Was hier gemeint ist, könnte man als „unbeachtete Kehrseite der Werbung“ bezeichnen. Werbung ist zunächst einmal und ursprünglich einfach Information. Ein Unternehmen hat ein neues Produkt entwickelt und informiert potenzielle Kunden über das neue Produkt und seine Eigenschaften. Solche Art von Werbung ist nicht zu kritisieren und hat mit Beeinflussung gar nichts zu tun, aber sie ist selten geworden (siehe dazu auch das Thema „Wirklichkeit und Wahrheit“, Beitrag 2 „Die Macht der Lüge“).
Beeinflussung durch Werbung geschieht fast immer durch Aussagen, die gar nicht das Produkt selbst ansprechen. Fast immer sind den Werbeinformationen Botschaften beigemischt, die mit den tatsächlichen Eigenschaften des beworbenen Produkts gar nichts zu tun haben. Wie sollten denn auch die Bilder einer attraktiv aufgemachten jungen Frau über die Fahreigenschaften eines Autos informieren? Das wollen und sollen sie auch gar nicht. Sie wollen und sollen bewirken, dass der potenzielle Käufer (das sind bei Autos meistens Männer) die positiven Emotionen, welche die Bilder von der jungen Frau bei ihm wecken, auf das Auto überträgt, so dass dieses eine emotionale Attraktivität erhält, die ursprünglich der jungen Werbe-Frau galt. Oder: Das Sehnsuchtsbild von sonnigen, blühenden Wiesen in einer atemberaubend schönen Alpenlandschaft lässt uns im Supermarkt zu einer bestimmten Käsesorte greifen, auch wenn die Milch dafür von Kühen stammt, die in riesigen Ställen mit vollautomatischen Fütterungs- und Melkanlagen stehen und die das Licht des Tages nie gesehen haben.
„Nun ja“, könnte man sagen, „solche Werbung ist zwar nicht ganz ehrlich, aber sie schadet ja schließlich niemandem. Die meisten Leute sehen halt gern Bilder von schönen und erotisch attraktiven Menschen, oder Bilder von herrlichen Alpenlandschaften und stimmungsvollen Sonnenuntergängen am Palmenstrand, oder Bilder von glücklichen Paaren und von harmonischen Familien mit lachenden Kindern“. Na, und?
Das ist aber sehr naiv gedacht. Doch, solche Bilder richten Schaden an, unermesslichen Schaden, aber ganz anders als wir meinen. Die modernen Menschen, die ständig von einer Überfülle solcher Werbung umgeben sind, sind ja nicht dumm, jedenfalls nicht so dumm wie manche Werbefachleute meinen. Obwohl die Werbebilder und -Szenen bewusst nicht auf den Verstand der Menschen zielen, sondern auf ihre Gefühle, so wissen sie es doch: Das ist ja nur Werbung, das ist doch alles nicht wahr, falscher Schein, verlogene Verführung. Und so entsteht im Laufe der Zeit bei vielen, unbemerkt und ungewollt, in ihrer Umweltwahrnehmung eine Verknüpfung (wie ein „Link“ im Computer-Programm) zwischen der (emotionalen) Empfindung „gut und schön“ und der (sachlichen) Einschätzung „falsch und verlogen“.
Die Bilder von schönen und erotisch attraktiven Menschen, die Bilder von herrlichen Alpenlandschaften mit klarer Luft und weitem Blick oder von stimmungsvollen, friedlichen Sonnenuntergängen am Palmenstrand, die Bilder von glücklichen Paaren in unbeschwerter Zweisamkeit oder von harmonischen Familien mit lachenden Kindern, die sind ja nicht zufällig ausgewählt. Da haben die Werbepsychologen ganze Arbeit geleistet. Die Werbebilder beschreiben in beeindruckender Kürze das, wonach sich die meisten Menschen sehnen, weil sie es bei sich selbst vermissen.
Wenn aber nun das, wonach sich die Menschen sehnen, in ihrem Empfinden (bewusst oder unbewusst) mit dem Einschätzung „unecht“ verknüpft ist, als etwas, das uns beeinflussen will, etwas zu kaufen, was wir vielleicht gar nicht brauchen, wenn alles, was Menschen als gut und schön empfinden und gerne haben möchten, gleichzeitig (bewusst oder unbewusst) mit dem Urteil „falsch und verlogen“ verbunden ist, dann entsteht eine gesellschaftliche Gesamtatmosphäre des Misstrauens gegen alles, was irgendwie positiv zu sein scheint. Und dann bekommt alles, was negativ erscheint, was gewalttätig und hässlich daherkommt, den Stempel, „unschön, aber wenigstens ehrlich“.
Und das gilt nicht nur für Werbung im engeren Sinn (also da wo es darum geht, jemanden zu motivieren, eine bestimmte Ware zu kaufen), sondern z. B. auch für die Werbung von politischen Parteien in der Zeit vor der Wahl, oder für die Selbstvermarktung von „Promis“ in den einschlägigen Blättern, Sendungen und Foren und unterdessen auch oft für die Selbstdarstellung von ganz normalen Menschen in den sozialen Medien.
Die Werbung mit ihren missbrauchten Sehnsuchtsbildern trägt wesentlich zu einer solchen negativen Einstellung zu allem Positiven bei. Wir sind es so sehr gewöhnt, hinter jeder schönen Fassade etwas verborgen Böses zu vermuten, dass der Begriff „schöne Fassade“ selbst schon zu einem Begriff für etwas versteckt Boshaftes geworden ist. Und wir kommen gar nicht mehr auf die Idee, nachzuschauen, ob es denn wirklich so ist. Dass hinter einer „schönen Fassade“ (das meine ich jetzt nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftlich) auch ein schöner „Innenraum“ sein könnte, mit Menschen, die da gern und harmonisch zusammen wohnen, das scheint uns (jedenfalls im Bereich Kunst und Kultur) völlig undenkbar.
Die Macht der Lüge in Form der Beeinflussung durch Werbung hat alles Gute unter den Generalverdacht gestellt, in Wahrheit etwas Verlogenes und verborgen Böses zu sein und sie kann in ganzen Gesellschaften eine Atmosphäre des Misstrauens gegen alles positiv Menschliche erzeugen. Die Folge ist: Das Misstrauen gegen das vermeintlich Gute wird nach und nach und je länger je mehr zum offenen Tor für das tatsächlich Böse. Nach dem Motto: „Also mir ist das ehrlich Böse immer noch lieber als das verlogen Gute“ (ohne zu prüfen, ob das Gute denn wirklich immer verlogen und ob das Böse denn wirklich ehrlich ist). Prüfen wir uns doch einmal selbst, wie weit sich diese negative Abwehrhaltung gegenüber allem, was irgendwie gut, schön und menschenfreundlich erscheint, bei uns selbst schon festgesetzt hat.
Ein sehr deutliches Beispiel für die Verdächtigung des augenscheinlich Guten als etwas Verlogenes und verborgen Böses ist das Verhältnis vieler moderner und intellektueller Menschen zu den Kirchen. Der immer schneller gallopierende Ansehensverlust der Kirchen hat seine Haupt-Ursache nicht darin, dass die Kirchen nicht modern genug auftreten, nicht darin, dass in den Kirchen altmodische Ansichten vertreten oder langweilige Gottesdienste gefeiert werden, auch nicht in den Fällen von tatsächlichen und schlimmen Fehlverhalten und Missbrauch von einzelnen Kirchen-Vertretern.
Nein, aber Menschen, in deren Weltverständnis sich diese Verknüpfung von „schön und gut“ einerseits und „falsch und verlogen“ andererseits festgesetzt hat (alles, was schön und gut aussieht, ist in Wirklichkeit falsch und verlogen), sehen die Kirchen von außen und sie sehen: Da gehen Menschen freundlich, vielleicht sogar liebevoll miteinander um, da gibt es Menschen, die sich um andere kümmern, wenn sie in Not sind, (sehr viele Einrichtungen, in denen Behinderte, Alte, Pflegebedürftige usw. betreut werden, sind in kirchlicher Trägerschaft) und da leben Menschen in Gemeinschaften, so wie sie diese Beobachter es eigentlich für sich selbst auch wünschen und dann können sie gar nicht anders als mehr oder weniger bewusst diese Verknüpfung nachzuvollziehen: Falsch, verlogen und in Wirklichkeit voll heimlicher Bosheit. Alles nur schöne Fassade! Und dahinter?? Und dann kommen große und sehr geschickt gemachte „Kunst-Werke“ Romane und Filme, (z. B. Umberto Eco „Der Name der Rose“ – schriftstellerisch großartig gemacht), die ihnen genau das bestätigen: Ja die Kirche ist in Wirklichkeit im Innern voller Intrigen und Gemeinheit, voller Machtgier, Gewalt und Mord. Da können viele Menschen gar nicht anders, als auch diesen Reflex nachzuvollziehen: „Unschön, aber wenigstens ehrlich!“ Auch wenn die dargestellten Inhalte solcher Romane und Filme mit der historischen Wirklichkeit der Kirche nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Das Urteil steht fest.
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Bodo Fiebig „Die negative Sicht des Positiven“, Version 2020-4
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Alle Beiträge zum Thema "gefährliche Entwicklungen"
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- Leben aus zweiter Hand
- Der Generationen-Abstand
- Kunst im 21. Jahrhundert
- Die negative Sicht des Positiven
- Das Training der Mitleidlosigkeit
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