache ihre Erfahrungen austauschen und ihre subjektive Interpretation ähnlicher Erfahrungen miteinander vergleichen, entsteht ein Weltbild von zunehmend transsubjektiver Objektivität. Zumindest bekommt dieses „Weltbild“ eine allgemeine Stimmigkeit innerhalb einer begrenzten Gruppe von Menschen, die in intensivem Erfahrungsaustausch miteinander stehen. Es entsteht eine „Kultur“ (oder Subkultur) mit eigener „Weltanschauung“, die für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe von Menschen überzeugend und stimmig ist.
Durch die Entwicklung von Verkehrs- und Kommunikationsmitteln, mit denen Menschen und Informationen Länder und Kontinente überqueren, entsteht nach und nach eine „Weltkultur“ mit einem globalen Weltbild. Der Aufbau weltweiter elektronischer Kommunikationssysteme und die zunehmende Nutzung des Internet beschleunigen heute diesen Vorgang in nie dagewesener Weise.
Dazu kommt, dass die Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen nicht nur „horizontal“ auf die Breite der gegenwärtigen Menschheitsfamilie ausgerichtet sind, sondern sie reichen auch „vertikal“ in die Tiefen der Geschichte. Er kann mit Hilfe „konservierter“ (z. B. geschriebener) Sprache sogar mit Menschen geistig in Kontakt treten, die schon längst nicht mehr am Leben sind und auf diese Weise Erfahrungen und Ideen von Angehörigen früherer Generation für sich nutzbar machen.
Die Menschheit hat im Laufe von Jahrtausenden neben ihrem biologischen Genpool einen riesigen geistigen Erfahrungs- und Wissens-Pool, neben dem genetischen Erbe eine riesige kulturelle „Erbmasse“ aufgebaut, die das allermeiste ihrer geistigen Leistungen überhaupt erst möglich machen. Gemeint ist dabei nicht eine riesige Anhäufung unverbundener Wissensinhalte, sondern ein in vielen Fassetten schillerndes, in allen Sprachen der Welt klingendes „Gesamtkunstwerk“ menschlichen Geistes, in welchem sich alltägliches Erleben und Verstehen mit künstlerischem Ausdruck, philosophischer Gedanken-Architektur, wissenschaftlichem Erforschen und Beschreiben, religiöser Sehnsucht und Deutung … von Milliarden verschiedener Individuen durch vielfältige Kommunikation und gegenseitige Beeinflussung zu einem weltumspannenden Ganzen verbinden, das sich ständig verändert und erneuert, als wäre es ein lebendiges Wesen. Es entsteht, verdichtet und verknüpft sich eine die Erde umfassende Weltsphäre des Geistes, ein in allen Sprachen der Menschheit klingendes, differenziertes und bei aller Vielgestaltigkeit doch im Kern auch allen Menschen gemeinsames Welt- und Menschenbild als größten Schatz des Menschseins, angesammelt und ausgestaltet in Jahrtausenden.
Die Individualität jedes einzelnen Menschen hat in je besonderer Weise Anteil an der biologisch-geistig-kulturellen „Erbmasse“ der Menschheit. In mehrfacher Hinsicht:
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Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen am biologischen Erbe im Genpool der Menschheit und damit des Lebens insgesamt.
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Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen am geistigen Erbe der Menschheit, an deren Wissens- und Erfahrungsschatz, der in den verschiedenen Völkern und Kulturen in Jahrtausenden angesammelt wurde und immer weiter ausgebaut, immer neu darstellt und bewertet wird.
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Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen an der Vielfalt sozialer Lebensformen und Zugehörigkeit in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Recht, Information und Kommunikation…
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Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen am künstlerischen Erbe der Menschheit an bildender Gestaltung, Architektur, Musik, Tanz, darstellender Kunst und Literatur…
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Sie enthält eine je individuelle Ausprägung der Teilhabe aller Menschen an den verschiedenen Systemen philosophisch, weltanschaulich oder religiös begründeter Welt-Deutung, Lebensgestaltung und Zukunftshoffnung, durch die auch ihre ethischen Haltungen und mitmenschlichen Einstellungen und Verhaltensweisen begründet sind. Wir nennen diese individuelle Ausprägung der Teilhabe an den ethischen Grundpositionen der Menschheit das „Gewissen“.
All dies ist zusätzlich noch eingeordnet in die je besondere Gesamtsituation der regionalen, geografischen, klimatischen, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Umwelt. Das allermeiste dieser Teilhabe vollzieht sich unbewusst und trotzdem ist auch dieses Unbewusste Teil unserer Identität und unseres persönlichen Welt- und Menschenbildes.
Das Thema „Wer bin ich?“ enthält gegenwärtig folgende Themenbeiträge (der eben verwendete Beitrag ist hier gelb hinterlegt):
Selbstbild und Weltbild
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Weiterführende Beiträge aus anderen Themengruppen
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Bodo Fiebig „Wer bin ich?“ Version 2017 – 10
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