Das ist der Kern der Hitler’schen Ideologie: Die Juden (alle Juden, aber keineswegs alle Semiten!) sind mit dem Krankheitskeim der Mitmenschlichkeit infiziert (auch wenn Hitler ihnen in seiner Rhetorik immer wieder seine eigenen Motive unterstellte, nämlich das gewaltsame Streben nach Weltherrschaft). Ihr Festhalten an den Geboten Gottes ist für ihn wie ein Fluch für die ganze Menschheit: Du sollst deinen Vater (!) und deine Mutter ehren, nicht töten, nicht stehlen, den Nächsten nicht verleumden, nicht an dich zu reißen versuchen, was einem anderen gehört (2. Mose 20, 13-17), solche Verbote verhindern (so sah es Hitler nun), dass die Stärksten und Brutalsten durch Kampf und Gewalt die Macht an sich reißen und alles Schwächere beherrschen können. Und dass wäre das Ende der totalen Macht für ihn und seine „Bewegung” (siehe dazu den Beitrag 4 „Die Mission“).
Die Juden sind durch das Gift einer „Mitleidsmoral“ verdorben, die das Schwache in Schutz nehmen will gegen die Starken. Sie stellten seine (Hitlers) Lebenserfahrung und seinen Anspruch in Frage, dass nur der Stärkere durch Härte, Brutalität und Gewalt Erfolg haben könne, und dass dann eben dieser „Erfolg” rückwirkend die Härte, Brutalität und Gewalt legalisiert. Hitler wollte und brauchte eine „Ethik der Stärke“, die jede Gewalt gegen alles Schwache rechtfertigt und gut heißt. Nur wenn es ihm gelänge, das Judentum als Träger dieser verhassten „Mitleidsmoral“ und mit ihm das „Gift“ der Gebote der Mitmenschlichkeit gänzlich auszulöschen, dann könnte er seine Pläne verwirklichen. Wenn das nicht gelänge, dann wäre alles, was er bisher getan und befohlen hatte und noch mehr alles, was er noch vorhatte, nichts anderes als ein furchtbares Verbrechen.
Die Überwindung jeder ethischen Haltung, die der totalen Herrschaft der Starken über alles, was irgendwie Schwäche zeigt, im Wege stehen könnte, war prägender Bestandteil der Visionen Hitlers und die versuchte er in allen Lebensbereichen durchzusetzen, besonders in der Erziehung der Jugend: Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. (Zitiert nach J.C. Fest)
Es kam für die Nazis darauf an, die Ideologie der Stärke an die nächste Generation weiterzugeben. Was würde sich auf Dauer durchsetzen? Die Macht der Gewalt oder die Ethik der Mitmenschlichkeit? Davon würde abhängen, als was Hitler und seine Anhänger in die Geschichte eingehen würden: als die größten Helden der Menschheitsgeschichte oder als deren furchtbarsten Verbrecher. Und Hitler war sich dessen bewusst. Am 15. Juni 1941, eine Woche vor Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion notierte Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler: „Der Führer sagt, ob recht oder unrecht, wir müssen siegen. Das ist der einzige Weg. (…) Und haben wir gesiegt, wer fragt uns nach der Methode. Wir haben sowieso so viel auf dem Kerbholz, dass wir siegen müssen …” (zitiert nach Saul Friedländer „Das Dritte Reich und die Juden”).
Helden oder Verbrecher – diese Alternative macht die Verbissenheit verständlich, mit der die Judenvernichtung vorangetrieben wurde. Selbst als Hitlers Armeen schon überall auf dem Rückzug waren, und obwohl es den kämpfenden Truppen überall an Ausrüstung, Material und Transportmitteln fehlte, kam die Vernichtungsmaschinerie nicht eine Minute ins Stocken, wurden Hunderttausende von Menschen kreuz und quer durch Europa gekarrt, um sie so effektiv und so restlos wie möglich zu Tode zu bringen.
Das hatte Hitler für sich und seine „Bewegung” zur großen und verpflichtenden Aufgabe angenommen (zitiert nach Ian Kershaw „Hitler“): Wenn wir diese Pest (die Juden) ausrotten, so vollbringen wir eine Tat für die Menschheit, von deren Bedeutung sich unsere Männer draußen noch gar keine Vorstellung machen können.“ (Aus einer Rede Hitlers Oktober 1941). Nie in der Geschichte der Menschheit hat es ein so rational geplantes und durchgeführtes, von den offiziellen Organen eines ganzen Staates gewolltes, vorangetriebenes und durchgesetztes Vernichtungswerk gegeben, wie jenes, das die Nazis „Endlösung der Judenfrage“ nannten.
Der Hass der nationalistischen Ideologie, die die Gewaltherrschaft der Starken über die Schwachen zum höchsten Ideal erhob, richtete sich im Letzten gegen den Gott der Juden selbst, den Gott, der die biblischen Gebote gegeben hatte, die Weisungen für eine gottgewollte Menschlichkeit. Und weil man diesen Gott der Juden nicht direkt angreifen konnte, richtete sich dieser Hass stellvertretend gegen das Volk der Juden.
Die Juden in Deutschland und Europa wurden von den Nazis verfolgt und umgebracht, weil sie Träger einer Rechtsordnung waren, die, weil von Gott her kommend, nicht in die totale Verfügbarkeit der Herrschenden gegeben war und weil diese Rechtsordnung (die Thora, die Gebote Gottes) das Gegenmodell war zur Gewaltideologie des Nationalsozialismus.
Die Juden in Deutschland und Europa wurden ermordet, weil sie eine Lebensordnung repräsentierten, die nicht beliebig manipulierbar war und weil die Herrschenden nicht erwarten konnten, dass die Juden in ihrer Mehrheit sie je aufgeben würden.
Die Juden Europas wurden vor die Erschießungskommandos und in die Gaskammern getrieben, weil man hoffte, dort mit ihnen zugleich auch das biblische „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ endgültig zum Schweigen zu bringen.
Die Juden Europas starben für ihre Thora, das heißt, für die ihnen von Gott anvertraute Lebensordnung der Menschlichkeit.
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Das Opfer (Version 2018-8)
© 2018 Bodo Fiebig
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