– Schuld und Vergebung

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Schuld und Vergebung

Schuld? Wer redet schon gern von Schuld! Ist das nicht ein Begriff aus längst vergangener Zeit, wo Menschen noch in moralischen Kategorien dachten? Sind wir und unsere modernen Sichtweisen nicht längst darüber hinaus und denken in ganz anderen Vorstellungen und reden mit ganz anderen Begriffen?

Wir fragen zum Beispiel lieber, ob eine Handlung oder ein Verhalten nützlich sind und erfolgversprechend, statt zu fragen, ob sie hilfreich oder rücksichtslos seien. Es erscheint uns wichtiger, darauf zu achten, dass eine Rede verständlich ist und überzeugend, statt zu fragen, ob sie ehrlich oder verlogen wäre. Wir wollen nicht gern unser Tun mit Maßstäben messen lassen, die wir nicht selbst gesetzt haben. Deshalb reden wir auch selten von „Schuld“ und „Vergebung“ sondern vielleicht von „unsachgemäßem Verhalten“, das einen „Strategiewechsel“ erfordert.

Trotzdem: Zwar kaum als Begriff, aber doch um so mehr als reale Erscheinungen im alltäglichen Umgang spielen Schuld und Vergebung in den Beziehungen zwischen Menschen eine oft entscheidende Rolle. Ob Beziehungen gelingen oder scheitern, hängt oft daran, ob Schuld zur Sprache kommen darf und Vergebung möglich wird.

Inhaltsverzeichnis

Schuld und Vergebung

1 Schuld?

1.1 Schuld – ein ungeliebter Begriff

1.2 Die Realität des Bösen

1.3 Schuld – das gewollte Böse

2 Die dreifache Wirkung der Schuld

2.1 Auswirkungen der Schuld beim Opfer

2.2 Auswirkungen der Schuld beim Täter

2.3 Auswirkungen der Schuld auf die Gemeinschaft

3 Vergebung und Erlösung

3.1 Vergebung

3.2 Erlösung

4 Die vierte Dimension der Schuld

4.1 Die Last der Schuld

4.2 Das Geheimnis der Erlösung

4.3 Erlösung in der Tiefe

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Schuld und Vergebung

1 Schuld?

Das Wort „Schuld“ ist jedem geläufig, aber kaum jemand könnte spontan mit einem Satz sagen, was denn eigentlich damit gemeint wäre. Am ehesten zugänglich scheint uns der Begriff der „Schulden“. Jemand hat ein neues Auto auf Kredit gekauft und hat nun „Schulden“. Oder man meint „Schuld“ in der Bedeutung von „Ursache“: „Das schlechte Wetter war schuld daran, dass wir die geplante Bergwanderung nicht durchführen konnten.“ Oder wir sagen, jemand hat einen Unfall „verschuldet“, auch wenn der Betreffende nur einen Augenblick unaufmerksam (und damit zwar im juristischen Sinn der Verursacher, aber doch kein absichtlicher „Täter“) war. Aber das alles ist hier nicht gemeint. Was aber dann? Es hilft nichts: Wir müssen uns die Realitäten unserer Welt anschauen, um zu sehen, was Begriffe wie „Schuld“ und „Vergebung“ in der Wirklichkeit unseres Lebens bedeuten.

1.1 Schuld – ein ungeliebter Begriff

Der Begriff „Schuld“ löst bei uns Unbehagen aus. Wir empfinden ihn als Vorwurf und wehren uns dagegen. Sätze wie „Wer schuldig ist, muss bestraft werden“ gehen uns durch den Sinn. Wir fühlen uns in die Rolle des Angeklagten versetzt, auf den man den mit Fingern zeigt: „Du bist schuld!“

Die Verbindung der Begriffe „Schuld“ und „Vergebung“ verunsichert uns zusätzlich: Welche Art von „Schuld“ könnte da gemeint sein, die „vergeben“ werden könnte oder sollte?

Versuchen wir also eine Klärung: Gemeint ist hier in diesem Beitrag nicht irgendeine willkürliche Beschuldigung: Etwas ist schief gelaufen, ein Schaden ist entstanden und jetzt sucht man einen „Schuldigen“ dem man die „Schuld in die Schuhe schieben“ kann. „Schuld“ (in dem hier verwendeten Sinn) kann es nur unter bestimmten Voraussetzungen geben:

1) Es muss Regelungen geben, die anzeigen, welches Verhalten, Reden oder Handeln grundsätzlich „richtig“ oder „falsch“ ist.

2) Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, in der konkreten Situation zu erkennen, welches Handeln jetzt richtig oder falsch wäre.

3) Die Betroffenen müssen die Möglichkeit haben, sich frei zu entscheiden, das Eine oder das Andere zu tun. Erst wenn jemand bewusst das „Falsche“ tut, das, was gegen die Regelung verstößt, obwohl er die Möglichkeit hätte, das Richtige zu vollbringen, kann er als „schuldig“ bezeichnet werden.

Jedes Gesetzbuch ist eine Sammlung solcher Regelungen und jeder, der sich falsch entscheidet und etwas tut, das gegen die geltenden Gesetze verstößt, macht sich „schuldig“.

Freilich ist der ganz überwiegende Anteil unseres alltäglichen Verhaltens nicht durch staatliche Gesetzgebung geregelt. Ob wir jemandem freundlich und aufgeschlossen begegnen oder misstrauisch und abweisend, ob wir jemanden belügen, um von einem eigenen Fehlverhalten abzulenken, ob wir ein mündlich gegebenes Versprechen einhalten oder nicht …, das und ganz vieles andere im alltäglichen Miteinander schreibt uns kein Gesetz vor. Trotzdem gibt es auch da die Unterscheidung zwischen richtig und falsch und zwar auf der Grundlage der Einstellungen und Wertungen der Mehrheit der beteiligten Personen. Die meisten Menschen haben eine einigermaßen gefestigte Vorstellung davon, was sie für „richtig“ oder „falsch“ halten (Siehe auch den Themenbeitrag „Recht und Unrecht“). Freilich können solche Einstellungen und Wertungen auch sehr widersprüchlich sein: Was einer für richtig hält, kann für einen anderen völlig falsch sein.

In vielen Fällen geht es dabei um sachliche Entscheidungen und die sind meist weniger problematisch. Es ist richtig, bei „rot“ nicht über die Ampel zu fahren, die entsprechenden Verkehrsregeln schreiben das so vor und wir tun auch zur eigenen Sicherheit gut daran, uns danach zu richten. Es gibt aber auch Entscheidungen, die tiefer begründet sind. Es ist mehr als nur „falsch“, ein Kind, das einem fröhlich vertrauend in die Arme springt, nicht aufzufangen, sondern hart auf den Boden fallen zu lassen, obwohl es kein Gesetz gibt, das so etwas ausdrücklich verbietet. Wir sagen dann, ein solches Verhalten ist nicht nur „falsch“, sondern „böse“. Wir werden auf diese Unterscheidung noch zurückkommen. Im allgemeinen empfinden wir es so, dass es richtig ist, das Gute wenigstens zu versuchen und falsch, das Böse zu wollen und zu tun. „Schuld“ ist nichts, was einem unbewusst, sozusagen aus Versehen passiert. Wir können auch so sagen: „Schuld“ ist das gewollte und bewusst getane „Böse“ (siehe Abschnitt1.2).

Die Frage ist nun allerdings: Brauchen wir denn wirklich so einen Schuldbegriff? Ist es nicht eher von Nachteil, wenn wir unser Verhalten untereinander und unser Verhältnis zueinander mit schwergewichtigen moralischen Forderungen belasten, anstatt die Dinge leichter zu nehmen und so unbelasteter zu leben?

Richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ – viele mögen solche Wertungen nicht. Aber, das muss uns bewusst sein: Wer nicht wertet, kann auch keine Werte haben. Werte entstehen ja erst dadurch, dass man wertet, dass man das eine für wertvoller hält als etwas anderes. Dass manche z. B. ein kleines Stückchen kristallinen Kohlenstoff (einen Diamanten) für tausendmal wertvoller halten als eine Mahlzeit, die eine ganze Familie satt macht, ist eine menschliche Wertung; in der Natur der Sache liegt sie nicht. Wir werten ständig und kommen ohne Wertungen gar nicht aus.

Ja, gut“, sagt man dann, „positive Wertungen kann man ja haben und benennen, aber negative Wertungen, also Ab-Wertung, darf es nicht geben!“ Das ist richtig; das ist jedenfalls dann richtig, wenn es sich auf Menschen, auf Personen oder Personengruppen (z. B. Völker, Rassen usw.) bezieht. Niemand hat das Recht, Menschen in eine „Werteskala“ einzuordnen, die den Einen für wertvoller oder minderwertiger achtet als andere.

Absolut falsch und schädlich ist eine solche Einstellung aber dann, wenn es nicht um Personen geht, sondern um Ideen und Einstellungen, um Verhaltensweisen und Handlungen. Da sind Wertungen um des Lebens und des Zusammenlebens der Menschen willen unbedingt notwendig:

Hass ist nicht gleichwertig mit Liebe!

Lüge ist nicht gleichwertig mit Wahrheit!

Betrug ist nicht gleichwertig mit Treue!

Folter ist nicht gleichwertig mit liebevoller Zuwendung!

Mord ist nicht gleichwertig mit Lebensrettung!

Krieg ist nicht gleichwertig mit Frieden!

Diktatur ist nicht gleichwertig mit Demokratie!

Wer, um den Schuldbegriff abzuwehren, alles relativiert und behauptet, es könne so etwas wie richtig und falsch, gut und böse gar nicht geben und deshalb dürfe man auch einen Begriff wie „Schuld“ nicht verwenden (und Leute, die das so sehen und behaupten, gibt es zuhauf), der macht sich selbst mitschuldig (macht sich zum Mit-Verursacher) beim Verlust der Menschlichkeit.

1.2 Die Realität des Bösen

Die Abneigung gegen den Schuldbegriff wird dann verständlich, wenn man die grundsätzlich ablehnende Einstellung vieler zu verpflichtenden Werten berücksichtigt. Schuldig kann ja man nur werden, wenn es eindeutige Maßstäbe dafür gibt, welches Verhalten richtig oder falsch ist, und wenn diese Verhaltens-Maßstäbe sich an Wert-Maßstäben ausrichten: Also nicht nur angemessen oder unpassend, sondern richtig oder falsch, nicht nur erfolgreich oder verlustbringend, sondern sondern gut oder schuldhaft ungut, also böse. Wenn alle Verhaltensoptionen grundsätzlich gleichwertig sind, und nur der eingetretene oder ausgebliebene Erfolg darüber entscheidet, ob ein Verhalten akzeptabel oder abzulehnen wäre, dann ist so etwas wie „Schuld“ nicht möglich, und so etwas wie „Vergebung“ nicht nötig. „Schuld“ ist das gewollte und bewusst getane „Böse“ (was „Vergebung“ bedeutet, davon wird noch zu reden sein).

Das kann ja niemand leugnen, dass es das Böse gibt, das Böse als etwas bewusst Böswilliges, etwas absichtlich und schuldhaft Leid Erzeugendes. Unsere Erde ist voll davon. Wenn auch nur für zehn Sekunden der Vorhang der Heimlichkeit weggezogen würde und wir könnten für diese wenigen Sekunden wahrnehmen, was gerade jetzt weltweit geschieht an Bosheit, Verbrechen und Grausamkeit, an Missachtung, Misshandlung und Missbrauch, an Betrug, Erpressung und Verleumdung, an Unrecht, Unterdrückung und Ausbeutung, an Gewalt, Folter und Mord, wir könnten es nicht ertragen, nicht einmal ein Tausendstel davon (siehe den Themenbeitrag „Friede auf Erden?“, Abschnitt 1 „Ursachen des Unfriedens“). Aber auch wenn wir es nicht sehen können, wir wissen es ja doch:

Wir wissen von Kriegen und Bürgerkriegen mit gewissenlosen Mordtruppen von gut bezahlten Söldnern und Heeren von Kindersoldaten, die nichts haben, außer einem Gewehr und den Befehl zu töten. Wir wissen von Eroberungen und Völkermord, von Vertreibung und ethnischen Säuberungen, von nationalem, ideologischem und religiösem Fanatismus. Wir sehen täglich die Bilder von der Bombardierung von Millionenstädten mit all ihren wehrlosen Kindern, Frauen und alten Menschen… Wir wissen von Unterdrückung und Rechtlosigkeit, von Gewalt und Folter in vielen, vielen Ländern dieser Erde.

Wir wissen von der entsetzlichen Armut und dem Hunger, in dem ganze Völker leben, und von dem maßlosen Reichtum einiger weniger direkt daneben, und dass die Armut der Einen ebenso wenig zufällig, naturgegeben und gottgewollt ist wie der Reichtum der Anderen. Wir wissen von Machtmissbrauch und Korruption, die ganze Länder in Chaos und Elend versinken lassen.

Wir wissen von der unersättlichen Gier nach Gewinn und Besitz und Macht, die selbst funktionierende Volkswirtschaften, ja die ganze Welt­wirtschaft mit gigantischen Spekulationsblasen in den Zusammenbruch treiben kann, eine Gier, die heute inmitten einer hungernden Welt die Spekulation an den Nahrungsmittelbörsen als Quelle riesiger Gewinne entdeckt, und die dabei ist, sich die Patentrechte auf alle Lebensformen zu sichern, von denen sich die Menschheit ernährt, um eben diese ganze Menschheit in die Abhängigkeit von einigen wenigen internationalen Lebensmittel- und Saatgutkonzernen zu zwingen (siehe den Kurzbeitrag „Macht ohne Menschlichkeit“ im Bereich „Mitreden“, „Herausforderungen der Gegenwart“).

Wir wissen von der weltumspannenden Macht des internationalen Verbrechens, das mit Raub und Mord, mit Entführung und Erpressung, mit Rauschgift- und Menschenhandel, mit Waffenschmuggel und Terrorismus so viele Milliarden verdient, dass es die Wirtschaft und die Politik ganzer Länder unterwandern und überwuchern kann.

Wir wissen auch von Habgier und Gewinnsucht in unserem eigenen Land, von Betrug und Skrupellosigkeit, von offener Parteilichkeit und heimlicher Bereicherung, so dass wir bald nicht mehr wissen, wem wir noch trauen können und was aus den übervollen Regalen der Geschäfte wir eigentlich noch unbedenklich essen können.

Wir wissen auch, oder ahnen zumindest, von dem heimlichen Leid und der heimlichen Gewalt, vor allem an Frauen und Kindern, hinter den glatten Fassaden mancher Häuser mitten in unseren Städten und Dörfern.

Und wir wissen von einer geld- und quotengierigen Medien- und Vergnügungsindustrie, die selbst aus dem Grauen des Krieges, der Gemeinheit des Verbrechens, dem Schrecken der Gewalt und dem Elend ethischer Perversion noch riesige Gewinne schlägt, weil man damit Werbung verkaufen kann für Kosmetik und Schokolade, Waschmittel und Autos …

Wo alle Bindungskräfte auf das eigene Ich oder die Vorteile der eigenen Gruppe gerichtet sind, werden die Abstoßungskräfte gegenüber den „anderen“ übermächtig. „Ich für mich gegen dich; wir für uns gegen euch! Du hast etwas, das ich nicht habe, also werde ich es dir nehmen! Du bist anders, deshalb bist du weniger wert. Ihr habt andere Ansichten, Gewohnheiten, Ziele, also werden wir euch bekämpfen! Ihr gehört nicht zu uns, deshalb werden wir uns über euch erheben und euch unterdrücken – wenn es sein muss, auch ausrotten.“ Kain erschlägt Abel. Jeden Tag, tausendfach irgendwo auf der Erde. So entstehen Menschheitskatastrophen wie die von Auschwitz oder Hiroshima und so entsteht die permanente Menschheitstragödie des unbeachteten Leidens von Millionen, überall auf dieser Erde, und auch hier bei uns.

Angesichts dieser Realität die Schuldfrage auszuklammern, würde bedeuten, die Opfer im Stich zu lassen, ja, sie zu verhöhnen. (Siehe dazu auch den den Themenbeitrag „gut und böse“; hier seien nur einige wenige Sätze daraus zitiert):

Mit „böse” bezeichne ich hier jede Einstellung, jedes Vorhaben, jedes Reden und Verhalten und jede Tat, die bewusst, absichtlich und aus vorwiegend eigensüchtigen Motiven einem andern Schaden und Leid zufügen wollen. Mit „gut” bezeichne ich hier jede Einstellung, jedes Vorhaben, jedes Reden und Verhalten und jede Tat, die bewusst, absichtlich und aus vorwiegend uneigennützigen Motiven einem andern wohltun oder helfen, ihn schützen oder fördern wollen. Wer wollte leugnen, dass es das so bezeichnete „Böse” gibt und dass es ungeheure Auswirkungen hat im Miteinander von Menschen, vom Zusammenleben einer Familie bis zum Zusammenleben von Völkern, dass es Ursache ist von Hass und Gewalt, Streit und Krieg, von millionenfachem Hunger, Leid und Not? Und wer, außer einem böswilligen Zyniker, wollte leugnen, dass es auch das im oben genannten Sinn gemeinte „Gute” gibt und dass ohne dieses ein friedliches Zusammenleben von Menschen gar nicht möglich wäre? Ohne Unterscheidung von gut und böse im Bezug auf menschliches Verhalten, auf Worte und Taten ebenso, wie auf Absichten und Einstellungen, ist eine lebenswerte Gemeinschaft unter Menschen nicht möglich. (Zitat Ende)

Wem jede Verhaltensoption gleich gültig ist, dem ist alles gleichgültig. Wer, wenn es um Ideen, Einstellungen, Rede- und Verhaltensweisen von Menschen geht, nicht werten will, wer nicht von richtig oder falsch, gut oder böse, das heißt nicht von Schuld reden will, der entwertet das Menschsein bis zur totalen Wertlosigkeit (wie es z. B. in den Konzentrations-, Straf- und Vernichtungslagern der nationalisti­schen oder kommunistischen Diktaturen des Zwanzigsten Jahrhunderts millionenfach geschah).

1.3 Schuld, das gewollte Böse

Hier ist vorläufig nur von Schuld gegenüber den Mitmenschen die Rede. Es gibt auch Schuld gegenüber Gott; davon wird später noch zu reden sein.

Schuld, als das gewollte Böse, gibt es in ganz verschiedenen Erscheinungsweisen. Hier soll nur eine grobe Übersicht angeboten und mit einigen wenigen Beispielen angedeutet werden: Schuldig kann man z. B. werden,

1 indem man anderen (Einzelnen oder Gemeinschaften) bewusst und ab- sichtlich materiellen Schaden zufügt: Durch Raub, Betrug, absichtliche und böswillige Zerstörung …

2 indem man anderen bewusst und absichtlich Schaden am Sozialstatus zufügt: Durch Verleumdung, Erniedrigung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Mobbing …

3 indem man anderen bewusst und absichtlich Schaden am psychischen Wohlergehen zufügt: Durch Vertrauensbruch, Verunsicherung, Bedrohung, Angst machende und traumatisierende Erfahrungen …

4 indem man anderen bewusst und absichtlich körperlichen Schaden zufügt: Durch gesundheitliche Beeinträchtigung (z.B. indem man um des größeren Gewinnes willen gesundheitsgefährdende Lebensmittel in den Verkehr bringt), durch Gewalt, Schmerz, Folter und Tod.

Dabei muss man beachten: Vor den bürgerlichen Gesetzen können Menschen nur schuldig werden, wenn sie gegen ein schriftlich festgelegtes Gesetz verstoßen; wenn das nicht der Fall ist, fragt (vom juristischen Standpunkt her) niemand danach, ob der Betreffende vielleicht Böses mit ganz legalen Mitteln zu tun beabsichtigt, und das ist viel häufiger der Fall, als man normalerweise annimmt. Gleichzeitig können Menschen nach den Gesetzen auch schuldig werden, wenn sie etwas Negatives (z. B. einen Verkehrsunfall) verursacht haben, etwa durch Unachtsamkeit oder Leichtsinn, obwohl sie das Böse selbst gar nicht wollten. Sie unterliegen dann einer Haft-Pflicht, durch die ein Schaden, soweit es möglich ist, wieder gut gemacht werden soll.

Hier wird aber der Begriff „Schuld“ nicht im juristischen Sinn, sondern als ethische Kategorie verwendet. „Schuld“ im hier verwendeten Sinne kann es nur geben, wenn der Wille zum Bösen die Triebkraft des Handelns war.

2 Die Auswirkung der Schuld

Vielleicht kann es helfen, das Geschehen in bildhafte Vorstellungen zu übersetzen: Ein Mensch spitzt sein Aggressionspotential, offen oder verdeckt zur „Waffe“ und verletzt einen anderen Menschen. Dieser hat nun die Möglichkeit, auf dem „Nährboden“ dieser Wunde ein eigenes Aggressionspotential anwachsen zu lassen, das er zum Gegenangriff nutzen kann, um nun den „Gegner“ ebenfalls zu verletzen. So entstehen persönliche Feindschaften und menschheitsgefährdende Kriege. Versuchen wir uns vorzustellen, welche Vorgänge sich dabei abspielen:

Unabhängig davon, ob wir körperlich oder seelisch verletzt, materiell geschädigt oder sozial herabgewürdigt wurden, jeder Angriff, jedes Unrecht trifft unser Menschsein als Ganzes, trifft uns mehr oder weniger tief, störend, verstörend und zerstörend im Kern unserer Person. Und so wie eine körperliche Verletzung (eine oberflächliche Hautabschürfung oder eine tiefe, lebensbedrohliche Wunde) dort eine Entzündungsreaktion auslöst, wo krankmachende Keime gegen körpereigene Abwehrkräfte darum ringen, welche Kräfte sich schließlich durchsetzen können, so entsteht nun auch im Innersten unserer Person, im Zentrum unseres Menschseins eine „Entzündung“ unseres Ich, wo die aktuelle Kränkung zusammen mit kränkenden Erfahrungen unserer Lebensgeschichte zerstörende Wirkungen auslösen, während gleichzeitig widerstandsfähige und aufbauende Kräfte unserer Lebenserfahrung und unseres Selbstwertbewusstseins Prozesse zur Gesundung in Gang setzen.

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Dabei meint in dieser Skizze der noch nicht deformierte Zustand links nicht den „unschuldigen“ Zustand des Menschen bei seiner Geburt, sondern den „heilen“ Zustand des Menschen, wie er von seinem Schöpfer eigentlich gemeint war. Der Mensch kommt ja oft schon als Entstellter und Verletzter zur Welt (etwa durch einschränkende und behindernde Erbanlagen oder durch schädigende vorgeburtliche Erfahrungen).

Das mittlere Bild zeigt die Person des Menschen mit ersten Verletzungen, die ihm zugefügt wurden und als Folge davon eine wunde Stelle, eine kleine, aber doch schon spürbare „Entzündung“ des Ich im Innersten der Person, die in Folge von erlittenem Unrecht entstanden ist. Das Überraschende ist nun, dass die nicht „geheilt“ werden kann durch Rache und Vergeltung an denen, die uns weh getan haben. So sehen wir das ja oft: Wenn ich es dem Täter heimzahlen kann oder wenn ich sonst einem anderen Menschen Schaden zufüge, egal wem, dann wirkt das wie „Balsam“ auf mein verwundetes Ich. Die Erfahrung zeigt uns aber genau das Gegenteil: Jedes Böse, das ich einem anderen antue (auch als Vergeltung für erlittenes Unrecht), verschlimmert mein eigenes Unglück. Die „Entzündung“ meines Ich, die Schwächung meiner Lebenskraft, die Verdüsterung meiner Lebensfreude wird durch das Böse, das ich anderen antue noch verstärkt.

Das rechte Bild zeigt das „Vollbild“ des deformierten Menschen mit tiefen Zerstörungen, die bis in den Kern der Person reichen und als Folge davon im Innersten eine ausgedehnte „Entzündung“ und Erkrankung des Ich, aus der nun im Gegenzug eigene aggressive Impulse kommen, die darauf abzielen, anderen weh zu tun.

Dabei muss man beachten, dass jeder Mensch aufs Ganze gesehen immer Opfer und Täter zugleich ist (es gibt wohl keinen Menschen, der aus dem Kleinkindalter entwachsen ist, der noch niemals einem anderen bewusst Unrecht angetan hat und niemanden, dem nicht schon einmal bewusst Unrecht angetan wurde). Das bedeutet jedoch nicht, dass es gleichgültig wäre, ob man in einem bestimmten Geschehen Täter oder Opfer ist. In jedem konkreten Vorgang muss man zwischen Täter und Opfer deutlich unterscheiden, indem man dem Täter seine Schuld vor Augen führt und jeder möglichen Wiederholung seiner Tat wehrt und indem man dem Opfer hilft, seine Leiderfahrung zu überwinden

Schuld ist niemals eindimensional. Das gewollte und vollbrachte Böse hat seine Auswirkungen beim Opfer und beim Täter und darüber hinaus noch für die Gemeinschaften, in denen das Böse geschieht.

2.1 Auswirkungen von Schuld beim Opfer

(Siehe dazu auch den Themenbeitrag „Friede auf Erden“, Abschnitt 1 „Ursachen des Unfrie­dens“)

Schuld bleibt nicht ohne Folgen. Soweit dies das Opfer betrifft, scheint dies selbstverständlich. Das Unheil, das ein ihm zugefügtes Leid anrichtet, betrifft immer die ganze Person. Ein einfaches Beispiel dafür: Ein auf den ersten Blick relativ „harmlos“ erscheinender Schaden wie bei einem Wohnungseinbruch, bei dem einem Einbrecher nur sehr geringe Werte in die Hände fielen, der aber dann doch viel weitergehende Auswirkungen hat: Die Erfahrung, dass die eigene Wohnung kein sicherer Raum mehr ist, schafft Verunsicherung und Angst, daraus können körperliche Symptome entstehen, wie Schlaflosigkeit und Bluthochdruck usw. Das wiederum wirkt sich auf die sozialen Beziehungen aus. Das Opfer ist gehemmter im Umgang mit fremden Personen, ist insgesamt vielleicht weniger aktiv, zieht sich zurück … Jedes uns durch andere zugefügte Böse wird Teil unserer Erfahrungswelt und unserer ganzen Person und hinterlässt da seine Spuren.

Jede Schuld hat Folgen. Meist verändert sie Menschen zum Negativen hin. Oft wirkt sie beim Opfer als Verstärker eigener regressiver oder aggressiver Tendenzen, die in der betreffenden Person schon vorhanden waren (siehe das Bild oben). Und oft trägt sie dazu bei, dass nun auch beim Opfer die Neigung wächst, Böses mit Bösem zu vergelten.

Negative und traumatische Erlebnisse in der Kindheit (aber nicht nur da), Erfahrungen von Mangel, Not, Gewalt, Missbrauch … können dazu führen, dass die Opfer später selbst egoistische und aggressive Tendenzen wie Selbstüberhöhung, Habsucht, Neid, Hass und Gewalttätigkeit entwickeln, so dass sie schließlich selbst zu Tätern werden. In den Wunden, die uns geschlagen wurden, findet der Keim des Bösen einen idealen Nährboden, um bei uns selbst zur Bosheit heranzuwachsen. So dreht sich die Spirale von Gewalt und Gegengewalt immer weiter.

2.2 Auswirkungen von Schuld beim Täter

Dass eine schuldhafte Tat auch negative Folgen beim Täter hat, ist uns weniger bewusst. Im Gegenteil, wir meinen, er hat ja nun (jedenfalls solange er nicht „erwischt“ und bestraft wird) einen Vorteil, einen „Gewinn“ von seiner Tat (je nachdem, ob seine „Beute“ nur schmal oder auch üppiger ausgefallen ist). Das ist aber meistens eine falsche, zumindest aber einseitige Sicht auf die Dinge. In Wirklichkeit sind die Folgen der Tat auch für den Täter viel weitergehend und belastender. Versuchen wir, uns das konkret vorzustellen: Jedes Wort und jede Tat, jede Haltung und Handlung, die bewusst Böses wollen, stammen aus einem egoistischen Antrieb (wenn jemand unwissentlich und ungewollt mit seinem Tun etwas Böses bewirkt, so ist das hier nicht gemeint): Man will sich selbst bereichern, indem man anderen etwas nimmt. Man will sich selbst nützen, indem man anderen schadet. Man will sich selbst erhöhen, indem man andere erniedrigt. Man will das erregende Gefühl der Macht verspüren, indem man andere unterdrückt. Man will anderen weh tun, um eigenen Schmerz zu übertönen oder um die eigene Lust am Schmerz des anderen zu genießen. Man will einen anderen „auf die Seite schaffen“, um selbst den Platz zu behaupten. Man will einen anderen töten, um als Überlebender über ihn zu triumphieren. Der Egoismus will an sich reißen und an sich binden, was anderen zugehört: Besitz, Menschenwürde, Leben…

Der Täter eignet sich aber nicht nur das Geraubte an und bindet es an sich, sondern auch den Raub, das heißt nicht nur den Gewinn, sondern auch die Tat. Jedes Böse, das wir gedacht, geplant, gesagt und getan haben, wird untrennbar und unauslöschlich Teil unserer Person, verborgen, verdrängt, vergessen vielleicht, aber doch Bestandteil unserer Lebensgeschichte und unserer Erfahrungswelt, auch Teil unseres Selbstbildes und unserer inneren Ausstattung an Einstellungen und Werthaltungen.

Versuchen wir uns das Gemeinte bildlich vorzustellen: Ein Mensch hat durch egoistisches Denken, Reden und Tun dem Bösen Raum gegeben in seinem Innern und hat insoweit das Gute, das Gott ja auch in ihm angelegt hat, aus sich hinaus verdrängt und ihm seine Entwicklungsmöglichkeiten genommen. Er hat nicht nur einem andern Unrecht getan, sondern auch den Gotteshauch (1. Mose 2,7 ) in sich selbst gedämpft. Er hat seine Gottesebenbildlichkeit verleugnet und das Bild Gottes vor den Augen der Menschen entstellt. Er hat das Menschsein als Geschöpf und Gegenüber der Liebe Gottes (in sich selbst!) verunstaltet und seinem Schöpfer entfremdet. Die Zerstörung, die der Täter des Bösen bei sich selbst anrichtet, geht viel tiefer in den Kern der Person, als die Verletzung, die er beim Opfer verursacht. Deshalb müssen Vergebung und Heilung hier auch viel tiefer ansetzen. Es müssen die tiefsitzende Verhärtung der Seele, die existenzgefährdende Versteinerung des Empfindens und Wollens aufgeweicht werden; es müssen die scharfkantigen, spitzen, verletzenden Rückstände der Schuld aus dem innersten Persönlichkeitskern herausgelöst und entfernt werden und es muss die tiefgehende, lebensbedrohliche Entzündung des Ich geheilt werden, die durch den Krankheitskeim des Egoismus hervorgerufen wurde.

Wer einem anderen böswillig Schaden zufügt, hat nicht nur den Vorteil eines möglichen Gewinnes durch seine Tat, sondern auch den Nachteil durch die Zerstörungen, die seine Tat in seinen eigenen Menschsein anrichtet. Man möge doch nicht meinen, dass eine böse Tat nur das Opfer trifft und den Täter unberührt und unverändert lässt! Gewiss nicht. Wer raubt, macht sich selbst zum Räuber, wer betrügt, macht sich zum Betrüger, wer mordet, macht sich zum Mörder. Auch wenn kein Mensch (und erst recht kein Richter) jemals davon erfahren sollte; zumindest vor sich selbst muss der Täter von nun an als Räuber, Betrüger oder Mörder leben. Wieviel psychische Energie wird er nun einsetzen müssen, um sein eigenes Selbstverständnis so umzubauen und umzudeuten, dass er damit sein Unrecht irgendwie rechtfertigen oder zumindest verschleiern kann. Wieviel Mühe wird es ihn kosten, sein eigenes Selbstwertgefühl dennoch hoch zu halten, z. B. indem einer, der seinen Geschäftspartner betrogen hat, sich einredet, dass man im Geschäftsleben eben nicht zimperlich sein darf und außerdem machen es doch alle so … Aber es wird ihm auf Dauer nicht gelingen, sein eigenes Selbstbild unbeschadet zu erhalten, auch wenn er sein Unrechtsempfinden mit immer neuen Untaten noch so sehr abgestumpft hat.

Die einzige Möglichkeit zur Heilung unseres verwundeten Ich wäre die liebevolle Zuwendung eines anderen Menschen, die aber wird durch jedes Böse, das wir anderen antun unwahrscheinlicher.

2.3 Auswirkungen von Schuld auf die Gemeinschaft

Jedes Unrecht hat nicht nur Folgen für die direkt Beteiligten (für den Täter und das Opfer) sondern auch Folgen für das „Klima“ in den Gemeinschaften, in denen beide leben. Jede gute oder böse, hilfreiche oder schädigende, aufbauende oder zerstörende Rede- oder Handlungsweise verändert (anfangs oft unbemerkt , nach und nach aber immer deutlicher) die Atmosphäre im Miteinander einer Gemeinschaft. Ob in einer Gemeinschaft (in einer Familie oder Nachbarschaft, einer Arbeitsgruppe oder einem Verein, in einer Volksgruppe oder einer Partei, einer Religionsgemeinschaft oder einem Volk …) eine überwiegend freundliche, vertrauensvolle und friedliche Atmosphäre herrscht oder eine unfreundliche, misstrauische und feindselige, das hängt von vielen einzelnen Entscheidungen vieler Einzelner in der Gemeinschaft ab. Das Resultat freilich betrifft alle, Täter wie Opfer. Auch ein Täter muss vom Augenblick seiner Tat an in einer sozialen Umwelt leben, die nun um eine – seine – Tat böser geworden ist und damit auch für ihn unsicherer und bedrohlicher. Dabei ist es ganz selbstverständlich, dass sich seine Tat vor allem in dem Teil seiner Umwelt auswirken wird, in der er selbst vorzugsweise lebt, und sie zum Schlechteren hin verändert. Meinen wir denn, ein Mensch könnte unbeschwert und unbefangen in einer Gemeinschaft leben, die er selbst mit bösen Worten und Handlungen belastet hat? Besonders das böse Wort kann in einer Gemeinschaft ungeheure Wirkung entfalten und Schaden anrichten. Ein Demagoge oder Hassprediger kann mehr Schuld auf sich laden als hundert Mörder, weil er den tausendfachen Mord vorbereitet und möglich macht.

Gemeinschaften (ethnische, kulturelle, weltanschaulich-religiöse …) können als ganze belastet sein mit gemeinsamer Schuld. Kollektive Egoismen verursachen gemeinsame böse Einstellungen und Taten und bewirken gemeinsame, kollektive Fehlentwicklungen, die im Innern wie nach außen immer neu Unrecht und Gewalt auslösen.

Das ist die dreifache Wirkung des Bösen: Dem Opfer der Schaden, dem Täter die Schuld, der Gemeinschaft die negative Belastung und Ausrichtung. Alle drei wiegen oft schwerer, als es auf dem ersten Blick zu erkennen ist.

Später werden wir noch sehen, dass sich die Folgen der Schuld noch dramatisch ausweiten, wenn wir auch die religiöse Dimension, die Beziehung zu Gott, mit in Betracht ziehen.

3 Vergebung und Erlösung

Die beiden Begriffe „Vergebung“ und „Erlösung“ sind zwar miteinander verwandt, aber doch deutlich zu unterscheiden:

Vergebung“ ist das Handeln eines „Opfers“, eines Geschädigten, der einem „Täter“, seine Tat oder sein Verhalten nicht mehr als „Schuld“ anrechnen will, der nicht mehr auf „Wiedergutmachung“ in Form einer „Strafe“ besteht, sondern den Täter freispricht von seinem „Schuldig-Sein“.

Erlösung“ kann die Folge von Vergebung sein (wenn der Täter diese Vergebung annimmt), durch die der Täter frei wird von der Last der Schuld und (dies kann allerdings mehr oder weniger lange dauern) auch frei von dem egoistischen Antrieb, der, wenn er unerlöst bliebe, immer wieder zu neuer Schuld führen würde.

Sehen wir uns die beiden Begriffe „Vergebung“ und „Erlösung“ noch etwas genauer an:

3.1 Vergebung

Vergebung? Was soll das? Dadurch kann man doch das Unrecht auch nicht ungeschehen machen!“ So hört man es oft. Aber darum geht es ja gar nicht, etwas ungeschehen zu machen. Es geht darum, die negativen Auswirkungen eines schuldhaft schädigenden Handelns oder Verhaltens zu beenden, damit es nicht immer weiter Unheil hervorbringen kann.

Vergebung geschieht auf zwei Ebenen: Auf einer zwischenmenschlichen Ebene und auf einer gott-menschlichen Ebene. Auf beiden Ebenen spielt sich aber im Prinzip der gleiche Vorgang ab.

Die Folge von Angriff und Gegenangriff (siehe Abschnitt 2 „Die Auswirkung von Schuld“) wäre nur dann zu unterbrechen, wenn einer der Beteiligten es fertigbrächte, den giftigen Stachel der bösen Tat eines anderen im eigenen „Fleisch“ stecken zu lassen. Er würde akzeptieren, dass etwas Fremdes ihm weh getan hat und dass diese Erfahrung des Schmerzes nun zu ihm gehört. Er würde diese Schmerzerfahrung in seine Biographie und in sein Selbstbild integrieren und und es zulassen, dass sie da Prozesse in Gang setzt, deren Ausgang er noch gar nicht kennt. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass solchermaßen angenommene Schmerzerfahrungen positive Entwicklungen in Gang setzen können, während abgelehnte, verdrängte oder aggressiv zurückgewiesene Schmerzerfahrungen auch für das Opfer meist zusätzliche negative Auswirkungen haben.

Solches Annehmen des Schmerzes würde dem Angriff des andern im wörtlichen Sinne „die Spitze nehmen“. Es würde das Böse dem Täter nicht zurechnen und nicht zurückgeben, sondern es auf sich nehmen und in sich austragen. Vergebung bedeutet nicht ein oberflächliches Vergessen und billiges „Schwamm drüber“, sondern es bedeutet, als Opfer das erlittene Unrecht anzunehmen und so den Täter davon zu entlasten. Das kann der Täter nicht erwarten und schon gar nicht verlangen. Er kann es höchstens erbitten und als Geschenk empfangen. Der Vergebende unterscheidet und scheidet zwischen der bösen Tat (die böse bleibt und niemals verharmlost werden darf) und dem Menschen, dessen Person trotz der bösen Tat geliebtes Geschöpf Gottes bleibt und der sich durch die Vergebung wieder dem annähern kann, was sein Menschsein von Gott her sein soll und sein kann. Dies alles kann nur durch die Liebe geschehen. Durch eine Liebe, die (Jesaja 53, 4+5) „unsere Krankheit trägt und unsere Schmerzen auf sich lädt, die sich durchbohren lässt von unseren Missetaten und zerschlagen lässt von unseren Verfehlungen, die unser Verhängnis auf sich nimmt, uns zum Frieden und in dessen Wunde unsre Heilung ist“.

Voraussetzung für Vergebung ist allerdings, dass der Täter aufhört mit seinem verletzenden Tun. Vergebung ist dann kaum möglich, wenn jemand sagt: „Vergib mir, dass ich dir wehgetan habe“ und sofort wieder zuschlägt, wenn er das Gestohlene nicht zurückgibt, die Verleumdung nicht zurücknimmt, die Unterdrückung nicht aufhebt, den Missbrauch nicht beendet… Vergebung ist immer an die Bereitschaft und den festen Vorsatz des Täters gebunden, sein schädigendes Verhalten nicht fortzusetzen oder zu wiederholen (ob das dann immer gelingt, ist eine andere Frage, aber ohne den entschiedenen Willen dazu ist jede Bitte um Vergebung Lug und Betrug). Die Bibel nennt solches Beenden eines falschen, bösen Verhaltens „Umkehr“. Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr. Ohne Umkehr wäre es eine Verhöhnung des Opfers, Vergebung zu erbitten oder zu erwarten.

3.2 Erlösung

Menschen können einander vergeben, aber sie können einander nicht erlösen. Erlösen (das heißt, einen Menschen wieder von der Schuld trennen, die er durch sein schuldhaftes Verhalten an sich gebunden hat), das kann nur Gott. Im Vaterunser bittet Jesus zunächst: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Jesus spricht hier von Schuld und Vergebung auf zwei Ebenen: Erstens von der Schuld der Menschen untereinander und zweitens von der Schuld der Menschen gegenüber Gott. Beides hat ganz grundlegend miteinander zu tun: Menschen (und besonders angesprochen sind hier die Jünger und Jüngerinnen Jesu) sollen einander vergeben. Und in gleichem Maße, wie sie selbst anderen Menschen deren Schuld vergeben, will Gott ihnen auch ihre Schuld ihm gegenüber erlassen. Das griechische Wort, das an dieser Stelle (im Vaterunser) für „vergeben“ steht (aphiemi) bedeutet wegschicken, verlassen, entlassen.

Der Vergebende schickt die Schuld weg, geht auf Distanz zu ihr, so dass sie das Verhältnis zwischen ihm und dem (früheren) Täter nicht mehr belasten kann. Aber die „Last“ ist ja immer noch da. Auch wenn sie der Vergebende dem Schuldigen nicht mehr anrechnet, sie ist noch nicht „erlöst“, ist sie doch immer noch Teil der Person und der Lebensgeschichte des Täters und des Opfers.

Vergebung ist ein Geschehen das vom Opfer ausgeht, und das die negativen Auswirkungen von Schuld im Verhältnis zum Täter beenden kann.

Erlösung ist ein Geschehen, durch das Gott die Schuld selbst (nicht nur die negativen Auswirkungen) dem Täter abnimmt und ihn so entlastet, damit die Belastung durch die Schuld beim Täter selbst, beim Opfer und in der Gemeinschaft beendet wird.

Wenn es um „Erlösung“ geht, ist nur Gott der Angesprochene. Jesus im Vaterunser: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse und von dem Bösen. Das griechische Wort für „erlösen“ heißt hier „rhyomai“ und bedeutet herausreißen, befreien, retten. Nur Gott kann uns herausreißen aus der Umklammerung durch die Schuld, die wir durch egoistisches Handeln und Verhalten an uns gerissen und an uns gebunden haben (wir werden im Abschnitt 4 „Die vierte Dimension der Schuld“ noch mehr davon zu reden haben). Vergebung kann die negativen Folgen der Schuld im Verhältnis zwischen Täter und Opfer beenden. Erlösung kann das schon geschehene Böse aus dem Leben des Täters, des Opfers und der sozialen Gemeinschaft beider herauslösen und unschädlich machen.

Um das zu verdeutlichen, soll das Gemeinte (den Zusammenhang zwischen dem Bösen, das jemand einem anderen antut und der Rückwirkung, die es auf den Täter selbst selbst hat) noch einmal anhand eines bildhaften Vergleichs erklärt werden: Jeder Impuls, der von einer Person ausgehend einen andere „trifft“, erzeugt einen Gegenimpuls, der in die Gegenrichtung, also zurück auf den Ausgangspunkt wirkt. Wenn man z. B. mit einem Gewehr eine Kugel abfeuert, dann spürt man einen deutlichen Rückstoß. Die nach außen gerichtete Aktion wirkt auf den Ursprung zurück (das gilt übrigens nicht nur für negative, verletzende Impulse, auch jeder freundliche bejahende, helfende Impuls hat seine Rückwirkung auf den „Täter“). Aber, so ist es eben auch bei jedem schuldhaften Tun und Verhalten: Jeder „Schlag“ erzeugt einen „Rückschlag“, der dorthin wirkt, wo der Schlag herkam. Das haben wir schon im Abschnitt 2.2 „Die Auswirkungen der Schuld beim Täter“ festgestellt: „Jedes Böse, das wir gedacht, geplant, gesagt und getan haben, wird untrennbar und unauslöschlich Teil unserer Person, verborgen, verdrängt, vergessen vielleicht, aber doch Bestandteil unserer Lebensgeschichte und unserer Erfahrungswelt, auch Teil unseres Selbstbildes und unserer inneren Ausstattung an Einstellungen und Werthaltungen. Das bedeutet: Jedes schuldhafte Verhalten, das einen anderen verletzt, fügt dem „Täter“ selbst in seinem innersten Ich, eine entsprechende Verletzung zu, die zu einer „Belastung“ und Beeinträchtigung seiner eigenen Lebenskraft und Lebensqualität und Lebensfreude führt. Diese „Selbstbeschädigung“ des „Täters“ durch seine Tat kann durch die Vergebung des „Opfers“ nicht beseitigt werden, sie bedarf einer Erlösung, die nur Gott selbst vollbringen kann (siehe Abschnitt 4.2 „das Geheimnis der Erlösung“).

Vergeben und erlösen – das kann ein Mensch nicht für sich selbst tun. Vergeben und erlösen kann nur die Liebe und Vergebungsbereitschaft des andern, sei es ein Mensch oder Gott. Die Liebe kann nichts für sich selbst tun, aber alles für einen anderen. Sie kann sich nicht selbst den Himmel erobern, aber sie kann einem anderen den Zugang dahin frei machen. Eine gute Tat, die nur deshalb getan würde, um für sich selbst den Himmel zu verdienen, wäre Egoismus pur im scheinheiligen Gewand. Wenn aber jemand ohne irgendwelchen Eigennutz ein Stück der Schuld-Last eines andern, der ihm Böses angetan hat, auf sich nehmen würde, indem er die eigene Schmerzerfahrung annimmt und sie dem Täter nicht mehr als Schuld zurechnet, so wäre für diesen eine Tür aufgetan, durch die er von neuem auf Gott zugehen kann, der ihn ganz erlösen und befreien will.

So geschieht Erlösung durch Vergebung auf zwischenmenschlicher Ebene. Das ist hier natürlich nur sehr vereinfacht und schematisch dargestellt, die Wirklichkeit ist viel komplexer, da geht es z.B. nicht nur um die aktive böse Tat, sondern auch um das Gute (die Zuwendung und Hilfe … ), die wir jemandem verweigert haben usw. Trotzdem: Im zwischenmenschlichen Bereich geschieht Vergebung und Erlösung so. Erlösung auf gott-menschlicher Ebene geschieht im Prinzip auf gleiche Weise, aber sie reicht weiter und geht tiefer. Davon soll im Folgenden die Rede sein.

4 Die vierte Dimension der Schuld

Soweit Schuld sich auf zwischenmenschlicher Ebene abspielt, erscheint es uns verständlich, dass Schuld nicht einfach folgenlos vergeht, sondern mehr oder weniger schwere Beeinträchtigungen für alle Beteiligten nach sich zieht. Aber was soll das alles mit Gott zu tun haben? Gott ist doch gar nicht betroffen! Ihm kann doch menschliche Schuld nichts anhaben, er ist doch nicht Opfer menschlichen Handelns. Oder doch? Wir haben weiter oben gesehen (siehe Abschnitt 2 „Die dreifache Schuld“), dass schuldhaft verletzendes Handeln immer eine dreifache Auswirkung hat: Auf das Opfer, auf den Täter und auf die geistige und ethische Gesamtsituation in einer Gemeinschaft. Aber auch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Wir müssen eigentlich von einer vierfachen Auswirkung von Schuld reden. Es ist noch ein Vierter beteiligt und betroffen: Gott, der Schöpfer des Universums.

Versuchen wir eine menschlich-anschauliche Annäherung an ein göttliches Geheimnis, an das Geheimnis von Schuld und Vergebung: Gott hat ein unfassbar großes Universum geschaffen und in den unermesslichen Weiten des Alls unsere Erde als Träger des Lebens (siehe den Themenbeitrag „Die Frage nach dem Sinn“). In einer solchen Schöpfung aus Materie und Biologie kann es nichts geben, für das die Begriffe „Schuld“ und „Vergebung“ irgendeine Bedeutung haben könnten. Die Materie existiert und das Leben lebt – ohne Bewusstsein, dass es etwas geben könnte, das „richtig“ oder „falsch“, „gut“ oder „böse“ zu nennen wäre (wenn eine Katze eine Maus jagt und frisst, ist das nicht böse, sondern ein natürliches, instinktgesteuertes Verhalten). Die Schöpfung ist „von Natur aus“ ohne Ethik und Verantwortung. Aber mitten in dieser natürlichen und damit auch Ethik-freien Schöpfung hat Gott ein Geschöpf berufen und eingesetzt, das es mehr sein soll als nur Materie und Biologie: Den Menschen; den Menschen als sein „Ebenbild“, als Vergegenwärtigung und Verwirklichung seines innersten göttlichen Wesens in der von ihm geschaffenen Welt (Siehe den Themenbeitrag „Adam – wer bist du?“). Der Mensch soll Träger und anschaubares „Bild“ dessen sein, was das Gott-Sein Gottes ausmacht: Die Liebe (siehe den Themenbeitrag „AHaWaH“ – das Höchste ist lieben“), eine Liebe, die eine völlig neue Daseinsweise in der Schöpfung darstellt, die den „Kampf ums Dasein“ und das „Fressen und Gefressen-werden“ der Natur überwindet im Miteinander und Füreinander einer vom Wesen und Willen Gottes bestimmten Gemeinschaft. (Siehe die Themenbeiträge „sein und sollen“ und „Die Ethik des Atheismus“)

Das bedeutet aber: Jede lieblose Redeweise, Handlung und Haltung von Menschen, die in den Beziehungen zwischen Menschen Schaden und Zerstörung anrichtet, beschädigt und zerstört auch das Bild Gottes in der Welt. Wir können Gott nicht direkt irgendeinen Schaden zufügen, er ist Gott und wir sind nur Menschen. Aber wenn wir einem Mitmenschen Schaden zufügen, dann wird das Ebenbild Gottes beschädigt, und damit indirekt Gott selbst. In jeder Stunde, die vergeht, wird millionenfach durch das Leben, Reden und Handeln von Menschen das „Bild“ Gottes, (sein Name, sein Ansehen, seine Achtung und Ehre) verfremdet, verleumdet, entstellt. Ja mehr noch: Es wird der Wille und das innerste Wesen Gottes, das die Liebe ist, verdunkelt, beschmutzt, verwüstet, zerstört. Das ist die vierte Dimension der Schuld. Schuldhaft böses Reden und Tun unter den Menschen Menschen fügt Gott Schaden zu, indem es das Menschsein, also Gottes irdisch-wahrnehmbares „Bild“, beschädigt.

4.1 Die Last der Schuld

Ich will noch einmal einen bildhaften Vergleich verwenden, um das Gemeinte zu verdeutlichen: Ein Wanderer hat einen prall gefüllten Rucksack auf dem Rücken, einen Rucksack allerdings mit einer besonderen Eigenart: Dieser Rucksack ist so gebaut, dass der Träger selbst dessen Verschluss nicht erreichen kann. Er könnte zwar immer neue Inhalte in den Rucksack hineinstopfen, aber abnehmen und ausleeren könnte er ihn nicht. Der „Inhalt“, den der Rucksackträger selbst angesammelt hat (wir nennen diesen Inhalt die „Schuld“), hätte noch eine ganz besondere Eigenschaft: Er bestünde aus einem Material, das sich im elektromagnetischen Kraftfeld des Sonnenlichts immer stärker auflädt und erhitzt (ähnlich wie bei einem Mikrowellenherd, wo die Speisen im Kraftfeld der Mikrowellen erhitzt werden), so dass der Inhalt allmählich glühend heiß wird, ja schließlich verdampft und sich auflöst. Solange der Wanderer im Schatten des Waldes bleibt, scheint das nicht weiter schlimm, er spürt zwar das immer drückender werdende Gewicht auf seinem Rücken, aber er hat sich daran gewöhnt, es zu ertragen. (Es gibt ja viele Menschen, die sich lieber im Dunkel oder Halbdunkel ihres schuldbeladenen Lebens aufhalten, anstatt danach zu fragen, wie sie Last wieder loswerden könnten.) Wenn der „Wanderer“ aber in das helle Sonnenlicht tritt, beginnt der Inhalt seines Rucksacks sich immer mehr zu erhitzen. Wenn nun sein Träger diesen nicht rechtzeitig abnehmen und loswerden könnte, so würde die entstehende Glut auch ihn beschädigten, ja er müsste schlimmstenfalls mit verbrennen und verglühen.

Aber was ist das für ein Licht oder „Kraftfeld“, das unseren schuldbeladenen „Rucksack“ so sehr zum Glühen bringt, dass er seinen Träger mit zu verbrennen droht? Die Antwort ist überraschend: Es ist das Licht und Kraftfeld der Liebe Gottes. Der Liebe?? Ja, das Kraftfeld einer ausnahmslos alle Menschen umfassenden unendlichen Liebe. So eine Liebe könnte es ja nicht zulassen, dass irgendetwas Böses, also liebloses und schuldhaft Ungutes sich für immer im Menschsein festsetzt, sich einnistet und ausbreitet. Je näher wir dieser Liebe kommen (und spätestens in unserer Todesstunde werden wir ihr sehr nahe kommen müssen), desto totaler muss das schuldhaft Böse unseres Lebens im Kraftfeld dieser Liebe verbrannt werden. Wie sollte auch etwas schuldhaft Böses in der Ewigkeit bei Gott bestehen bleiben?

Hier und heute, in der begrenzten Zeitlichkeit des irdischen Lebens, gibt es immer beides, richtig und falsch, gut und böse als Möglichkeit und Herausforderung zur Entscheidung und Bewährung. Das ist das Geheimnis unserer irdischen Gegenwart, dass es hier immer und überall die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen gibt und wir uns entscheiden müssen, jeden Tag hunderte Male, im Kleinen und im Großen. In der Ewigkeit bei Gott aber kann und darf es diese Mischung und Gleichzeitigkeit von gut und böse nicht mehr geben, seine Liebe duldet keine Lieblosigkeit, keine Bosheit, keinen Betrug, keinen Hass, keine Gewalttat. Im Kraftfeld der Liebe Gottes kann und soll der Mensch (jeder Mensch!) eine irdisch-zeitliche und eine himmlisch-ewige Bleibe und Heimat finden, in der ihm nichts Böses mehr etwas anhaben kann. Wenn nur dieser „Rucksack“ nicht wäre!

Gott ist unbegrenzte Liebe und Güte und Kraft. Alles Böse (damit wir nichts missverstehen: Das Böse, das Menschen tun, nicht die Menschen selbst, die Böses getan haben) alles Böse muss in der Nähe Gottes vergehen, muss im Glanz seiner Heiligkeit und in der Energie seiner Schöpfungsmacht zunichte werden (einer Energie, die ausreichte, im Tausendstel-Bruchteil einer Sekunde im sogenannten „Urknall“, ein ganzes Universum zu erschaffen)! Es kann ja nicht sein, dass in der Nähe Gottes, der ganz Liebe ist, etwas bewusst und aktiv Böses existieren und bestehen bleiben kann. Das geht nicht. Es muss im Licht seiner Heiligkeit und seiner Liebe verglühen und sich in Nichts auflösen, und nur so kann ja die Ewigkeit bei Gott ein vom Bösen unbelasteter Zeit-Raum sein – und bleiben. Eine Person aber, die das Böse an sich gerafft und an sich gebunden hat und in dem Rucksack seiner Schuld mit sich herumträgt und nicht mehr losweden kann, müsste es mit in die Vernichtung reißen. Nicht weil Gott strafen und vernichten will, sondern weil Gott Gott ist und in seiner Nähe nichts Böses bleibend existieren kann.

Nun muss aber der Mensch, jeder Mensch, genau auf dieses Kraftfeld zugehen, auf das Kraftfeld der Liebe Gottes, denn nur dort ist ein Raum, wo er auf Dauer und in Frieden leben könnte. Spätestens bei seinem Sterben muss er auf das Kraftfeld der Liebe Gottes zugehen, weil er ja nun keine Lebensmöglichkeit in diesem irdischen Dasein mehr hat und weil die Liebe Gottes ihn ruft – wenn nur der Rucksack mit seinem immer heißer glühenden Inhalt nicht wäre! Aber er kann ihn nicht loswerden, denn er kommt an den Verschluss nicht heran! Die einzige Möglichkeit, die einzige Rettung wäre, wenn jemand anders ihm den Rucksack abnehmen würde, dann würde zwar die Schuld seines Lebens verglühen, er selbst aber wäre gerettet. Das könnte, soweit es sich um Schuld an einem Menschen handelt, eben jener Mit-Mensch sein, dem man Unrecht angetan hat, und, soweit es sich um Schuld an Gott handelt, Gott selbst. Beide kann man nicht zwingen, nur bitten.

Nein, der Mensch kann sich nicht selbst entlasten vom „Rucksack“ seiner Schuld, er kann sich nicht selbst „entschuldigen“, nicht von seiner Schuld gegenüber anderen Menschen und nicht von seiner Schuld gegen Gott.

Die Unmöglichkeit, unseren „Rucksack“ loszuwerden, würde bedeuten, dass der mit Schuld belastete Mensch nie mehr in die Nähe Gottes, nie mehr in den Lebensraum seiner Liebe kommen, niemals in das reine Licht der Güte Gottes treten könnte. Er bliebe für immer ausgeschlossen von der Erfahrung der alles erneuernden, alles wiederherstellenden Liebe Gottes und er bliebe für immer eingeschlossen in die Erfahrung der alles zerstörenden, alles vernichtenden Gewalt des Bösen. Es sei denn, es wäre möglich, die Bindungskraft des Egoismus, der durch ichsüchtiges Handeln das Böse an die Person gebunden hat, wieder zu lösen, die Person des Menschen wieder von den Rückständen der Schuld zu trennen, sie aus seinem Ich herauszulösen, und den Menschen von seiner Schuld zu er-lösen. Solche Erlösung geschieht durch Vergebung.

4.2 Das Geheimnis der Erlösung

Für Gott gilt das Gleiche, was wir vorhin von der Vergebung durch Menschen gesagt haben: Auch bei Gott ist Vergebung nur möglich, wenn er sich selbst verwunden lässt. Jede Lieblosigkeit seiner Menschen-Geschöpfe fügt Gott, dem Schöpfer, der selbst ganz Liebe ist, eine Wunde zu. Und nur wenn Gott diese Verwundung zulässt und den Schmerz annimmt, der ihm zugefügt wurde, und damit dem Schuldigen die Schuld nicht zurückgibt und nicht zurechnet, nur dann kann der Schuldige von seiner Schuld wieder er-löst werden. Auch Gott unterscheidet und scheidet im Vorgang der Vergebung zwischen dem Bösen, das er hasst und dem Täter des Bösen, den er trotz allem liebt und der wieder frei werden soll von den Folgen seiner Tat und seines Verhaltens.

Nein, auch Gott kann nicht durch ein billiges „Schwamm drüber“ Schuld ungeschehen machen. Unsere Schuld kann nicht einfach auf dem Müllhaufen unserer Lebensgeschichte „entsorgt“ werden. Schuld vergeben bedeutet auch für Gott, sich selbst eine Wunde schlagen zu lassen – und nicht zurückzuschlagen! Erlösung ist auch hier Loslösung des Menschen von dem Bösen, das sein Egoismus an ihn gebunden hat. Erlösung durch Gott ist Wiederherstellung des Menschseins in seiner ursprünglichen Schöpfungswürde und Wiedereinsetzen des Menschen in seine gegenwärtige Verantwortung und zukünftige Berufung. Das gilt schon jetzt und hier in unserem irdisch-zeitlichen Leben; das gilt erst recht in der Ewigkeit bei Gott.

Und Gott lässt sich verwunden von dem Bösen, das Menschen bewusst und absichtlich einander antun, auch heute und jeden Tag, millionenfach, ungesehen, unbemerkt. Nur einmal wurde es doch auch für Menschen sichtbar (wenn sie es denn sehen wollten!): Als der Eine, in dem Gott seine ganze Liebe Mensch werden ließ, Jesus, der Jude aus Nazareth, der Gesalbte (Messias) und Gesandte Gottes, als der von Menschen verurteilt und geschlagen und gefoltert und auf grausamste und erbärmlichste Art hingerichtet und zu Tode geschunden wurde. Da wurde es einmal sichtbar, wie sehr (jeden Tag!) die Liebe Gottes von Menschen angegriffen und verwundet wird.

Gott hat es zugelassen und angenommen, dass Menschen seine menschgewordene Liebe abgelehnt, verurteilt und zu Tode gequält haben. In Jesus war ja die Liebe Gottes selbst Mensch geworden: zurechtbringend, helfend, heilend, tröstend, vergebend – Gottes wahres „Ebenbild“ im Menschsein. Gott hat den Stachel des Todes im eigenen Innersten stecken lassen, hat leidend und sterbend vergeben, damit die Todesschuld der Menschen, wenn sie ihn um Vergebung bitten, vergeben werden kann und die Täter, erlöst von ihrer Schuld, dennoch zu ihm kommen können.

Ja, Gott ist bereit, alle Schuld zu vergeben, alle Wunden und allen Schmerz zu ertragen, die wir ihm zugefügt haben, wenn wir ihn ehrlich und ernsthaft darum bitten. Das Entscheidende dabei ist: Die Person des Täters wird durch dieses Geschenk der Vergebung von seiner Tat entbunden, der „Rucksack“ der Schuld wird gelöst und abgenommen. Der Mensch wird von dem Bösen, das der Egoismus an sich gerissen und an sich gebunden hatte, wieder getrennt; er ist frei, frei für das Leben im Nahraum der Liebe Gottes.

Freilich ist solche Vergebung und Erlösung keine Kleinigkeit, nicht für Gott, der sich von menschlicher Bosheit verwunden lässt, obwohl er Gott ist, und nicht für für uns Menschen. Es möge doch jeder einmal für sich bedenken, was es seit Kindertagen an Bösem in seinem Leben gab, das wir bewusst getan oder zugelassen haben, jede Situation in all den Jahren, wo man sich bewusst für das Böse und gegen die Liebe entschieden und gehandelt hat: Jede Lieblosigkeit, jede verweigerte Hilfe, jede Untreue, jede Unehrlichkeit, die einem andern schaden sollte, jede Beleidigung, jede Misshandlung, jeder Missbrauch, jede Gewalttat … Wenn das nun alles herausgeschnitten wird aus dem Filmstreifen unseres Lebens, wieviel wird dann noch übrigbleiben, wie dürftig und armselig würde das dann aussehen? Andererseits: Wenn all das Dunkle und Böse unseres Lebens entfernt wäre und nur noch das Gute, Hilfreiche, Liebevolle wäre noch erhalten, welcher Glanz würde dann auf unserem Leben liegen? Und wenn wir uns dann noch vorstellen, was es alles an Bösem gab, das uns selbst von anderen zugefügt wurde, und wenn auch das dann alles vergeben und erlöst wäre, jede Enttäuschung, jeder Schmerz, jede Einsamkeit, jedes Unrecht … und es bliebe nur noch das Schöne und Gute, das wir von Menschen erfahren haben, welches Licht und welcher Frieden würde dann über unserem Leben sein?

Und diese Vergebung und Erlösung ist geschehen. Am dritten Tage nach dem scheinbaren Triumph des Bösen, nach der Kreuzigung Jesu, wurde der Sieg der Liebe offenbar. Mit der Auferstehung Jesu bestätigt Gott sichtbar und greifbar, dass die Hoffnung auf eine endgültige Rückkehr des Menschen in die Liebesordnung des Himmels kein Hirngespinst ist, sondern dass der Weg wirklich frei ist in die Herrlichkeit der Gegenwart Gottes. Und das sollte schon hier und jetzt sichtbar werden. Schon hier und jetzt sollte eine Erneuerung des Menschseins beginnen, die die Liebesordnung des Himmels schon im Irdischen sichtbar und erfahrbar macht, die allen suchenden Menschen zeigt, dass die Macht des Bösen über die Menschen gebrochen ist und die Liebe lebt. So vergibt Gott.

Ob auch die Menschen, denen wir Böses angetan haben, zur Vergebung bereit sind, das kann man nur erfahren, wenn wir eben jene Menschen um Verzeihung bitten. Menschen können die Zeit ihres irdischen Daseins nicht durchleben, ohne aneinander schuldig zu werden. Deshalb gehört es zu den höchsten und wichtigsten Aufträgen jedes Menschenlebens, in der Kraft der Liebe Gottes Schuld zu vergeben, die ihm von Mitmenschen angetan wurde. Vergebung unter Menschen – das ist ein entscheidender Ausdruck unserer Gott-Ebenbildlichkeit!

Die Vergebungsbereitschaft eines Menschen, dem wir Böses zugefügt haben, könnte uns nun den Anteil unserer Schuld, der ihn verletzt hat, aus unserem Rucksack herausnehmen. Freilich: Sie könnte die Schuld nicht ungeschehen machen. Sie müsste diese Schuld in das Kraftfeld der Liebe Gottes bringen, dass sie dort verglüht und restlos vergeht.

Was aber, wenn diese Vergebung nicht geschieht? Wenn Menschen einander nicht vergeben (oder auch gar nicht mehr vergeben können, weil sie nicht mehr am Leben sind), obwohl Gott selbst den Anteil der Schuld, die an ihm begangen wurde schon längst vergeben hat? Wäre dann doch alles verloren (denn das Böse, das wir Menschen angetan haben, kann ja nur von Menschen vergeben werden)?

Ja, dann wäre alles verloren, wenn nicht …, ja, wenn nicht Gott selbst vollkommen Liebe wäre. Die Liebe Gottes wusste auch in dieser Ausweglosigkeit noch einen Weg, denn die Liebe ist stärker als alles Böse und jede Schuld: Gott ließ seine göttliche Liebe (und die ist das innerste „Wesen“ seines Gott-Seins) Mensch werden in dem Juden Jesus aus Nazareth in der römischen Provinz Judäa vor zweitausend Jahren. Jesus war eben nicht irgendein Mensch, sondern „der Mensch“, die menschlich wahrnehmbare „Verkörperung“ all dessen, was das Gott-Sein Gottes ausmacht, das vollkommene Ebenbild Gottes, das Menschsein, so wie es ursprünglich vom Schöpfer gemeint und gewollt war.

Jesus war und ist der Mensch, der selbst unbelastet war von eigener Schuld und deshalb uns entlasten kann von der Last unserer Schuld, indem er sie selbst auf sich nimmt – aus göttlicher Liebe. Durch ihn kann auch noch die Schuld, die Menschen einander nicht vergeben können oder wollen erlöst werden. Jesus, der Mensch, in dem die Berufung des Menschseins, Ebenbild der Liebe Gottes zu sein, zur vollkommenen Erfüllung gekommen ist, hat das Böse, das Menschen anderen Menschen zufügen, auf sich genommen (nicht theologisch-theoretisch, sondern ganz real und blutig) und erduldet bis zum Ende, bis „zum Tode am Kreuz“ und gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Die Liebe Gottes, die in Jesus, seinem Messias, Mensch wurde, ist der Schlüssel für unseren prall gefüllten Rucksack mit allen seinen schlimmen Inhalten, jedenfalls für den Anteil, der in den zwischenmenschlichen Beziehungen noch nicht vergeben ist (die Schuld in unserem Verhältnis zu Gott hat der ja schon längst vergeben). Am Kreuz von Golgatha war Jesus Stellvertreter der ganzen leidenden Menschheit und zugleich auch Stellvertreter und vollkommenes Ebenbild der Liebe Gottes. In seinem Leiden und Sterben kann auch noch alle Schuld, die Menschen einander nicht vergeben wollen oder können, ent-schuldigt werden: „Kommt her zur mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken (will euch Ruhe geben, entlasten und befreien).“ So können wir, wenn wir diese „Entlastung“ durch Jesus annehmen, unbelastet von aller Schuld in die himmlische Ewigkeit bei Gott kommen und dort leben und bleiben. Allerdings: Unbelastet in der irdischen Zeitlichkeit bei den Menschen (ganz konkret und real im alltäglichen Miteinander) können wir nur dann leben, wenn wir Menschen uns untereinander vergeben. Vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus (Eph 4, 32)

4.3 Erlösung in der Tiefe

Gott liebt das Leben und er hat das Leben geschaffen um der Liebe willen (siehe den Themenbeitrag „sein und sollen“). Im Menschsein sollte sich diese Liebe entfalten und zu einem anschaubaren „Eben-Bild“ der Liebe Gottes werden. Wenn ein Mensch im gegenwärtigen Äon von Gut und Böse und trotz der Versuchung des Bösen in der Liebe zu Gott und den Menschen leben könnte, und wenn er bereit wäre, da wo er versagt, die Erlösungskraft der Liebe Gottes, die im Leiden und Sterben Jesu sich ganz für uns Menschen hingegeben hat, für sich in Anspruch zu nehmen, so wäre für ihn der Tod, der die Zeit der irdischen Gottferne begrenzen soll, ein offener Zugang in die Liebesgemeinschaft mit Gott. Dazu sind ihm noch als Hilfe die Gebote gegeben, dass er einen äußeren Rahmen hätte, der ihm in seinem irdischen Dasein optimale Voraussetzungen für die Entfaltung der Liebe gewährte.

Wenn aber ein Mensch trotz des ihm (ihr) angebotenen Schutzraumes der Gebote in der Lieblosigkeit, in der Untreue und im Tun des Bösen verharrt, wenn er nicht umkehren will von seinen verkehrten Wegen und er sich die Last der Schuld nicht von der Liebe Gottes und der Menschen abnehmen lassen will und er auch das Versöhnungsangebot von Golgatha missachtet, dann müsste ihn der Tod in einen Bereich existenzieller Trennung von Gott führen, in eine große, tiefe Gottverlassenheit. Der Tod bedeutet ja: In dieser Welt kann (und soll) der Mensch nur begrenzte Zeit bleiben. Das bewusste und gewollte Verharren im Bösen und in der Ablehnung der Liebe, die ihm vom Bösen erlösen will, bedeutet aber, dass der Mensch nicht in die Lebensordnung der Liebe in der Gegenwart Gottes gelangen kann. Im Nahraum der Liebe Gottes gibt es nur Freiwillige.

Freilich gibt es auch theologische Denkmodelle, die dem widersprechen: Seit Jahrhunderten wird in der Christenheit über die Möglichkeit einer „Allversöhnung“ gestritten. Zwei sich widersprechende Vorstellungen stehen sich gegenüber:

Die einen sagen: Jeder Mensch ist vor die Entscheidung gestellt, ob er in seinem Leben die „weite Pforte“ und den „breiten Weg“ wählt (Mt 7, 13-14), die zur (unumkehr­baren?) „Verdammnis“ führen oder die „enge Pforte“ und den „schmalen Weg“, die zum (ewigen) Leben führen.

Andere meinen: „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Tim 2,4). Wenn Gott dies will, so wird es geschehen, so dass am Ende alle Menschen erlöst werden, auch wenn sie zu Lebzeiten nicht entsprechend geglaubt und gelebt haben, denn der freie Wille des Menschen (auch der Wille zum Bösen) kann nicht den guten Willen Gottes für alle Menschen aufheben.

Ich meine: In allem, was wir über die Frage nach einer „Allversöhnung“ sagen können, ist viel spekulatives Denken enthalten und das Gesagte verrät uns mehr über die Haltung des jeweiligen „Denkers“ als über die Wirklichkeit Gottes. Ich will hier auch nicht von „Allversöhnung“ reden, sondern von der Erlösungskraft der Liebe:

Es gab und gibt keinen einzigen Menschen auf dieser Erde, auch nicht unter den Bösesten und Grausamsten, in dessen Leben niemals wenigstens ein winzigstes Fünkchen von unverfälschter Liebe zum Glimmen kam, der nie jemals von einem anderen Menschen geliebt wurde und sei es noch so gering und fragwürdig, der niemals ohne falschen Eigennutz etwas Gutes getan hätte, und sei das alles auch noch so bruchstückhaft und anfechtbar. Die Liebe aber, jede Liebe, ist von Gott, ja sie ist das „Wesen“ Gottes selbst, sein „Geist“. Davon kann nichts in der Ewigkeit Gottes verloren gehen. Also wird auch von den Bösesten (von Nebukadnezar bis Adolf Hitler und bis zu den Millionenmördern in unserer Gegenwart) etwas in der Ewigkeit erhalten bleiben. Wenn sie aber mit der ungeheuerlichen „Last“ ihrer Schuld in die Nähe der Liebe Gottes kommen und alles Schuldhafte ihres Lebens dort verglühen muss, was wird dann von ihrem Leben übrig bleiben? Wie klein werden dann die sein, die in ihrem irdischen Leben so groß waren? Die Liebe Gottes, die in Jesus Mensch geworden ist und für die schuldbeladenen Menschen litt und starb, wird auch sie nicht zurückweisen (wenn sie selbst ihrerseits diese Liebe nicht zurückweisen!). Aber wie groß und wie furchtbar wird das Feuer sein, wenn ihre millionenfachen Verbrechen in der Glut der Liebe Gottes verbrennen und wie kläglich der Rest, der von ihrem Leben, ihrem Wollen, Fühlen, Denken, Reden und Handeln dann noch bleibt!

Aber gibt es nicht auch Menschen, die bis zuletzt das Angebot der Vergebung und Erlösung bewusst zurückweisen? Ja, die gibt es. Und Gott nimmt diese Zurückweisung ernst. Er wird niemandem gegen seinen Willen seine Liebe aufzwingen. Auch für diese Menschen gilt: Alles, was in ihrem Leben von der Liebe bestimmt war, wird bleiben. Aber das „Ich“ so eines Menschen (sein Selbstbewusstsein, seine Ich-Identität, seine Motivation, seine Willenskraft, sein Glaube …) dieses „Ich“, das sich gegen Gott entschieden hat und das von seinen verkehrten Einstellungen nicht umgekehrt ist, wird fern von Gott sein. Was dieser Mensch an Liebe gegeben und empfangen hat, wird bleiben und bei Gott sein und kann nie verlorengehen, aber sein personales Menschsein wird fern sein von Gott, solange, bis es sich doch noch umwendet und ja sagt zu seiner Liebe.

Aber was ist mit denen“, wird dann oft gefragt, „die in ihrem Leben nie die Botschaft von der Liebe und Versöhnungsbereitschaft Gottes gehört haben, nie etwas von von Jesus, von Karfreitag und Ostern erfahren haben, sollten die denn verdammt werden, weil sie unglücklicherweise zu einer Zeit oder in einem Lande lebten, die von der Botschaft des Evangeliums nicht erreicht war?“ Nein, Gott will nicht, dass auch nur ein Mensch endgültig verlorengeht. Er wollte auch den Ort der Finsternis, der die Menschen gefangenhält, die in ihrem Leben nichts von der Liebe Gottes erfahren haben, die ohne die Hilfe des Gesetzes und ohne das Angebot des Evangeliums in der Sünde der Lieblosigkeit und Untreue lebten und starben, mit seiner Liebe erhellen. Alles, was in ihrem Leben von der Liebe bestimmt war, als Gebende oder als Empfangende (und das gilt für alle Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit bzw. ihrem Atheismus), wird nach ihrem Tode bei Gott und in seiner Liebe geborgen sein. Aber auch ihr Glaube wird noch nach ihrem Tod der Liebe Gottes begegnen. Es sollte auch die letzte Bastion des Feindes aufgebrochen werden und kein Raum mehr sein, der unzugänglich wäre für die erlösende Liebe Gottes.

Wie sollte aber der Raum der Gottferne von der Liebe Gottes erreicht werden? Wer sollte die Liebe Gottes an den Ort tragen, der ja gerade durch die äußerste Trennung von Gott gekennzeichnet ist? Wenn es einen Menschen gäbe, der ohne Sünde wäre, so käme der nie an diesen Ort. Nur das Gewicht der unermesslichen Schuld des Menschen (gemessen an der Würde und an dem Auftrag, der ihm ursprünglich zugedacht war) kann ihn hinabziehen bis auf den Grund der tiefsten Gottverlassenheit. Wer dagegen mit eigener Schuld beladen ist, wird zwar, wenn er nicht Erlösung erfährt, jenen Ort erreichen, aber er kann wieder nur Sünde und Dunkelheit in das Reich der Finsternis bringen, aber nicht das Licht der göttlichen Liebe. Gott aber wusste einen, der in das „Haus des Starken“ (Mt 12,29) einbrechen und ihm seine Beute entreißen sollte: Den „Sohn, an dem er Wohlgefallen hat“.

Der Sohn aber war ohne Sünde. Seine Liebe zum Vater und zu den Brüdern war ohne Makel. So nahm Gott die Schuld der Menschen und legte sie auf ihn. Weil er nicht mit eigener Sünde belastet war, konnte er sie auf sich nehmen. So beladen und beschwert konnte er hinabsteigen an den Ort der Gottferne und dennoch die reine, ungetrübte Liebe dorthin bringen. So erreichte und erreicht auch die Verstorbenen noch der liebende Retterwille Gottes. …er ist auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefängnis, die einst ungehorsam waren… (1. Petrus 3,19). Denn dazu ist auch den Toten das Evangelium verkündigt, dass sie zwar nach Menschenweise gerichtet werden im Fleisch, aber nach Gottes Weise das Leben haben im Geist (1. Petrus 4,6). Das gilt für alle Menschen.

Diejenigen aber, die in ihrem Leben von der Botschaft des Evangeliums erreicht wurden, die sich im alltäglichen Leben immer wieder neu und gegenseitig ihre Schuld vergeben haben, die darauf vertrauen, dass auch Gott ihnen alle ihre Schuld, mit der sie seine göttliche Liebe verletzt haben, schon vergeben hat und die alle zwischenmenschliche Schuld, die noch nicht vergeben ist, sich von Jesus abnehmen lassen, wie leicht werden die leben, und wie umfassend wird ihr Friede (Schalom) sein, schon hier in dieser zeitlichen und irdischen Begrenzung und erst recht in der Ewigkeit der Liebe Gottes. Für sie wird der Tod zum offenen Tor in die Gegenwart des liebenden Vaters. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg (1. Korinther 15, 54+55)? Sie können in die himmlische Welt Gottes kommen, ohne zuerst die Qual der Gottverlassenheit im Sündentod zu schmecken. Sie haben darin einen unermesslichen Vorzug gegenüber allen anderen Generationen und Völkern der Menschheit. Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode ins Leben hindurchgedrungen (Johannes 5,24). Wahrlich, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört (Mt 13,17).

Er aber, der Sohn, musste die ganze Qual der Gottverlassenheit durchleiden: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Mt 27,46/Psalm 22)? Es muss ein unausdenkbarer Schmerz sein, in den Tod zu gehen, beladen mit der Last der Schuld, und zu erkennen, dass der Weg direkt in die Gottverlassenheit führt.

Die Liebe aber ist stärker als der Tod. Es war ja nicht eigene Sünde, die den Sohn in die Tiefe der Gottverlassenheit geführt hatte, sondern die Liebe, welche die Schuld der Verlorenen auf sich genommen hatte: „Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen …“

So war nun die Macht der Liebe eingebrochen in den Raum der äußersten Finsternis. Das Licht der Liebe Gottes erhellte das Dunkel des Todes und die Gewalt der Liebe Gottes zersprengte die Ketten der Schuld. Der für alle gestorben war, sollte für alle leben, damit allen der Weg zum Vater offen ist.

Bodo Fiebig Schuld und Vergebung (Version 2016-11 )

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© 2012 Bodo Fiebig, Schwalbenweg 3, D 95119 Naila


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