Er hatte es nicht leicht, ja, eigentlich konnte er einem richtig leid tun. An der Pädagogischen Hochschule in Bayreuth kannte ihn jeder. Er war jung, nicht sehr groß, schlank und sportlich. Er konnte unterhaltsam und lustig sein und war im persönlichen Gespräch ein wirklich sympathischer Mensch. Aber – er hatte ein Problem.
Es waren die Semester in den Jahren 1968/1969, das heißt, es war „Revolutions-Zeit”. Der Schah von Persien hatte (im Juni 1967) die Bundesrepublik Deutschland besucht und war in Berlin von wütendem Protest empfangen worden. Der Student Benno Ohnesorg war von einer Polizeikugel getroffen worden und gestorben (erst lange nach dem Ende der DDR stellte sich heraus, dass der Todesschütze geheimer DDR-Agent war, der sich in die Westberliner Polizei eingeschlichen hatte). Im Hintergrund, weit weg und doch stets präsent, tobte der Vietnam-Krieg. Die Wogen gingen hoch in Deutschland; noch höher gingen sie an den deutschen Hochschulen. Vorlesungen wurden gesprengt und „umfunktioniert”; es gab jede Menge „Demos” und „Sit-ins”. Die Zeitungen und Nachrichtensendungen hatten ein Hauptthema: Die „Revolution”. Die „Kommune 1” und ihre Mitglieder, allen voran die hübsche und freizügige Uschi Obermaier, dazu Rudi Dutschke, einer der Anführer der „Revolution” und Ulrike Meinhof, die wortgewandte Kolumnistin der linken Zeitschrift „konkret” (und spätere Terroristin der Bader-Meinhof-Gruppe), waren in den Medien präsenter als alle anderen Personen und Ereignisse zusammengenommen
Nur in Bayreuth wollte es nicht so recht vorangehen mit der revolutionären Entwicklung. Bayreuth war eine relativ kleine Stadt im Norden Bayerns, weit weg von den Zentren der Macht und der Gelehrsamkeit. Damals hatte sie noch keine Universität; ihre Pädagogische Hochschule war noch der Uni von Erlangen angegliedert. Die paar Hundert Studenten kamen zum großen Teil aus der näheren und weiteren Umgebung der Stadt und waren in ihrem „revolutionären Bewusstsein” noch nicht so recht in Gang gekommen. So sah man unseren jungen Nachwuchs-Revolutionär durch die Gänge und Hörsäle irren, die kleine rote Mao-Bibel in der Hand, im verzweifelten Versuch, den etwas zu bodenständigen Studenten und Studentinnen eine revolutionäre Gesinnung einzuhauchen und sie zu revolutionären „Aktionen” zu bewegen. Die Erfolge seines Bemühens waren eher bescheiden.
In Bayreuth gab es damals eine evangelische Studentengemeinde, die stand in dem Ruf „fromm” zu sein, was damals eigentlich ein übler Verruf war. Auch ihr Studentenpfarrer galt als „fromm” und das war so ziemlich das Schlimmste und Abfälligste, was man damals über einen evangelischen Theologen, der an einer Hochschule arbeitete und Vorlesungen hielt, sagen konnte.
Zu dieser Zeit gab es turnusmäßig eine Delegierten-Versammlung aller evangelischen Studentengemeinden in Deutschland (West), die irgendwo in der Nähe von Frankfurt stattfand. Die Studentengemeinde Bayreuth durfte zwei Delegierte entsenden. Ich war einer von ihnen. Wie naiv ich war, kann man daran erkennen, dass ich am ersten Tag einen der Mitdelegierten fragte, was denn eigentlich das Wort „Emmel” bedeutete; ständig war von „Emmel” die Rede und ich wusste nicht was „Emmel” war. Er erklärte mir sehr von oben herab und mit deutlicher Missbilligung in der Stimme, dass sei die Abkürzung M-L und bedeute „Marxismus-Leninismus”.
Natürlich waren bei dieser Delegierten-Versammlung die „revolutionären” Ereignisse in Berlin und den anderen großen Universitätsstädten Hauptthema aller Gespräche. Trotzdem versuchte die Versammlungsleitung den vorgesehenen Themenkatalog abzuarbeiten. So erging man sich in manchmal etwas abstrusen Auseinandersetzungen über verschiedene ultra-moderne Gemeindemodelle und deren politische Konsequenzen bzw. in hitzigen Geschäftsordnungsdebatten, als einige Gruppen versuchten, die Versammlung revolutionär „umzufunktionieren”.
In einer der Arbeitsgruppen, bei denen ich mitzuarbeiten versuchte, verkündigte einer der Delegierten stolz, dass er die Bibel jetzt nicht mehr brauche, weil ihm die Schriften von Herbert Marcuse alle wichtigen Einsichten vermittelten. Auf meine Frage, warum er dann in einer christlichen Studentengemeinde sei, antwortete er mit einem Wortschwall, der mir zu erklären versuchte, wie wichtig es sei, gerade in kirchlichen Kreisen die „richtige” (und das hieß damals eine revolutionär linke) Gesinnung zu initiieren. Ein anderer Delegierter bestand erregt darauf, dass alles, was in einer Gemeinde geschehe (ob es ein Gottesdienst sei oder eine Andacht, eine Taufe oder eine Beerdigung, eine Gesprächsrunde oder sonst etwas) in jedem Fall „politisch” zu sein habe. Außerdem habe ja grundsätzlich und ausnahmslos alles, was man sage oder tue „politisch” zu sein. Ich fragte ihn, ob er immer dann, wenn er seiner Freundin einen Kuss gebe, er das nur aus politischen Gründen tue. Er stutzte einen Moment, fing sich aber schnell und insistierte tapfer, dass selbstverständlich auch ein Kuss eine politische „Aktion” zu sein habe. So arbeiteten wir zwei Tage lang an unserem revolutionären Bewusstsein im Selbstverständnis einer evangelischen Studentengemeinde.
Am dritten Tage geschah es: Wir redeten im Plenum über ein ziemlich belangloses Thema, als plötzlich Unruhe entstand. Zunächst wussten man nicht, was los war, dann ging es blitzschnell von Mund zu Mund: Einer von den „Kämpfern” aus Berlin war angekommen. Die Erregung im Saal stieg explosionsartig. Dann stand er auch schon am Mikrofon: Groß, schlank, intellektuell und evangelischer Theologe, revolutionär in der Ausdrucksweise und glühend vor Begeisterung. Mit großen Gesten und sich vor Erregung überschlagender Stimme schrie er uns, die er pauschal und ungefragt „Genossinnen und Genossen” nannte, an: „Ihr sitzt hier herum und redet dummes Zeug! Dort in Berlin, da wird gekämpft, da wird gekämpft!!” Er schrie noch mehr ins Mikrofon, an das ich mich aber nicht mehr erinnere. Vielleicht, weil er sehr viele Redewendungen verwendete, die damals fast so etwas wie eine „Geheimsprache der ML-Studetenrevolte” darstellten und ich, als ein in diese Geheimsprache nicht Eingeweihter, vieles nicht verstand. Nun war aber unser Programm ohnehin schon fast am Ende angekommen und so löste sich die Versammlung in einem ziemlich chaotischen Durcheinander auf.
So weit meine persönlichen, von den seither vergangenen Jahrzehnten schon sehr ausgedünnten Erinnerungen an meine Erfahrungen mit der 68er „Revolution”. Erst später wurde für mich erkennbar, dass hier nicht eine „Revolution” im Sinne eines politischen Umsturzes stattgefunden hatte, sondern eine Umdeutung und Umgestaltung der geistigen Grundlagen unserer Gesellschaft mit einer erstaunlichen Langzeitwirkung, die bis in unsere Gegenwart reicht (siehe Beitrag 2 „Die Revolution“).
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Bodo Fiebig „Die 68-er Jahre“, Version 2017 – 11
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