Die Entwicklung des kollektiven Verhaltens bis zur Herausbildung von Werteordnungen und religiösen Deutungssystemen wurde im vorangegangenen Beitrag „Evolution des Sozialverhaltens?“ kurz dargestellt. Soweit könnte man die Entwicklung des sozialen Verhaltens im Sinne einer „Selbstorganisation im Rahmen der durch Evolution erworbenen biologischen Fähigkeiten des Menschen“ verstehen. Die Kräfte, die eine Fülle von sozialen Verhaltensweisen und Steuerungsmechanismen hervorbrachten, wären dann allerdings gegenüber der biologischen Evolution etwas verändert: Nicht mehr zufällige Mutationen der genetischen Ausstattung des Menschen bestimmten die Variationsbreite der Verhaltensmöglichkeiten, sondern gemeinsame Erfahrung, soziales Lernen, Kommunikation der Ideen und Ziele, überlegte Planung und bewusste Entscheidung … ; aber auch tastende Versuche religiöser Weltdeutung und das Bemühen, sich mit dem Übermächtigen zu arrangieren.
Die Auswahl der Verhaltensweisen, die dann beibehalten und verstärkt wurden, geschah allerdings auf ähnliche Weise wie bei der biologischen Evolution: Die (für das Leben und Überleben der eigenen Gruppe) erfolgreichen Strategien wurden übernommen, die weniger erfolgreichen ausgeschieden. So entstanden ganze Systeme von Verhaltensmustern, von ungeschriebenen Vorgaben und Tabus, später auch von schriftlich fixierten Regeln und Gesetzen, auch von religiösen Vorstellungen und Zeremonien, die das Zusammenleben der Menschen bestimmten.
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1 Ein unaufhebbarer Widerspruch
Eines ist dabei aber unbestreitbar: Eine solche evolutions-ähnliche Entwicklung des Sozialverhaltens könnte auch in vielen Jahrtausenden nur Verhaltensweisen hervorbringen, die vom individuellen bzw. kollektiven Vorteil motiviert sind. Was bei der biologischen Evolution der „Kampf ums Dasein“ bewirken soll, würde hier durch einen „Kampf um Sozialstatus, Ansehen, Einfluss und Macht“ hervorgerufen. Es ginge bei allem und immer um den individuellen und kollektiven Nutzen und Vorteil. Dabei wäre es aber völlig unmöglich, dass auf diese Weise ein Sozialverhalten entstehen könnte, das von menschlicher Zuwendung ohne Eigennutz geprägt wäre.
Evolution meint immer die Durchsetzung der Stärkeren, Anpassungsfähigeren auf Kosten der Schwächeren, gesteuert vom Selbsterhaltungstrieb, grundsätzlich mitleidlos. Evolution kennt als entscheidende Antriebe für die Entwicklung des Lebens, ebenso wie des Menschseins den „Kampf ums Dasein“ bzw. den „Kampf um die besten Plätze im Sozialsystem“: überleben, sich fortpflanzen und Macht erobern auf Kosten der „Lebensuntüchtigeren“, auf Kosten der im Kampf um Nahrung, Besitz, Sexualpartner, Lebensraum und Sozialstatus unterlegenen.
Der (nach Darwin entstandene) „Darwinismus“ proklamiert ja gerade das Recht des Stärkeren, auf Kosten des Schwächeren zu leben. Nur wer siegt im „Kampf ums Dasein“ hat die Chance, weiterzuleben und seine Gene zu vererben. Und der „Sozialdarwinismus“ überträgt dieses Prinzip auf das Miteinander der Menschen, der Völker, der Rassen und Klassen. So entsteht eine Raubtier-Ethik, die für gut und recht erklärt, was sie in der Natur vorzufinden meint: Fortschritt und Weiterentwicklung gibt es nur dadurch, dass der Starke den Schwachen frisst. So wird das Starke noch stärker und entwickelt sich zu höheren Lebensformen, während das Schwache, das in dieser Sichtweise zugleich auch das „Lebensunwerte“ ist, aus dem „Spiel des Lebens“ ausscheidet. In dieser „Weltanschauung“ sind Mitleid, Rücksicht, Hilfsbereitschaft oder Ehrlichkeit (vor allem dann, wenn sie zum eigenen Nachteil wären) nichts als Dummheit, ja mehr noch, sie sind Fehlhaltungen, die nur den notwendigen Prozess der Anpassung und Weiterentwicklung behindern.
„Menschlichkeit“ (oder gar „Mitmenschlichkeit“), die diesen Namen verdient, meint aber immer die Zurückhaltung egoistischer Antriebe um der Lebenschancen eines andern willen. Ethisches Verhalten im Sinne moderner Sozialordnungen bedeutet ja gerade nicht, dass ein Starker, Gesunder einen Schwachen, Kranken umbringt, um seinen Besitz, seinen Sexualpartner, sein Land… an sich zu reißen, sondern dass ein Starker sich eines Schwachen annimmt, um ihn zu helfen, dass die Gesellschaft der Gesunden ihre Kranken aufnimmt, um sie zu pflegen. Der „Kampf ums Dasein“ bzw. „der Kampf um die besten Plätze im Sozialsystem“ einerseits und selbstlose Mitmenschlichkeit andererseits sind grundsätzlich ein Widerspruch.
Nun sind aber, man mag das gut heißen oder nicht, im Laufe der Menschheitsgeschichte solche nicht-egoistischen Verhaltensweisen entstanden und über Jahrhunderte hinweg geübt und beibehalten worden: Pflege von Angehörigen, die auf Grund von Alter oder Behinderung nichts mehr zum Erhalt der Sippe beitragen können, Hilfe für Bedürftige, die nicht zur eigenen Familie oder Sippe gehören, Gastfreundschaft gegenüber einem Fremden, der womöglich auch mein Feind sein könnte… Solche Verhaltensweisen sind aus einem evolutionistischen Ansatz her nicht zu erklären, ja sie widersprechen ihm elementar, und trotzdem gibt es sie, ja es gibt sie nicht nur, sondern es ist unbestreitbar, dass erst auf solcher „Mit-Menschlichkeit“ ein wirklich menschenwürdiges Miteinander aufgebaut werden kann. Unsere ganze Zivilisation lebt davon, dass das Leben, die Sicherheit und das Recht der Schwachen geschützt sind, dass Alte, Kranke und Behinderte, die keinen gesellschaftlichen „Nutzen“ mehr erbringen können, nicht ausgegrenzt oder gar getötet werden, dass Fremde nicht als „Feinde“ angesehen werden, sondern als Mitmenschen mit gleicher Würde und gleichen Lebens-Rechten. Die Gesetze der Evolution würden aber genau das Gegenteil verlangen, denn eine Gemeinschaft, die sich der Unbequemen und Hinderlichen entledigt und „die Anderen“ ausschließt und als „Feinde“ bekämpft, hätte einen eindeutigen Selektionsvorteil.
Wenn es also wahr wäre, dass ausschließlich die Kräfte der Evolution alles Leben und auch die Sozialformen der Gemeinschaft bestimmen, dann hätte es durch die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte hindurch bis auf den heutigen Tag so etwas wie Rücksichtnahme, Mitleid, Hilfsbereitschaft, Barmherzigkeit, ja Opferbereitschaft über die Grenzen der eigenen Familie oder Sippe hinaus, nie geben können. Denn wer Rücksicht nimmt auf die Schwäche eines andern, versäumt es, einen Konkurrenten loszuwerden. Wer Mitleid empfindet mit einem Leidenden, wird möglicherweise jemanden am Leben erhalten, der ihm morgen als Feind gegenübertreten könnte. Wer seine Zeit, seinen Besitz, ja manchmal sogar sein Leben einsetzt, um für andere, die in Not sind, da zu sein, ihnen nahe zu sein und beizustehen, sie zu trösten und aufzurichten, auch wenn er als Helfender selbst gar nichts davon hat, würde freiwillig einen „Selektionsvorteil“ aufgeben und müsste damit rechnen, bald selbst auf der Verliererseite im Kampf um Dasein und Sozialstatus zu stehen.
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2 Kampf oder Vereinigung?
Die Evolutionstheorie gilt heute als wissenschaftlich erwiesene Tatsache: Mutation und Selektion (mit Recombination und Gendrift) haben in riesigen Zeiträumen die ganze Vielfalt des Lebens hervorgebracht. Das mag sehr überzeugend klingen, aber ist es wirklich die ganze Wahrheit oder beschreibt es bestenfalls einen Teilaspekt in der Entwicklung des Lebens?
Nicht nur die Sozialformen menschlicher Gemeinschaft widersprechen diesem Verständnis der Evolutionslehre. Auch in der Biologie von Menschen, Tieren und Pflanzen gibt es viele Vorgänge, die eben nicht darauf gerichtet sind, dass ein Leben das andere frisst, sondern wo in fein abgestimmten symbiotischen Lebensgemeinschaften das eine Leben für das andere da ist, und eines ohne das andere nicht existieren kann. Und solche Symbiosen sind nicht etwa seltene Ausnahmeerscheinungen in der Natur. Zum Beispiel könnte kein Mensch leben, wenn nicht bestimmte Darmbakterien, die genetisch nicht zu ihm gehören, seine Verdauung in Gang halten würden. Und diese Bakterien sind nicht darauf programmiert, ihren Wirt umzubringen, sondern beide Mensch und Bakterium existieren zum beiderseitigen Vorteil. Viele Bäume könnten viele lebensnotwendigen Nährstoffe nicht aus dem Boden aufnehmen, wenn nicht bestimmte Pilzarten, die sich an seinen Wurzelfasern aufhalten, die Nähstoffe herauslösen würden. Dafür werden die Pilzgeflechte vom Baum mit Kohlehydraten versorgt, sodass beide Partner von ihrem Miteinander profitieren. Und solche symbiotischen Beziehungen zwischen völlig verschiedenen Lebewesen gibt es in unglaublicher Vielfalt in allen Lebensbereichen und Lebensformen.
Sogar bei der Entstehung des Lebens haben sie möglicherweise eine entscheidende Rolle gespielt. Die Theorie der Evolution durch „Symbiogenese“ geht davon aus, dass die Vielfalt und Komplexität des Lebens nicht in erster Linie zufälligen Mutationen zu verdanken ist, sondern symbiotischen Gemeinschaften verschiedener einfacher Zelltypen, die sich schließlich zu neuen, komplexeren Zelltypen vereinigten. Nicht nur zufällige Mutationen und der Kampf ums Dasein sind die Baumeister des Lebens, sondern auch Gemeinschaft und Vereinigung.
Vor allem, wenn wir auf die Gemeinschaft allen Lebens in der Gesamtheit der Biosphäre dieser Erde schauen, merken wir, wie sehr die verschiedensten Lebensvorgänge und Lebensformen aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind, so dass wir von einem „Weltorganismus des Lebens“ sprechen können, in dem jede Lebensform ein wichtiges „Organ“ darstellt, ohne das der Gesamtorganismus der Biosphäre an Lebenskraft verliert. Es gibt auch in der Biologie beides, den Kampf ums Dasein und das Füreinander des Lebens.
Mutation und Selektion sind also nicht die einzigen Motoren für die Entwicklung des Lebens. Erst recht sind sie nicht bestimmend für das Verhalten von Menschen in Gemeinschaft. Wenn aber ein zwischenmenschliches Miteinander und Füreinander, also eine Mitmenschlichkeit ohne Eigennutz über alle sozialen, ethnischen und kulturellen Grenzen hinaus unmöglich evolutionär entstehen kann, dann muss die Frage erlaubt sein, woher das kommt, denn offensichtlich gibt es das ja.
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3 Evolution oder Religion?
Wenn man danach fragt, woher im Verhalten zwischen Menschen solche allen Gesetzen der Evolution widersprechenden Haltungen und Handlungen kommen, so finden wir immer die gleiche Antwort: Sie stammen aus einem religiösen Anspruch. Nur eine religiöse Weltdeutung, die das Dasein nicht aus sich selbst erklärt, ist offensichtlich in der Lage, Haltungen und Handlungen zu begründen, die nicht ausschließlich vom individuellen und kollektiven Vorteil motiviert sind. Das ist eine auf den ersten Blick überraschende Erkenntnis: Wahre Menschlichkeit entsteht erst in der Begegnung mit dem Göttlichen (siehe dazu auch das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“, Beitrag „Nur wir? – Die Gemeinschaft des Glaubens“).
Freilich setzt das eine Art von Religiosität voraus, die nicht einfach die kollektiven Egoismen der Gruppe zu göttlichen Geboten erklärt. Der „Kampf ums Dasein“ kann ja auch dann keine uneigennützige Mitmenschlichkeit hervorbringen, wenn er zum religiös begründeten Gesetz erhoben wird. Und umgekehrt könnte der bloße Selbsterhaltungstrieb im Menschen niemals eine Religion hervorbringen, die Selbstlosigkeit, Hingabe und Opferbereitschaft beinhaltet.
Eine Form von „Menschlichkeit“, die grundsätzlich jeden Menschen einschließt, auch den fremden, andersartigen, kann unmöglich „aus sich selbst“ oder aus dem „Kampf uns Dasein“ entstehen. Sie ist nur möglich als Antwort auf die Offenbarung eines übergeordneten Willens, der eine positive Grundeinstellung zu allen Menschen und zur ganzen Schöpfung beinhaltet und die den Menschen „von außen her“ aufgetragen wird. Die Tatsache, dass es in Völkern und Kulturen mit einer religiösen Weltdeutung am ehesten so etwas wie Zuwendung ohne eigenen Nutzen, wie Nächstenliebe, ja Feindesliebe gibt, beweist jedenfalls, dass die Kräfte der Evolution eben doch nicht die einzigen sind, die unser Verhalten bestimmen. Und das Menschsein wäre ohne alle Menschlichkeit, wenn der Kampf ums Dasein wirklich der einzige Antrieb des Lebens wäre.
Nun können wir aber auch ganz nüchtern als historische Tatsache feststellen, dass sich nicht jede Art von Religiosität in gleicher Weise „humanisierend“ ausgewirkt hat. Wir sehen bei unvoreingenommener Betrachtung: Die großen Werke der Mitmenschlichkeit (Betreuung und Pflege, Hilfe und Unterstützung für Witwen, Waisen, Alte, Kranke, Behinderte, Arme und in irgendeiner Weise Benachteiligte über den Kreis der nahen Verwandtschaft hinaus, entstanden alle in Kulturkreisen, die von einem jüdisch-christlichen Weltverständnis und Menschenbild geprägt waren (wobei gar nicht bestritten werden soll, dass es in der Geschichte der Christenheit auch „Entgleisungen“ gab, die genau diesem Anspruch widersprachen). Gewiss haben auch andere religiöse Vorstellungen wesentliche Anstöße zu mehr Mit-Menschlichkeit gegeben, aber die bedeutendsten sozialen Errungenschaften der Menschheit, z. B. die sozialen Hilfsangebote und Sicherungssysteme bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Armut, Behinderung … für alle, nicht nur für die, die „zu uns“ gehören, entstanden tatsächlich im Bereich biblisch geprägter Kulturen. Heute sind sie in den meisten (auch atheistisch oder anders religiös geprägten) Ländern zur Selbstverständlichkeit geworden.
Ist es wirklich Zufall, dass diese Art von Mitmenschlichkeit im Lebensraum einer Religion entstanden ist, an deren Ursprung eine Verheißung steht, die alle Menschen einbezieht (1.Mose 12: „Durch dich sollen gesegnet werden alle Völker und Generationen der Menschheit auf Erden“), und in deren Mittelpunkt ein Mensch steht, in dem das Göttliche so gegenwärtig war, dass sein Leben zur anschaubaren Vergegenwärtigung Gottes wurde (Jo 12,45: „Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat“), ja, dass in seinem Sterben das Gott-Sein Gottes (die Liebe) sich selbst an das Menschsein hingegeben hat, um allen Menschen nahe zu sein und allen zur Erfüllung des Lebens zu helfen (siehe das Thema „sein und sollen“)? Die Vorstellung, eine solche Religion könnte sich auf dem Wege einer Art „spirituellen Evolution“ von einfachen Naturreligionen bis zum Monotheismus selbst entwickelt haben, ist absurd. Eine Selbstentwicklung aus dem Antrieb der Selbsterhaltung hätte nur „Religionen, bzw. Pseudoreligionen“ hervorbringen können (und hat sie auch hervorgebracht, siehe unten Beitrag 5 „Die das Gute wollten“), die einen immer perfekteren Egoismus zum Inhalt haben.
Auch wenn es die „Neuen Atheisten“ gar nicht gern hören: Die Realitäten dieser Welt belegen eindeutig, dass es vor allem in Kulturen, die vom biblischen Glauben her geprägt sind, zur Ausformung einer Menschlichkeit gekommen ist, die grundsätzlich alle Menschen meint, und die auch die „Neuen Atheisten“ nicht gern missen würden, wenn sie selbst einmal krank, alt oder behindert werden sollten.
Aber kann nicht auch eine religionsfreie Form von „Menschlichkeit“ herausgebildet werden, die alle Menschen im Blick hat und die das Gute in allen Menschen fördert? Theoretisch ja, und das ist ja auch in den vergangenen zwei bis drei Jahrhunderten weltweit versucht worden. Im Blick auf die Ereignisse und Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit müsste sich also erweisen, wie sich solche Versuche ausgewirkt haben. Im nächsten Beitrag „Die das Gute wollten“ wird im Überblick dargestellt, wie sich eine „atheistische Ethik“ im realen Versuch im Miteinander der Völker, Rassen, Klassen und Kulturen tatsächlich entwickelt und ausgewirkt haben.
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Evolution der Menschlichkeit – Version 2018-8
© 2018 Bodo Fiebig
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