Dass die 68er „Revolution” ein folgenschwerer Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war, steht außer Frage. Frag-würdig aber ist ihre Entstehungsgeschichte: Wie konnten einige politisch völlig unerfahrene Studenten mit wirren Vorstellungen von Marxismus und Maoismus eine solche geistige Veränderung bewirken? Beim genaueren Hinschauen scheint die Antwort gar nicht so schwer: Die geistige Revolution wurde nicht von der Stärke der demonstrierenden Studenten und ihren „Aktionen” bewirkt, sondern von der Schwäche der damaligen geistigen Eliten und (vor allem!) von der Sensationsgier der Medien, die ohne eigenes geistiges Fundament und ohne eigene ethische Verpflichtung immer nur der Schlagzeile nachliefen, die kurzfristig eine Steigerung der Auflage und der Werbeeinnahmen versprach, und die sich so, zum Teil ungewollt, aber doch sehr effektiv, zum großen Sprachrohr einer kleinen Minderheitsbewegung machten.
Im Hintergrund wirkte freilich der ferne und doch in Bildern und Worten stets gegenwärtige Vietnam-Krieg als Brand-Beschleuniger. Die grausigen Bilder von Napam-Opfern wühlten auf. Auch der Kampf der schwarzen Bevölkerung in den USA um die Gleichberechtigung (Martin Luther King wurde 1968 ermordet) wirkte als Motivations-Schub. Beides hatte aber in Deutschland bei weitem nicht die Bedeutung wie jenseits des Atlantik. Bedeutung hatte hier eher die Tatsache, dass viele ehemalige Nazis im Nachkriegs-Deutschland wieder in hohe Ämter aufgestiegen waren. Trotzdem: Das alles erklärt nicht die Wucht und die Richtung, die die Ereignisse nun entwickelten.
Die Richtung der Entwicklung wurde durch zwei völlig verschiedene Kräfte bestimmt: Erstens war das eine unauffällige aber zähe und über viele Jahre konstante Arbeit von Organen der DDR (und hinter ihr stehend der Sowjetunion), die darauf abzielte, die geistigen Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung in der BRD einerseits zu destabilisieren und andererseits in eine gewünschte Richtung zu lenken. Die an Westdevisen arme und wirtschaftlich schon schwer angeschlagene DDR leistete sich einen umfangreichen Apparat, der, vom Osten gesteuert und mit Westgeld bezahlt, in der Bundesrepublik „subversive Einflussnahme” betrieb. Hauptangriffspunkte waren die Medien und die Universitäten. Überall da, wo Entwicklungen in Gang gesetzt und Entscheidungen getroffen wurden, versuche man eigene Leute einzuschleusen und so zu positionieren, dass sie unauffällig Impulse und Weichenstellungen im Sinne der marxistisch-kommunistisch-sowjetischen Ideologie bewirken konnten. Das kam bei vielen Intellektuellen im Westen gut an. Man hatte ja eben erst die furchtbare ethische und menschliche Katastrophe des „rechten” Nationalsozialismus hinter sich und war verunsichert und auf der Suche nach neuen Wegen und Antworten. Das kam den Verfechtern eines Neuanfangs unter „linken” Vorzeichen auch im Westen sehr entgegen: Denn (so dachten viele), wenn die „Rechten” so viel Unheil, Leid und Tod über die Welt gebracht haben, dann müssen ja logischerweise die „Linken” die Guten sein (siehe den Beitrag „Die das Gute wollten“).
Das erfolgreichste Beispiel dieser Untergrundarbeit von Ost-Agenten im Westen war die Studenten-Zeitschrift „konkret”. Deren Herausgeber Klaus Röhl und Chefredakteurin Ulrike Meinhof (die später als Mitglied der terroristischen „Bader-Meinhof-Bande“ bekannt wurde) wurden regelmäßig nach Ostberlin beordert, um dort Rapport zu geben und sich neue Instruktionen abzuholen, wie die Zeitschrift zu gestalten sei (die Protokolle dieser Sitzungen sind erhalten; Bettina Röhl, Tochter von Ulrike Meinhof und Klaus Röhl hat sie in ihrem Buch „So macht Kommunismus Spaß” verarbeitet). Dafür wurden die redaktionelle Arbeit und die Personalkosten großzügig von der „Sozialistischen Einheitspartei“ der DDR gesponsert. Lange vor der Studentenrevolte hatte der „Osten” auf diese Weise in westlichen Intellektuellen-Kreisen eine geistige Strömung in Gang gesetzt, die alles für gut, modern und fortschrittlich erklärte, was „links” ausgerichtet war und die alles, was konservativ und vor allem christlich begründet war, mit den „Rechten” (also den Nazis) identifizierte und über sie kübelweise Verdächtigung und Verleumdung, Hohn und Verachtung goss.
Den DDR-Linken und ihren westdeutschen Genossen gelang es, den „Sozialistischen Deutschen Studentenbund”, eigentlich eine Gründung der SPD, zu unterwandern und schließlich ganz in den Griff zu bekommen. Damit hatten sie ein effektives Werkzeug für ihren „revolutionären Kampf” in der Hand. Sie nannten sich die „Neue Linke” und verstanden sich jetzt als „außerparlamentarische Opposition” (APO).
Das zweite auslösende Moment für die 68er „Revolution” waren kleine und für sich völlig unbedeutende Gruppen orientierungsloser und gelangweilter junger Leute, größtenteils Studenten, die das Studieren längst aufgegeben hatten. Sie verwendeten ihr Studentendasein als Basis für ein Leben als soziale Experimentierstation, aus der heraus sie nun aus Spaß und in der Absicht, ihre Umgebung zu „provozieren”, mit Begriffen und Aktionen auf sich aufmerksam machten, die sie für irgendwie „anstößig” hielten: Männer mit langen Haaren, freier Sex, Drogenkonsum, Lenin, Mao und Ho-Tschi-Minh, Leben in einer „Kommune” mit der hübschen und freizügigen Uschi Obermaier, Stören von Vorlesungen, „Umfunktionieren” von Veranstaltungen, indem man das Rednerpult stürmte, gewaltsam das Mikrofon an sich riss und wirres Zeug in die Versammlung schrie …
Erstaunlicherweise und für die Provokateure selbst überraschend stürzte sich die gesamte Presse und ebenso die Rundfunkanstalten auf diese Ereignisse. Da war doch endlich mal was los, aus dem sich zündende Schlagzeilen machen ließen! Bilder von den langhaarigen Mannen der „Kommune 1” mit Uschis entblößtem Oberkörper in den Illustrierten: Eine Sensation, ja, eine Revolution!
Allerdings brachte diese heftige Reaktion auf ihre teils lächerlichen Provokationen und die unerwartet große Öffentlichkeit die „Revolutionäre” in einige Verlegenheit. Soviel Aufmerksamkeit von Seiten des „Establishments” hatten sie nicht erwartet. Und da sie selbst politisch ziemlich unbedarft waren, mussten sie sich jetzt ganz schnell mit einer Ideologie ausstatten, mit der sie ihre Aktionen begründen konnten. Also nahmen sie, was ohnehin in Intellektuellen-Kreisen auf dem Markt war: Theodor Adorno und Herbert Marcuse, Marx und Engels, Lenin und Stalin, Mao und Ho-Tschi-Minh, Fidel Castro und Che Guevara, Kommunismus und Antiamerikanismus und vor allem das „Establishment” als Feindbild. Der Begriff „Establishment” stand bei ihnen für alles, was schon vor ihnen existiert hatte und was die „Revolutionäre” als rückständig empfanden, weil sie es nicht selbst erfunden hatten: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren”.
Zum Glück derer, die sich nun unversehens in die aufregende Rolle von „Revolutionären” versetzt fanden, gab es einige „Revolutions-Profis” unter den Studierenden, die sich ganz der revolutionären Agitation verschrieben hatten, Rudi Dutschke zum Beispiel. Die übernahmen jetzt die Führung der „linken” Studentenbewegung und bauten sie zu einer schlagkräftigen Agitationstruppe aus. Sie lieferten jetzt auch die ideologischen Begründungen nach, mit denen sich die spontanen Provokateure bis dahin so schwer getan hatten.
Genau dies war die Zeit, wo eine begrenzte und vielgesichtige Studentenbewegung zum nationalen Ereignis gemacht wurde: Nicht von den Studenten selbst, sondern von den Medien. Die Kraft, die aus einer konfusen Studentenrevolte die „68er Revolution” machte, kam aus einen Medien-Krieg: Die rechte Presse gegen die linke, die rechten Sender gegen die linken. Der Springer-Konzern mit der Bild-Zeitung an der Spitze wurde zum Feind-Bild einer ganzen Studentengeneration. Das heizte die Medien-Schlacht auf immer höhere Temperaturen. Die „rechten” Medien gierten geradezu nach jeder neuen Provokation der „Revolutionäre”, um zu zeigen, wie schlimm die sind und die „Linken” bejubelten jede „Demo”, und jede revolutionär „umfunktionierte” Großveranstaltung, um zu zeigen: Wir haben die „Massen” auf unserer Seite. Ohne dieses aufgebauschte und hochgeputschte Medien-Spektakel wäre die sogenannte „Revolution” sehr schnell wieder in jene Bedeutungslosigkeit zurückgefallen, aus der sie kam.
So aber wurde die 68er Bewegung allmählich auch für andere interessant. Jeder, der sich selbst zur intellektuellen Elite des Landes zählen wollte, legte nun Wert darauf, als „links” zu gelten. Ja, es gab ganze Universitäten (z. B. die in Bremen, so eines der Gerüchte, die in Studentenkreisen kursierten), bei denen niemand, der nicht glaubhaft nachweisen konnte „links” zu sein, eine Chance gehabt hätte, dort eine Doktoranden-, Dozenten- oder gar Professorenstelle zu bekommen. Fachliche Qualifikationen spielten dabei kaum eine Rolle. Ich habe später selbst als Studierender in München einen Professor erlebt, der nach einhelliger Meinung der Studenten (sogar derer, die sich selbst auch „links” positionierten) für ziemlich unfähig gehalten wurde, der sich aber öffentlich in dem Bewusstsein sonnte, eine linke Gesinnung zu haben und allein schon damit zur intellektuellen Elite des Landes zu gehören. Jetzt drängten sich eine Menge mehr oder weniger angesehener Künstler, Philosophen, Schriftsteller … herzu, um auch von der „revolutionären” Dynamik zu profitieren. Wie viel „revolutionärer” Schwachsinn wurde jetzt geredet und geschrieben und nachgeplappert, nur um auch dazuzugehören! Und wieviel Idealismus, Einsatzbereitschaft und Hingabe für eine gerechtere Welt, wieviel Begeisterung und Hoffnung für eine bessere Zukunft wurden geweckt und missbraucht!
Fast ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Die „Altachtundsechziger”, die, als sie jung waren, getönt hatten: „Trau keinem über dreißig”, sind nun in Rente gegangen. Die Revolution verlief im Sande; die erhofften „revolutionären Massen” sind ihnen nicht gefolgt. Warum sollte man dann jetzt noch diese alten Geschichten aufwärmen? Ganz einfach: Weil es höchste Zeit ist, sich mit den Folgen zu beschäftigen, denn: Die Revolution verlief im Sande, nicht aber ihre Ideologie, ihre Denkmuster und Grundannahmen. Die „Revolutionäre” von einst traten den „langen Marsch durch die Institutionen” an (Der Begriff stammt aus der chinesischen Revolution, die mit dem „Langen Marsch” unter Mao begonnen hatte) und sie nahmen als Marschgepäck all ihre verqueren, irrealen und verbohrten Ideen mit, die schon damals gescheitert waren und die einige von ihnen in den Irrsinn des RAF-Terrors getrieben hatten.
Die Ideen und Ideologien der „68er” haben den größten Teil der Bevölkerung in Deutschland (und in anderen Ländern Mittel- und Westeuropas) nicht erreicht. Wirklich prägenden Einfluss hatten sie nur in einer Generation von Studenten und Studentinnen, die ihre intellektuelle Bildungsphase genau in jener Zeit durchlaufen haben. Die allerdings wurden viele Jahre später Staatsanwälte und Richter, Journalisten und Redakteure, Wissenschaftler und Professoren, Abgeordnete und Minister, Pfarrer und Bischöfe. Nicht alle hatten dabei ganz bewusst den „langen Marsch durch die Institutionen” als Fortsetzung der „Revolution” im Sinn, aber sehr viele hatten die Ideen, mit denen sie erwachsen geworden waren, noch im Hinterkopf und richteten mehr oder weniger bewusst ihre Entscheidungen, die sie in ihren herausgehobenen Ämtern zu treffen hatten, daran aus. Die gescheiterte „Revolution” wurde zum gesellschaftlichen Verwandlungsprozess mit Langzeitwirkung. Immer noch steckt es in vielen Köpfen: Alles, was „links” ist, das ist modern, fortschrittlich und gut; und alles, was nicht „links” ist, das ist überholt, rückwärtsgewandt und böse. Das Böseste und Verwerflichste aber, das ist der Glaube an einen Gott, der diese Welt geschaffen hat und der den Menschen sagen will, was für ihn (und deshalb auch für die Menschen) gut oder böse sei: „Du sollst … und du sollst nicht“.
Diese Entwicklung hatte damals schon eine mehr als zweihundertjährige Vorgeschichte und nur in diesem historischen Zusammenhang wird ihre Wirkungsgeschichte verständlich. Deshalb muss die hier kurz angedeutet werden.
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Bodo Fiebig „Die Revolution“ Version 2018-8
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