Was ist los in der digitalen Welt? Wer hat diese Flamme entzündet, diesen Sturm entfesselt? Hasserfüllt und menschenfeindlich, hemmungslos und ohne Maß wird geschimpft und beleidigt, gehetzt und verurteilt. Gerade jene, die irgendwie Verantwortung übernehmen in der Gesellschaft, die irgendwie sichtbar werden in der Menge der (medial) Gesichtslosen, die werden aggressiv angegangen, als wäre sie schuld an allem Unheil dieser Welt.
In den Medien und in gesellschaftlich verantwortlichen Institutionen wird immer wieder die Verwunderung geäußert, dass so viele Menschen offenbar gar kein Gespür mehr haben, was im Miteinander einer Gesellschaft angemessen oder wenigstens noch erträglich ist. Öffentliche Hasskommentare, Wutausbrüche, Tabubrüche, verbale Raserei, Gewalt … woher kommt das? Unerklärlich!
Freilich: Die selben Medien und Institutionen haben aber in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten genau solche Ausbrüche und Tabubrüche gefeiert, haben sie mit Ehrungen und Preisen überhäuft, jedenfalls, solange sich das „Kunst“ nannte. Eine gewaltige weltweite Medien- und Unterhaltungsindustrie hat jahrzehntelang aus dem Schauer der Gewalt, der Allgegenwärtigkeit des Verbrechens, aus dem Genuss(!) fremden Leides, den Flammen des Hasses, der Glut der Bosheit, dem Schrecken des Krieges, dem Höllenfeuer des Untergangs gewaltige Gewinne geschlagen. Und sie haben das „Kunst“ genannt, um es unangreifbar zu machen, denn die Freiheit der Kunst ist grenzenlos, auch da, wo die angebliche „Kunst“ in Wirklichkeit nur billiger Kommerz ist. Damit hat man das ethischen Fundament von Mitverantwortung und Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft ausgetrocknet, hat es verleumdet als etwas Gestriges, Überholtes, geradezu lächerlich Unmodernes, hat es zerbröselt und ver-wüstet. Und nun stehen wir da, jeder für sich allein, in einer ethischen Wüste, in der jedes Mitgefühl verdorrt und jede Mitmenschlichkeit vertrocknet ist (nein nicht jedes und jede, Gott sei Dank! Aber dafür können die Medien-Manager nichts; sie haben ihr Bestes, d.h. ihr Schlechtestes, gegeben).
Nein, man muss sich nicht wundern über all das Negative, das uns begegnet, man muss sich eher wundern, dass es nach all der Verächtlichmachung des Positiven, nach all der Verhöhnung der Menschlichkeit so viel Ehrlichkeit, so viel Anständigkeit, Freundlichkeit und Zuverlässigkeit immer noch gibt, ja dass manchmal sogar so etwas wie Güte und Hingabe noch erhalten sind. Das ist offensichtlich doch nur ganz schwer ganz kaputt zu kriegen (aber man arbeitet mit aller Kraft daran).
Diese geistige Zerrüttung der Menschheit (vor allem Europas und der sogenannten „westlichen Welt“) ist schon seit (mindestens) einem Jahrhundert im Gang; insofern ist es nichts wirklich Neues: Was sich aber in den letzten Jahren geändert hat und was nun wirklich neu ist gegenüber den früheren Jahrzehnten, das ist die technische Möglichkeit, im Internet jetzt selbst das nachzumachen und mit einem Mausklick einer weltweiten Öffentlichkeit zu präsentieren, was man jahrzehntelang von den Medien als Spiel und Unterhaltung vorgesetzt bekam: Aggressivität und Gewalt als Mittel der Selbstinszenierung! Und warum sollte das auf einmal etwas Schlechtes sein, wenn ich jetzt so handle, wie man mir das tausendfach in den Medien vorgemacht hat?
Freilich: Europa war auch in früheren Jahrhunderten kein dauerhafter Hort des Friedens und der Mitmenschlichkeit. Immer wieder wurden Zeiten friedlichen Miteinanders von Ausbrüchen von Feindschaft, Gewalt und Krieg unterbrochen. Die aber waren meist zeitlich und regional begrenzt (Ausnahmen gab es, z. B. im Dreißigjährigen Krieg, der große Teile Europas erfasst hatte). Jetzt aber haben nicht nur die technischen Möglichkeiten, sondern auch die Friedlosigkeit der Menschen globale Dimensionen. Und wir müssen uns immer wieder bewusst machen: Es gibt (leider, aber es ist so) eine große Anzahl von kleinen und großen Mächten, die (ausgestattet mit viel Geld und manchmal auch mit staatlicher Vollmacht) nicht anderes zu tun haben als Desinformation und Lüge, Hass und Hetze zu verbreiten, um damit dem Gewinn- und Machtzuwachs ihrer Auftraggeber zu dienen. (Siehe den folgenden Beitrag „Gegen-Welten“)
Aber (so kann man nun mit Recht einwenden), ist nicht eine solche Haltung der Feindschaft und des Kampfes schon in unseren Genen vorprogrammiert? Ist sie nicht das natürliche Erbe unserer Herkunft? Ist nicht das Leben selbst im Laufe von Jahrmillionen als Ergebnis eines unerbittlichen „Kampfes ums Dasein“ entstanden und weiterentwickelt worden? Und ist nicht auch die ganze Menschheitsgeschichte von solchen Kämpfen gekennzeichnet, in denen nur diejenigen bestehen und überleben konnten, die sich als die Stärksten, Geschicktesten – und auch Rücksichtslosesten durchzusetzen vermochten? (Siehe dazu auch die Themen „Friede auf Erden?“ und „sein und sollen“.)
Sind nicht in unserem biologischen und kulturhistorischen Erbe mehr als genug solcher Kampfinstinkte erhalten geblieben, die uns heute, im Zeichen der Globalisierung und der Massenvernichtungswaffen zum Verhängnis werden können? (siehe das Thema „gut und böse“).
Da sind noch (um ein paar Beispiele zu nennen) tief in uns die Instinkte des Jägers, der das Beutetier hetzt, bis es, zu Tode erschöpft, gestellt und erlegt und im Triumph auf den Schultern nach Hause getragen werden kann. Nun hat die Familie und Sippe wieder ein paar Tage lang zu essen.
Da sind, übermächtig seit Jahrtausenden, die Instinkte des Mutter-Tiers, die ihre Jungen verteidigt mit Zähnen und Klauen und die Instinkte der Sammlerin, die, damit ihre Familie den harten Winter oder die sommerliche Trockenzeit überleben kann, unermüdlich Vorräte anlegt, und nie das Gefühl hat, jetzt ist es genug.
Da sind die Instinkte des Kriegers, der sich und seine Sippe in Gefahr sieht durch die „Fremden“, die sie bedrohen, so dass er Waffen bereithalten muss, Angriff und Verteidigung vorbereiten, Strategien für den Kampf überlegen, den Gegner täuschen, im günstigsten Moment zuschlagen, den „Feind“ töten und dessen Lebensgrundlagen zerstören muss.
Da sind die Instinkte des Weibchens, das den stärksten, potentesten, vermögendsten, mächtigsten Mann erobern muss, der ausreichend Nachwuchs zeugen und ihre Brut ernähren und schützen kann vor allen Angriffen und der ihr selbst eine geachtete Stellung verschafft im Sozialgefüge der Sippe und des Stammes (so weit nur einige wenige, stark vereinfachte, überzeichnete und typisierte Beispiele).
Und alle diese Instinkte und noch viel mehr, die im Laufe von Jahrtausenden im harten Existenzkampf der Sippen und Stämme entstanden sind, die toben sich heute aus in den Vor- und Hinterzimmern, den Großraumbüros und Kantinen, den Gängen und Treppenhäusern unserer Bürotürme oder zwischen den Vorgärten und Blumenbeeten unserer Reihenhäuser oder in den Klassenzimmern und Pausenhöfen unserer Schulen …
Diese Instinkte wirken sich aber auch aus in den entrückten Chefetagen der internationalen Konzernmanager, in den abgeschirmten Konferenzräumen mächtiger Politiker, in den Labors und Hörsälen hochbegabter Wissenschaftler, in den Redaktionsbüros und Schreibstuben einflussreicher Journalisten, in den Gerichtssälen zwischen Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern, in den Armeen zwischen Offizieren, Rekruten und Zivilisten… Wir können nicht einmal ungefähr abschätzen, wie viele der Entscheidungen der Mächtigen dieser Erde nicht auf sachlich-rationalen Grundlagen gefällt werden, sondern auf Grund von uralten Instinkten und Verhaltensmustern.
Und dazu kommt noch: Nicht nur die Erbanteile aus den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte und die Erbanlagen aus unserer Vor-Geschichte im „Kampf ums Dasein“ leben in uns (vgl. im Thema „Friede auf Eden?“ den Beitrag „Ursachen des Unfriedens I – Das Erbe der Frühzeit), sondern auch die Eindrücke und Prägungen unserer eigenen, individuellen Lebensgeschichte, die entscheidend durch unsere persönlichen Erfahrungen, aber auch durch die Geschichte unserer engsten Bezugspersonen in den letzten drei, vier Generationen mitbestimmt werden (vgl. im Thema „Friede auf Eden?“ den Beitrag „Ursachen des Unfriedens II – Das Erbe der Generationen).
Krieg oder Frieden, Freiheit oder Unterdrückung, Wohlstand oder Armut, das entscheidet sich oft (nein, fast immer!) nicht an sachlich unausweichbaren Gegebenheiten, sondern an der persönlichen Verfassung, an den unbewussten Antrieben und den bewussten Motivationen der handelnden Personen. Und diese persönliche Verfassung ist wesentlich mitbestimmt durch das genetische Erbe unserer Familie und das soziale, kulturelle, weltanschauliche und religiöse Erbe unserer Familiengeschichte und darin eingebettet, unser eigenen persönlichen Biografie.
Dabei müssen wir beachten: Die Einstellungen und Handlungsweisen von Menschen werden nicht unausweichlich von deren persönlichen Lebensgeschichte festgelegt. Aber die Erfahrungen der Vergangenheit und persönliche Biografie mit allen ihren positiven und negativen Erlebnissen können in ihnen doch eine Tendenz hervorrufen und bestärken, die bestimmte Einstellungen und Handlungsweisen wahrscheinlicher werden lässt:
Wiederholte und als bedrohlich empfundene Erfahrungen von Mangel und Verlust (besonders in der frühen Kindheit) bringen (nicht zwangsläufig, aber als Tendenz) einen Typus von Menschen hervor, der durch ein unstillbares Haben-Wollen und Festhalten-Wollen geprägt und beherrscht ist und der damit den Frieden im Miteinander der Menschen gefährdet.
Wiederholte und als bedrückend erlebte Erfahrungen von Erniedrigung und Unterdrückung bringen (nicht zwangsläufig, aber als Tendenz) einen Typus von Menschen hervor, bei denen eine persönliche und soziale Verunsicherung und ein persönliches Minderwertigkeitsgefühl umschlagen können in die Neigung zu Selbstüberhöhung und skrupelloser Machtausübung, sobald sich dazu die Möglichkeit bietet.
Wiederholte und als existenzgefährdend erlittene Erfahrungen von Bedrohung und Verletzung bringen (nicht zwangsläufig, aber als Tendenz) einen Typus von Menschen hervor, der, sobald er Macht und Gelegenheit dazu hat, selbst zur Anwendung von bedrohender und verletzender Gewalt neigt.
Die Spiralen des Unfriedens und der Gewalt, die sich überall auf der Welt, im kleinen, privaten Bereich ebenso, wie im Großen zwischen Völkern und Rassen, Kulturen und Weltanschauungen mal langsam, mal schneller drehen, können auf Dauer nur dann zum Stillstand gebracht werden, wenn man verhindert, dass Menschen solche Erfahrungen machen müssen: Mangel und Verlust, Erniedrigung und Unterdrückung, Bedrohung und Verletzung.
Das unbewusste aber um so mehr wirksame Erbe aus der Frühzeit des Menschseins und das geistige, kulturelle und emotionale Familienerbe der letzten 3-4 Generationen prägen uns mehr als wir ahnen.
Dabei müssen wir solche vorgeprägten Denk- und Handlungsmuster gar nicht grundsätzlich verdammen. Sie hatten ja in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit durchaus ihren Sinn. Und (machen wir uns da nichts vor) wir werden sie den Einzelnen und Gruppen, den Völkern und Kulturen, den Weltanschauungen und Religionen nicht innerhalb einer Generation psychologisch „wegtherapieren“ können, es würde (wenn es überhaupt möglich wäre) Jahrhunderte dauern. Dazu aber haben wir nicht die Zeit. Und: Das ist auch gar nicht notwendig. Solche Prägungen und Antriebe müssen sich ja heute nicht unbedingt negativ auswirken. Wir brauchen sie ja auch heute noch als Stimulation und Motivation für unser Handeln. Ja, geben wir es zu: Wir (vor allen die Vertreter des männlichen Geschlechts unter uns) brauchen Ziele, für die wir kämpfen können, wir brauchen die Herausforderung des Kampfes, um unsere körperlichen und geistigen Kräfte optimal zu entfalten. Und wir brauchen dazu auch klare Vorstellungen davon, wogegen wir kämpfen müssen. Sagen wir es rundheraus: Wir brauchen Feindbilder. Aber: Der Feind, gegen den es heute zu kämpfen gilt, das ist nicht der „Andere“, der Fremde, der Andersartige und Andersdenkende und Andersglaubende, auch nicht die andere Kultur, Weltanschauung oder Religion; der Feind des Menschseins im 21. Jahrhundert ist die Feindschaft, sind feindseliges Denken und Handeln, sind der Hass, die Gewalt und der Krieg. Es kommt entscheidend darauf es an, dass wir wissen, welches wirklich unsere Feinde sind, sonst bekämpfen wir die falschen und richten mehr Schaden an als wir nützen könnten!
Wenn es gelingt, die „Kampfbereitschaft“ der Menschen (also das Engagement der Einzelnen, der Gruppen und Völker) gegen diesen Feind zu mobilisieren, also gegen die Feindschaft, den Hass und die Gewalt (und das ist möglich!), und gegen viele andere Feinde, die z. B. „Hunger” heißen oder „Armut” oder „Ungerechtigkeit” oder „Ausbeutung”, „Umweltzerstörung”, „Habgier”, „Machtgier”, „Sucht”, und noch einige andere, dann sind wir auf dem Weg zum Frieden ein gutes Stück vorangekommen. Und das ist ja nichts Neues oder Unmögliches. Es gibt ja schon heute viele Einzelne, Gruppen, Organisationen, die unter großem persönlichen Einsatz diesen Kampf führen. Es geht nicht anders, das muss auch uns ein dringendes Anliegen werden. Und wenn sich viele da mit engagieren, ist dieses Bemühen nicht aussichtslos.
Aber noch einmal, denn das ist das alles Entscheidende: Wir dürfen nicht in die Versuchung geraten, die Falschen als Feinde anzusehen und zu bekämpfen. Unser Kampf gilt der Feindschaft, nicht dem „Feind“ (wen immer wir dann als „Feind“ bezeichnen, die Bösen sind ja immer die andern), er gilt dem Fremdenhass, nicht „dem Fremden“. Wir kämpfen gegen die Armut, nicht gegen „die Reichen“, gegen die Ausbeutung, nicht gegen „die Ausbeuter“ (obwohl es da manchmal in der Sache auch harte Auseinandersetzungen geben muss)… Aber es ist doch von entscheidender Bedeutung: Wenn wir gegen die Bösen (bzw. gegen die, die welche wir für die Bösen halten und das sind ja immer die anderen) und nicht gegen das Böse (das es in jedem Menschen gibt, auch in uns selbst), dann sind wir doch wieder nur ein Teil des alten Kampfes „wir, die Guten gegen euch, die Bösen“. Und dann ist alles verloren. Unser Ringen muss gegen das Böse gerichtet sein: Das Böse bei uns und bei euch, in uns und in euch.
Zusammengefasst: Machen wir es wie Gott: Gott hasst das Böse, nicht die Bösen (siehe das Thema „gut und böse“). Wie sollte Gott das Böse nicht hassen angesichts der Verfinsterung dieser Welt, einer Welt voller Verbrechen, Lüge, Betrug, Gewalt, Raub und Mord. Wie sollte Gott das Böse nicht hassen, wenn er sieht, wie es immer mehr um sich greift und das Miteinander und den Frieden unter den Menschen stört und zerstört. Gott hasst das Böse, ja, denn das ist der Feind aller Menschlichkeit, so wie er sie gewollt geschaffen hat. Aber Gott liebt die Menschen, alle Menschen, sogar die, die Böses tun oder getan haben, weil er in ihnen das Gute sieht, das er selbst in sie hineingelegt hat, und das erneuert, hervorgehoben, bestärkt und bestätigt werden kann.
Aber: Wie soll denn das gehen, das Böse zu bekämpfen, ohne gegen „die Bösen“ Gewalt anzuwenden? Die werden sich ja kaum mit guten Worten von ihren bösen Vorhaben abbringen lassen! Das ist schon richtig, deshalb muss dieser Kampf auch immer zwei Zielrichtungen haben: Die Verhinderung des Bösen und die Förderung des Guten. Das muss uns bewusst sein: Das Gute, Hilfreiche, Menschenfreundliche ist niemals (und war niemals in den Jahrtausenden der Menschheits-Geschichte) etwas Selbstverständliches, etwas, das sich von allein ergibt. Das Böse geschieht oft von allein, es entspricht ja auch in vielem den Urinstinkten des Lebens: Kampf ums Dasein, ums Leben und Überleben, und Kampf um die besten Plätze in der Gesellschaft. Das Gute aber muss man (manchmal auch gegen die eigenen Interessen und Triebe) bewusst wollen und tun, muss es suchen und fördern. Und das ist möglich. Lassen wir uns nicht entmutigen; es gibt Erfahrungen über Jahrhunderte in diesem Kampf, Erfahrungen, die uns auch heute noch weiterhelfen können.
Seit Jahrhunderten haben sich Gläubige in den christlichen Kirchen und in Einrichtungen des Judentums um Menschen gekümmert, die in Not waren oder die „unter die Räuber gefallen“. Die kirchliche Tradition nennt das Diakonie und das gibt es schon seit den ersten Tagen der Christenheit (vgl. Apg 6, 1-7): Zuwendung und Hilfe für Arme, Kranke, Behinderte, Alte, um Witwen und Waisen, um die Opfer von Gewalt und Krieg. Das war und ist Diakonie am Leben der Menschen (vgl. den Beitrag „Gesellschafts- und Friedensdiakonie“ auf der Startseite). Das bekannteste Vorbild für diese Diakonie ist der barmherzige Samariter aus dem Gleichnis Jesu (Lk 10, 30-36). Diese Samariter-Dienste gingen im Mittelalter meist von den Klöstern aus (später von den „Diakonischen Werken“) und sie waren Jahrhunderte lang die einzige Hilfe für alle Notleidenden und sie waren ein Bollwerk gegen die geistige Zerrüttung der Menschen durch die Erfahrung von Zuwendung und Hilfe. Und: Sie haben sich im Lauf der Jahrhunderte als menschlich und gesellschaftlich so notwendig und hilfreich erwiesen, dass sie heute in den meisten (auch nichtchristlichen) Ländern von staatlichen Einrichtungen übernommen werden: Krankenhäuser, Altenheime, Waisenhäuser, Behinderteneinrichtungen … Die Kirchen sind, zumindest in den hoch entwickelten Ländern, nur noch am Rande damit befasst durch diakonische Einrichtungen, die nach den Vorgaben der staatlichen Sozialsysteme arbeiten.
Statt dessen ist aber heute eine neue, ganz große Herausforderung hinzugekommen, für die es noch keine staatlichen Einrichtungen gibt: Nicht mehr nur das Leben der Menschen, sondern vor allem das Zusammenleben der Menschen ist gefährdet und gestört. Und das gilt weltweit, in Europa genau so wie in Afrika oder Asien, wie in Amerika oder Australien und es reicht bis in das letzte Südsee-Inselparadies im Pazifischen Ozean: Die traditionellen Bindungen haben sich aufgelöst und neue tragfähige Strukturen sind noch nicht gefunden. Der Zusammenhalt der Familien und der Generationen ist weithin zerbrochen. Den Schutzraum der Großfamilie, der Nachbarschaften, der Dorfgemeinschaft, auch der Arbeitsgemeinschaft einer Firma, in der man viele Jahre, ja möglichst ein ganzes Berufsleben tätig ist, gibt es kaum noch. Die Vereinzelung des Menschen inmitten von immer größeren und immer unüberschaubarer werdenden sozialen Einheiten macht ihn hilflos und anfällig gegenüber dem Zugriff globaler Mächte und Beeinflussungsstrategien durch „Weltmächte“ der Desinformation und der Lüge in den (leider oft gar nicht mehr) „sozialen“ Medien.
Was heute nötig ist, ist nicht mehr nur eine Diakonie am Leben der Menschen, sondern auch eine Diakonie am Zusammenleben der Menschen, in den Ehen und Familien, in Nachbarschaften und Kollegien, in überörtlichen Gemeinschaften und Netzwerken, zwischen den Interessenruppen und Parteien, zwischen den Völkern und Kulturen, den Weltanschauungen und Religionen … Der barmherzige Samariter von heute muss nicht nur die Wunden des unter die Räuber Gefallenen verbinden, er muss ihm vor allem wieder den Zugang zu einem sozialen Gefüge verschaffen, in dem er Nähe, Gemeinschaft und Geborgenheit erfahren kann. Das können staatliche Einrichtungen nicht leisten.
Was heute nötig ist, ist eine Gesellschafts- und Friedensdiakonie, durch die Menschen neu lernen können, wie man in Gemeinschaft lebt und wie verschiedene Gemeinschaften mit verschiedenen Traditionen, Mentalitäten, Lebensweisen und Ausdrucksformen in versöhnter Verschiedenheit miteinander auf diesem einen Globus leben können. Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen (Mt 5, 9) sagt Jesus in der Bergpredigt.
Die Kirchen haben das ja selbst erst mühsam lernen müssen. Auch sie waren vielfach gespalten und zerrissen, standen sich manchmal sogar in feindlichen Lagern gegenüber, und sie sind erst in unserer Zeit dabei, allmählich wieder zu ihrer ursprünglichen Einheit in versöhnter Verschiedenheit zurückzufinden. Dadurch aber haben sie einen Erfahrungsvorsprung bezüglich der Nöte unserer Gegenwart, den sie heute in die regionalen und globalen Prozesse einbringen können.
Eine solche Gesellschafts- und Friedensdiakonie als Gegenwartspraxis des zukünftigen Heils (Heil hier verstanden als Gesundung der persönlichen und kollektiven Verwundungen im Leben und Erleben der Menschen) kann und soll heute überall geschehen, wo Menschen sich von Jesus zu einer Lebensgemeinschaft der Einheit in versöhnter Verschiedenheit durch die Bindungskraft seiner Liebe führen lassen. Und das nicht als weltferne Utopie und wirklichkeitsscheuen Wunschtraum, sondern als handfest-konkreter Lebensvollzug, in dem aber schon ein Vorgeschmack der verheißenen Vollendung wahrzunehmen ist.
Was also sollen wir nun tun, wie sollen wir den unaufhörlichen Funkenregen von Hass und Gewalt in den digitalen Medien herunterkühlen auf ein erträgliches Maß? Wie sollen wir für Frieden und Verständigung eintreten in einer wuterfüllten Öffentlichkeit? Eines ist ganz gewiss: Es wird niemals möglich sein, allein mit Abwehr– und Strafmaßnahmen eine verhängnisvolle Entwicklung im Denken und Wollen der Menschen aufzuhalten und einzudämmen. Selbst wenn man die Hälfte der Bewohner eines Landes in Gefängnisse einsperren würde, weil sie hasserfüllte und menschenfeindliche Ansichten äußern und entsprechende Handlungen planen und manchmal auch durchführen, so würde das den Rest der dann noch „Freien“ nicht davon abhalten, aus der Feindschaft zu diesen Übeltätern nun selbst (zwar etwas anders gefärbte aber) im Grunde genau so hasserfüllte und menschenfeindliche Ansichten und Handlungsweisen zu entwickeln. Wenn wir anfangen die Bösen zu bekämpfen statt das Böse (das Böse, das in jedem Menschen Wurzeln schlagen kann, auch in uns selbst) dann haben wir den Kampf schon verloren.
Es gibt keine auf Dauer wirksame Möglichkeit, hasserfüllte und menschenfeindliche Ansichten zu überwinden, indem man versucht, sie einzugrenzen, zu isolieren wie eine ansteckende Krankheit, auch nicht, indem man sie mit Härte zurückdrängt und die Gewalt mit Gegengewalt bekämpft (obwohl man auch in der Sache notwendige harte Auseinandersetzungen nicht scheuen darf, aber die sind nur Symptombekämpfung, nicht Heilmittel).
Das einzig wirksame Gegenmittel gegen Ansichten und Gefühle von Hass und Gewalt (die sich irgendwann in hasserfüllte Worte und gewaltsame Taten verwandeln), sind Erfahrungen von liebevoller Zuwendung und handfester Wohltat, und dieses Gegenmittel wirkt bei den Gebenden genau so heilend wie bei den Empfangenden. Aber das zu verwirklichen ist ganz gewiss keine Möglichkeit für Einzelgänger und Einzelkämpfer. Nur in den alten (ebenso wie in den modernen) Märchen können Superhelden die Welt retten. In der Realität unserer realen Welt können immer nur untereinander verbundene Gemeinschaften dauerhafte Veränderungen bewirken. Wir müssen uns das immer wieder bewusst machen: Die modernen Kommunikationsmittel sind nicht reserviert für die Mitteilung von Hass und Hetze! Sie können auch (intensiver als bisher) für die Mitteilung von freundlichen, hilfreichen und wohltuenden gemeinschaftsbildenden Inhalten genutzt werden. Und: Weil der digital verbreitete Hass weltweit organisiert und vernetzt ist, muss auch eine „Diakonie am Leben und Zusammenleben“ der Menschheit weltweit verbreitet, organisiert und vernetzt sein. Und das ist die Herausforderung an die jetzt junge Generation, damit jetzt zu beginnen.
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Bodo Fiebig „Die falschen Feinde“, Version 2020-4
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