Das Drama der (faktischen) Entmenschlichung in Namen einer (theoretischen) Humanität läuft immer im gleichen Schema ab (hier auf die Entwicklung in Europa bezogen; außerhalb Europas, z. B. in China unter Mao kann man aber ähnliche Abläufe feststellen). Man kann dieses Drama (das das schon seit Jahrhunderten abläuft, dann aber vor allem zur Tragödie des 20. Jahrhunderts wurde) in fünf Phasen nachzeichnen:
Erste Phase: Ein tatsächlich menschenunwürdiger Zustand spitzt sich zu und wird zu einer Abwärtsbewegung von Verarmung und Verelendung, die immer mehr Menschen in Not, Verzweiflung und Tod treibt. Beispiele dafür waren
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die Spätformen des absolutistischen Königtums und der Ständegesellschaft in Europa, besonders in Frankreich
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oder die Auswüchse des Frühkapitalismus in vielen Ländern Europas mit der Verarmung und Ausbeutung großer Teile der Bevölkerung
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oder die Entrechtung und Unterdrückung des „Proletariats” von Kleinbürgern und Bauern durch eine adelige und besitzende Minderheit, besonders im zaristischen Russland
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oder die Verarmung der Unter- und Mittelschicht und die politische Desorientierung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg.
Zweite Phase: Die Not und Verzweiflung treibt Menschen zu Handlungen, der darauf abzielen, die Ursachen dieser Not zu beseitigen. In dieser Phase sind vor allem Menschen aktiv, die aus ehrlichem Bemühen handeln, um einer schlimmen Not zu wehren. Beispiele: Die ursprüngliche Motivation der „Französischen Revolution” (die ihren politischen Ausdruck in der Nationalversammlung von 1789 fand mit ihrer Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit), ebenso wie die der „Russischen Revolution” von 1905-7 (durch die gemäßigteren Kräfte der Menschewiki und später die Februarrevolution 1917), ebenso wie die Entstehung und Entwicklung der „Weimarer Republik” in Deutschland ab 1918 als Antwort auf das Versagen der alten Machteliten des Kaiserreichs.
Dritte Phase: Hier vollzieht sich die Überrumpelung und Vereinnahmung der ursprünglich auf die Abwehr einer konkreten Not zielenden Bewegung durch eine radikale, auf eine extreme Ideologie fixierte Minderheit. Für die steht nicht die Überwindung einer konkreten Notsituation im Vordergrund, sondern die Durchsetzung ihrer ideologischen Ziele und der persönlichen Machtinteressen ihrer „Führer”. Die Ideologie einer abstrakten „Humanität” tritt nun an die Stelle der konkreten Menschlichkeit. Am deutlichsten wird das an der Französischen Revolution. In deren Anfangsphase 1789 gab es wirklich die große Chance, ein „Mehr” an Menschlichkeit zu verwirklichen, aber ihre Ideale wurden, je länger die Revolution andauerte, um so schändlicher missbraucht.
Die großen Werte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden auch heute immer noch von den linken Ideologen für sich vereinnahmt, als ob die sie erfunden hätten; in Wahrheit waren sie die Ersten, die sie mit Füßen getreten und in eine Ideologie des Todes verwandelt haben. Ihre Wahrzeichen waren nicht Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern die Guillotine! Die Weltsicht der Ideologien ist immer an Feindbildern orientiert und sie zielen in letzter Konsequenz immer auf die Vernichtung aller Menschen, die nicht selbst Mittäter oder Mitläufer bei der Verwirklichung ihrer Ideen sind oder die gar Widerstand leisten.
Beispiele dafür sind die Jakobiner und der Nationalkonvent von 1793 in der Französischen Revolution oder die Oktoberrevolution der radikalen Bolschewiken 1917 in Russland oder die „Machtergreifung” der Nationalsozialisten in Deutschland 1933; oder an Personen festgemacht: Robespierre und Saint-Just, Lenin und Stalin, Hitler und Himmler. In dieser Phase wird die Revolution zur Gewalt- und Schreckensherrschaft, die unzähligen Menschen das Leben kostet. Und dies, obwohl immer noch viele Einzelne auf verschiedenen Ebenen des Systems in gläubiger Verblendung meinen, im Rahmen dieses Systems dem ursprünglichen humanen Ziel zu dienen und die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen. Deshalb sind in dieser Phase auch viele bereit, für die Durchsetzung ihrer Ideale selbst furchtbarste Verbrechen zu begehen.
Diese Phase kann kurz sein (Französische Revolution) oder auch Jahre (Nazi-Revolution) oder Jahrzehnte (Russische Revolution) andauern, ehe die Revolution, geistig ausgehöhlt und materiell korrumpiert, in sich zusammenfällt.
Vierte Phase: Nach dem Zusammenbruch der Gewaltherrschaft zeigt sich, dass zwar das „Revolutionäre System” zusammengebrochen war, nicht aber die „Revolutionäre Idee”. Die lebt in zwei Formen weiter: Einmal gibt es da die ehemaligen Teilhaber der Machteliten, die ihrer ehemaligen Macht nachtrauern, die entweder „untertauchen” oder sich geschmeidig „wandeln” und anpassen, die aber im wesentlichen nur die Wiederherstellung ihrer ehemaligen Machtpositionen im Sinn haben. Zum zweiten gibt es da die große Menge der „Immer-noch-Überzeugten”, die der Meinung sind, nur die Art der Durchführung der revolutionären Idee sei fragwürdig gewesen, nicht aber die Idee selbst. Sie verwechseln immer noch das ursprüngliche, berechtigte und hilfreiche Bestreben, eine schlimme und unhaltbare Situation zu verbessern mit der Verwirklichung ihrer Ideologie. Diese Phase ist gekennzeichnet durch den Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen im Rahmen einer offenen demokratischen Gesellschaft, die jeder politischen Idee gleiche Chancen gewährt, wobei die Medien und die Medien-Macher eine entscheidende (und leider oft die Ideologen unterstützende) Rolle spielen. Die sogenannte „68er Revolution” war so ein Versuch, eine schon gescheiterte Ideologie (in diesem Falle den Marxismus) gegen die überwältigende Mehrheit eines Volkes durchzusetzen. Dieser (meist unauffällig geführte) Kampf kann sich immer wieder auch gewaltsam äußern (z. B. in den Aktionen der RAF oder der Neonazis in Deutschland).
Fünfte Phase: In der fünften Phase tun sich die Ideologen und die ehemaligen Machteliten der zusammengebrochenen Gewaltsysteme zusammen. Sie versuchen gemeinsam die Offenheit der demokratischen Verfassungen der Länder auszunutzen, um ihre Ziele, mit denen sie, als sie selbst die Macht hatten, auf furchtbare Weise gescheitert waren, dennoch zu erreichen (z. B. in Deutschland die ehemaligen Nazis bzw. die ehemaligen SED-Größen oder in Osteuropa die ehemaligen kommunistischen Partei-Eliten). Sie beginnen „den langen Marsch durch die Institutionen” (Der Begriff stammt aus der chinesischen Revolution, die mit dem „Langen Marsch” der Anhänger Maos begann.) In Deutschland wurde in der Folge der sogenannten „68er Revolution” dieser „lange Marsch” (in diesem Falle der „linken” Ideen) ausdrücklich als politisches Programm proklamiert, nämlich zu der Zeit, als die „Revolutionäre” merkten, dass ihr Programm bei den sogenannten „Massen” keine Unterstützung fand und deshalb ein gewaltsamer Umsturz nicht möglich war.
Unauffällig, aber beharrlich boxen sie sich seitdem linke und rechte „Seilschaften“ ebenso wie Netzwerke der Wirtschafts- und Finanzeliten durch die Hierarchien, helfen sich gegenseitig beim Aufstieg auf der Karriereleiter, nutzen die Entscheidungsspielräume ihrer Positionen aus, um mit scheinlegalen Mitteln ihre Ziele zu verfolgen. Sie sind zuerst an Wahlen und Wahlerfolgen wenig interessiert (dieser Teil der Strategie folgt erst in einer späteren Phase). Sie wissen, wie schwer es ist, mit offen antidemokratischen Inhalten demokratische Wahlen zu gewinnen. Viel wichtiger ist es für sie, vor allem bei den Medien und in der Rechtsprechung Schlüsselpositionen zu besetzen. „Mögen doch die demokratisch gewählten Parteien Gesetze beschließen, wir haben genug Juristen in verantwortlichen Positionen, die legen sie so aus, wie es für unsere Zwecke passt und irgendwann folgen dann die Gesetze unserer Auslegung (und nicht unsere Auslegung den Gesetzen, wie es eigentlich sein sollte), vor allem dann, wenn wir genügend Meinungsmacher und Entscheidungsträger bei den Medien auf unserer Seite haben.”
So haben wir in Deutschland und anderen Ländern Europas drei „halböffentliche Untergrundbewegungen”: Erstens eine „linke” (die Neo-Kommunisten, die sich – noch – aufgeklärt und gemäßigt geben, aber in Wirklichkeit keine andere gesellschaftliche „Vision” haben als den alten Marxismus-Leninismus – vielleicht vorerst mit ein bisschen weniger stalinscher Ausrottungspolitik), zweitens eine „rechte” (die Neo-Nationalisten, die darauf hinarbeiten, den immer noch vorhandenen Bodensatz von rassistischer Einstellung und heimlicher Hitler-Bewunderung für ihre Ziele zu reaktivieren). Beide lauern auf ihre Chance, den freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat auszuhebeln und ihre eigene Ideologie (und damit sich selbst) wieder an die Macht zu bringen. Und das, während gleichzeitig die dritte Ideologie, (der hemmungslose Liberalismus und Raubtier-Kapitalismus) mit ihren weltweit vernetzten Wirtschafts- und Finanzeliten weltweit ihre tödlichen Triumphe feiert.
In dieser fünften Phase befinden wir uns in Europa jetzt. Auf diese Weise wurden in den vergangenen Jahren viele (ursprünglich extremistische, unterdessen ganz „normal” erscheinende) Entwicklungen vorangetrieben, die bei demokratischen Wahlen nie eine Mehrheit bekommen hätten. Vor allem bei der Zerstörung von Ehe und Familie als tragende Fundamente der Gesellschaft haben diese „Seilschaften” große Erfolge zu verzeichnen.
Möglich wurden und werden solche „Erfolge” unter anderem durch das mangelnde Selbstbewusstsein und Gottvertrauen, durch die mangelnde Einsatzbereitschaft und Zusammenarbeit von Christen, die es zuließen und zulassen, dass die Ideologen (ungeachtet aller Gräueltaten, die im Namen ihrer Ideologie begangen wurden) mit Fingern auf die Christen zeigen und sagen: „Seht, das sind die ewig Vorgestrigen, die die ganze Menschheit mit den überkommenen Lasten und Hemmnissen durch angeblich göttliche Gebote und Verbote unterdrücken wollen: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht verleumden, du sollst nicht haben wollen, was einem anderen gehört, welch ein Quatsch! Folgt uns nach, denn wir sind die Vertreter einer neuen, aufgeklärten, modernen, fortschrittlichen Weltanschauung. Wir sind die Guten, die sich vorgenommen haben, für die ganze Menschheit endlich die Befreiung von der Knechtung durch angeblich göttliche Gebote und Verbote zu erkämpfen. Wir sind die Vorkämpfer einer besseren Welt.”
Es ist manchmal wirklich verblüffend, mit welcher Selbstüberzeugtheit und Arroganz Vertreter längst gescheiterter Ideologien sich selbst als „Befreier und Wohltäter der Menschheit” aufspielen und ihre Vorhaben als richtige und notwendige Kurskorrektur auf dem Weg in eine bessere und menschlichere Zukunft verkaufen und mit welcher Selbstverständlichkeit sie erwarten, dass zumindest alle klugen und vernünftigen Menschen ihnen folgen werden. Und tatsächlich: Viele kluge und vernünftige Leute sind den atheistischen Ideologen gefolgt (und folgen ihnen immer noch), weil man ihnen geschickt einredet, nur so könnten sie beweisen, dass sie wirklich klug und vernünftig sind. Und wer möchte nicht als klug und vernünftig gelten und an der Seite derer stehen, die eine bessere und menschlichere Zukunft heraufführen? Da noch an das vergangene Scheitern zu erinnern und an die Millionen Menschen-Opfer, die diesem Scheitern vorausgingen, gilt geradezu als unanständig. So fest haben die Ideologen die Rolle der guten und fortschrittlichen Menschheitsbeglücker für sich vereinnahmt, dass es manchem intellektuell anspruchsvollen Menschen (trotz aller propagierten Meinungsfreiheit) einige Überwindung abverlangt, sich öffentlich anders zu positionieren.
Die Revolution und ihre Kinder haben die Geschichte Europas und der Welt in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend mitgeprägt. Aber: Die (anfangs) das Gute wollten, brachten (am Ende) unendlich viel Böses hervor. Die Geschichte der atheistisch-ideologisch begründeten Diktaturen des 20. Jahrhunderts ist das blutigste, tödlichste und von seiner bedenkenlosen Grausamkeit her erschütterndste Kapitel der ganzen Menschheitsgeschichte. Trotzdem sind die Ideologen immer noch überzeugt: „Wir sind die Guten und nur wir können euch in eine bessere Zukunft führen“. Verhärtete Ideologen lassen sich selbst durch offensichtlichste Realitäten nicht von ihren einmal eingespurten Denkmustern abbringen. Aber: Sollten wir ihnen wirklich weiter folgen oder gibt es Alternativen, die uns zeigen, wie das „alte Denken”, das von der biblischen Verkündigung herkommt, zur Grundlage für sehr moderne und zukunftsweisende Lebens- und Gemeinschaftsformen in einer globalisierten Welt werden kann (siehe die Themen und Beiträge im Bereich „mitmachen“)? Solche Alternativen zu suchen und in die realen Beziehungen unserer Welt einzubringen, ist eine der wichtigsten und erfolgversprechendsten Herausforderungen unserer Gegenwart.
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Bodo Fiebig „Das Drama der Revolutionen“ – Version 2018-8
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