Was ist typisch „menschlich“? Was macht den Menschen zum Menschen? Seine überlegene Intelligenz? Seine sprachlichen Fähigkeiten? Seine technischen Errungenschaften? Seine sozialen Organisationsformen? Das alles gehört auch dazu; das Entscheidende ist es aber nicht, denn all das kann offenbar auch für extrem menschenunwürdige Ziele und Vorgehensweisen eingesetzt werden: Zu bestimmten Zeiten in bestimmten Gruppen und Völkern haben Menschen ihre ganze Intelligenz, alle ihre Fähigkeiten und Begabungen, ihr Wissen, ihre Fantasie, die Macht ihrer Sozialsysteme… dazu verwendet, um damit Vorhaben durchzusetzen und auszuführen, die man im Nachhinein „unmenschlich“ oder „bestialisch“ nennt, obwohl man damit auch der reißendsten Bestie großes Unrecht antut. Kein Raubtier wäre zu Handlungsweisen fähig, wie sie z. B. in den Vernichtungslagern der Nazis in Deutschland, in den „Arbeitslagern“ des Stalinismus in der Sowjetunion oder in den „Umerziehungslagern“ im maoistischen China millionenfach angewendet wurden und die Millionen Menschen das Leben kosteten (oder die man heute z. B. in Rekrutierungslagern für Kindersoldaten oder in den Terrorcamps und Folterkellern der Gegenwart plant und durchführt).
Der Mensch wird zum Ungeheuer, wenn er die Instinkte aus dem „Kampf ums Dasein“ mit den Möglichkeiten seines wissenschaftlich-technischen „Know-how“ verbindet und wenn er dabei die natürlichen Tötungs-Hemmungen ersetzt durch Vorstellungen von eigener Überlegenheit und fremder Minderwertigkeit. Wir nennen solche Handlungsweisen gern „unmenschlich“, aber wer könnte uns denn sagen, welches Verhalten „menschlich“, also dem Menschsein angemessen wäre, wer hat einen Maßstab, mit dem sich „Menschlichkeit“ messen ließe? Oder sind etwa doch Gewalt, Mord und Krieg typisch „menschliche“ Verhaltensweisen?
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1 Die normative ethische Kraft positiver Erfahrungen
Woher sollte denn eine „Ethik der Mitmenschlichkeit“ kommen, die alle Menschen und alles Leben einschließt, woher sollte sie ihre Maßstäbe nehmen? Nennt nicht der Eine gut, was der andere als böse empfindet? Misst nicht jeder, was gut oder böse sei am eigenen Vorteil? Wie konnten überhaupt gemeinsame ethische Einstellungen entstehen? (Siehe das Thema „Adam, wer bist du?“ Beitrag 2 „Die ethische Revolution des Lebens“)
Ob es den Atheisten unserer Tage gefällt oder nicht: Die Anstöße für eine Ethik, die über den eigenen (individuellen oder kollektiven) Vorteil und Nutzen hinausweist, kamen alle aus religiösen Impulsen (auch wenn manche davon später von atheistischen Ideologien aufgegriffen und abgewandelt worden sind). Das „Gesetz“ des Atheismus (siehe Beitrag 4 „Evolution oder Menschlichkeit?“), das davon ausgeht, dass alles Leben im „Kampf ums Dasein“ entwickelt und geformt wurde, könnte nur eine „Ethik“ der (individuellen und kollektiven) Selbstbehauptung auf Kosten der jeweils „anderen“ hervorbringen, denn jeder Impuls, einem anderen, Schwächeren, beizustehen, würde ja die eigenen Überlebenschancen mindern.
Aber kann denn Religion Maßstäbe für eine Ethik umfassender Mitmenschlichkeit aus dem Nichts herbeizaubern? Nein, natürlich nicht. Wenn Religion nur menschliche Kulturleistung wäre, bliebe auch sie im Spiegellabyrinth des Egoismus gefangen. Gehen wir also der Frage nach, woher die Grundlagen einer Ethik der Mitmenschlichkeit kommen, denn es gibt sie ja offensichtlich, auch wenn sie nicht überall angewandt wird.
Zwar scheint es auf den ersten Blick so, als ob jene Macht, die alles geschaffen hat, den Kräften der Natur (und die schließen notwendigerweise auch Leid und Tod mit ein) bewusst freien Lauf lässt, in Wahrheit aber ist sie es, die dafür sorgt, dass Menschen inmitten von Leid und Tod leben können und manchmal auch Freude und Glück erfahren (siehe auch das Thema „Die Frage nach dem Leid“).
Gott hebt dabei die Naturgesetze (die er selbst geschaffen hat) normalerweise nicht auf, aber er nutzt die Variationsbreite ihrer Wirkungen und die Spielräume ihres Zusammenwirkens, um den Menschen seine helfende Gegenwart inmitten allen Mühens und Leidens doch erfahrbar zu machen. Zu den Grundtatsachen des Lebens und des Menschseins gehören neben allem Belastenden eben auch Erfahrungen von Bewahrung, Begleitung und Geborgenheit in der Gegenwart einer lebenserhaltenden, lebensfördernden, wohltuenden Kraft. Und es sind eben diese Erfahrungen mit der Gegenwart, Zuwendung und Liebe Gottes, die zu einer Quelle normativer ethischer Kraft werden und zu einer Ethik umfassender Mitmenschlichkeit führen können (siehe dazu auch den Beitrag „Grundfragen des Glaubens“ zum Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“, dort werden die Hintergründe und Zusammenhänge ausführlicher dargestellt).
Trotz der Mühsal, der Natur das Lebensnotwendige abzuringen, machen Menschen auch die Erfahrung der Versorgung mit allem Notwendigen. Sie machen Erfahrungen mit der Natur als nährenden und schützenden Lebensraum trotz aller Gefährdung durch ihre unkontrollierbaren Bedrohungen und Gewalten. Sie machen Erfahrungen von Freude und Zufriedenheit trotz aller Entbehrungen und Gefahren.
Sie machen Erfahrungen von Ordnung und Zuverlässigkeit in der Natur (dass auch nach der finstersten Nacht die Sonne wieder aufgeht, dass nach jedem Winter wieder ein Frühling kommt, dass nach jeder Trockenzeit wieder der lebenspendende Regen fällt …) inmitten einer ständig und unberechenbar sich verändernden Umwelt.
Sie machen Erfahrungen von Erneuerung des Lebens inmitten der Allgegenwart von Vergänglichkeit und Tod. Sie machen Erfahrungen von unerwarteter Bewahrung und Errettung in Situationen mit aktueller und existenzieller Gefährdung.
Menschen machen Erfahrungen von Freude mitten im Schmerz, von Gelingen mitten im Versagen, Erfahrungen von unerwarteter Heilung aus schwerer Krankheit, froh machender Befreiung aus lähmender Angst, Erfahrungen von Hoffnung nach tiefer Verzweiflung, von tragendem Trost in schwerer Trauer.
Sie machen Erfahrungen von Zugehörigkeit, Nähe und Zuwendung in der Gemeinschaft trotz des Selbstbehauptungswillens jedes Einzelnen; aber auch von Geborgenheit und Schutz, wenn alle menschlichen Beziehungen zerbrochen sind. Erfahrung von Angenommensein trotz eigenen Versagens, Erfahrungen von Vergebung trotz schuldhafter Belastung der Beziehungen, von Entlastung und Neuanfang in der Gemeinschaft trotz aller menschlichen Eigenheiten und Schwächen der Beteiligten.
Sie machen Erfahrungen von einer Spur von Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit des Lebens inmitten eines unentwirrbaren Zusammenspiels von scheinbaren Zufälligkeiten.
Der Mensch weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist und er sterben muss. Aber dass er überhaupt Lebenszeit hat und der Tod und der Zerfall ihn eine Zeit lang nicht antasten dürfen, das erfährt er täglich aufs Neue als bewahrendes Wunder. Dass der Mensch eine Zeit lang leben kann und seine Kinder ernähren kann, und eine nächste Generation das Erbe seines Lebens weiterführen kann, das erlebt er als unbegreifliches Geschenk.
Solche ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage aller Religionen. Ja, Gott hat den Menschen schon Gutes getan, hat ihnen schon seine Liebe gezeigt, hat ihnen schon Erfahrungen seiner Nähe und Fürsorge geschenkt, bevor sie noch in der Lage waren, ein religiöses Weltbild zu entwerfen. Ja, ganz gewiss: Gott war schon vom Anfang an lebenserhaltend und fürsorgend am Werk und die Menschen haben das schon in sehr frühen Stadien ihrer Entwicklung auch wahrgenommen.
Und das hat Folgen:
Wenn Menschen über lange Zeit immer wieder die Erfahrung machen, wie eine überlegene Macht eben diese Überlegenheit nicht ausnutzte, um ihnen, den Unterlegenen, zu schaden, sondern sich ihnen liebevoll zuwandte, um in der Not zu helfen, in der Schwäche zu stärken, in der Traurigkeit zu erfreuen … dann stellt das (ohne dass den Beteiligten der Zusammenhang bewusst werden muss) die Menschen vor die Herausforderung, nun selbst gegenüber anderen, die sich jetzt in ähnlichen Notlagen befinden, genau so selbstlos, hilfreich, tröstend und stärkend (mit einem Wort: liebevoll) zu handeln.
Die Erfahrungen der Nähe und Kraft Gottes, die ihnen lebenspendend, helfend, wegweisend und sinngebend entgegenkam, hat zur Folge, dass sich Menschen nun selbst herausgefordert wissen, in der Gemeinschaft des Menschseins ebenso lebenserhaltend, hilfreich, wegbegleitend und sinnstiftend zu wirken. Positive Grundlage aller Religionen der Menschheit sind Erfahrungen mit der Hilfe und Fürsorge Gottes und die jeweils eigene selbstverpflichtende Antwort darauf. Wahre Mitmenschlichkeit ist Nachahmung der Liebe Gottes zu den Menschen.
Nun kann man natürlich einwenden, dass die Menschen mit den Mächten der Natur und der Über-Macht, die sie dahinter vermuten, nicht nur gute Erfahrungen gemacht haben (und auch heute noch machen). Wie sollen sie Dürrekatastrophen und Überschwemmungen, Wirbelstürme und Feuersbrünste, Erdbeben und Tsunamis und deren schrecklichen Folgen mit der Vorstellung von einem guten Gott in Einklang bringen? Wie passt die Allgegenwart von Leid und Tod zur Allmacht der Liebe? Hätte Gott nicht gleich eine vollkommene Schöpfung ohne Krankheit und Schmerzen, Leid und Tod machen können? Auf diese Frage können wir hier nicht näher eingehen (siehe das Thema „Die Frage nach dem Leid“, dort wird sie ausführlicher behandelt). Hier muss der Hinweis genügen, dass die Liebe Gottes uns gerade in den notvollen Situationen unseres Lebens am spürbarsten entgegenkommt, denn sie will uns anleiten, unseren Mitmenschen auch in deren Not beizustehen.
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2 Die Berufung des Menschseins
In allen Gotteserfahrungen der Menschheit spiegelt sich (in vielen Fassetten und Farben) die Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz: Das Menschsein existiert im Gegenüber einer Macht, die ihm (trotz aller Widersprüchlichkeit und Gefährdung des Daseins) im Guten, in hilfreicher Zuwendung und herzlicher Zuneigung (zusammenfassend gesagt: in Liebe) begegnet. Die biblische Offenbarung bestätigt das, führt aber gleichzeitig noch darüber hinaus. Sie zeigt, dass Gott mitten in einer ethisch blinden Schöpfung sich ein Geschöpf erwählt, damit es da eine besondere Berufung empfängt: Es soll zum Ebenbild göttlichen Wesens werden, um sichtbar zu machen, wie Gott ist (und wie die ganze Schöpfung in ihrer Vollendung werden soll). 1.Mose 1, 27: Und Gott schuf das Menschsein sich zum Ebenbild …
Wer die Gemeinschaft des Menschseins sieht, soll etwas vom Wesen Gottes erkennen. Das Wesen Gottes aber ist die Liebe. 1. Joh 4, 16: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“. Das bedeutet: Das Menschsein soll anschaubare und erfahrbare Vergegenwärtigung der Liebe Gottes sein mitten in dieser so schönen und gleichzeitig so leidvollen, bedrohlichen und bedrohten Welt.
Mitten in dieser Welt, mitten in all dem Guten und Bösen, das uns da widerfährt, soll der Mensch ein völlig neues Dasein verwirklichen: eine von der Liebe gestaltete Gemeinschaft. Und damit die Menschen dazu ein Vor-Bild, eine Handlungsanleitung hätten, dazu lässt Gott sie in dieser so schönen und gleichzeitig argen Welt Erfahrungen der Nähe, der Hilfe, der Wegweisung, der Geborgenheit, der Güte, zusammengefasst: Erfahrungen der Liebe machen.
„Wer mich sieht, sieht den Vater“ (Joh 14,9), sagt Jesus. Genauer kann man die Herausforderung des Menschseins (jeden Menschseins!) nicht beschreiben. Wenn man die Menschen anschaut, (ihr Leben, Reden und Handeln, nicht ihr Aussehen!), vor allem, wenn man sieht, wie sie in Gemeinschaft leben und miteinander umgehen und wie sie einander lieben, dann soll man eine Ahnung davon bekommen, wie Gott ist (siehe das Thema „AHaBaH – das Höchste ist lieben“). Und wir erkennen erschrocken, wie weit wir uns im alltäglichen praktischen Leben, Reden und Handeln davon entfernt haben.
In Jesus ist die Berufung des Menschseins in vollgültiger Weise verwirklicht. Die Begegnung mit Jesus, das Anschauen seines Lebens, Redens und Handelns, wird zur Gottesbegegnung in menschlich unmittelbar wahrnehmbarer Form. Durch ihn wird die ethische Herausforderung des Menschseins deutlich erkennbar: (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18; Mt 22, 37-40): …du sollst JaHWeH, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Und Joh 13, 35: Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Die uneigennützige, hingabebereite Liebe untereinander (ohne Grenzen der Familien-, Volks-, Rasse-, Religionszugehörigkeit…) das ist die „ethische Revolution des Menschseins“, und die soll zum Erkennungszeichen gottgewollter Menschlichkeit werden (siehe das Thema „sein und sollen“).
Diesem „Sollen“ steht allerdings oft ein faktisches „Sein“ gegenüber, durch das das Bild wahren Menschseins über Jahrhunderte hinweg immer wieder und manchmal ganz schrecklich verdunkelt wurde: In allen Religionen (einschließlich des Christentums) wurde das Grundanliegen der Mitmenschlichkeit als Nachahmung der Menschenliebe Gottes im Laufe ihrer Entfaltungsgeschichte immer wieder vielschichtig überlagert, und manchmal konnten diese Überlagerungen so stark und undurchdringlich werden, dass durch sie dieses Grundanliegen fast gänzlich verdeckt und verdrängt wurde (siehe das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“, Beitrag 7 „Frieden durch Religion?“). So konnte aus dem Impuls zur Mitmenschlichkeit schließlich zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kulturen und Religionen ein Antrieb für Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit, für Fanatismus und Intoleranz, für Hass und Brudermord werden. Religionen können, (vor allem dann, wenn sie groß und mächtig werden) Angst machend, gewalttätig, grausam und mörderisch sein, ja, sie können zu unbarmherzigen und menschenfeindlichen Unterdrückungssystemen erstarren. Allerdings müssen wir dabei beachten: Viele „Entgleisungen“ des Menschseins, die den Religionen angelastet werden, sind eher auf eine kulturelle Verarmung und Verwahrlosung, bzw. auf ideologische Fehlleitung, ja, auf den Missbrauch von Religion zum Zweck des Machtgewinns und Machterhalts zurückzuführen. Trotzdem: Der ursprüngliche Impuls zur Entstehung der Religionen waren die Erfahrungen der Menschen mit der Menschenfreundlichkeit Gottes. Erst später kamen in manchen Kulturen und zu manchen Zeiten egoistische Motive hinzu, die darauf abzielten, den Glauben als Mittel zum als Herrschaftsinstrument zu missbrauchen.
Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt (1.Joh 4, 19). Gegenüber diesem Grundanliegen aller Religionen, das aus den Grunderfahrungen der Liebe Gottes hervorgegangen ist, sind die nachträglich gewachsenen und immer wandelbaren Vorstellungen von Gottheiten, Geistern und Dämonen und die Wege und Riten zu ihrer Verehrung von nachrangiger Bedeutung. Die Religionen der Welt sind von ihrem Entstehungsimpuls her wahr, denn sie sind Antwort auf die wahren Gotteserfahrungen der Menschheit durch die Jahrtausende.
Religion ist die Quelle des Menschlichkeit; sie ist es, die menschliches von tierischem Leben grundsätzlich unterscheidet. Nicht seine Intelligenz oder seine technischen Errungenschaften machen die Menschlichkeit des Menschen aus, sondern seine ethischen Grundüberzeugungen und Handlungsweisen, die aus dem Vorbild der Liebe Gottes kommen. Religion ist (solange sie sich nicht von ihren eigenen Quellen entfernt) die Energiequelle des Menschseins. Ohne sie wäre das Menschsein (so wie alles andere Leben) in seiner ethischen Entwicklung auf der Stufe eines unerbittlichen „Kampfes ums Dasein“ und ständigen „Fressens und Gefressen-Werdens“ stehen geblieben.
Das Verhältnis des biblischen Glaubens zu den Religionen der Völker ist mit Kategorien wie richtig und falsch, wahr und unwahr, gut und böse nicht angemessen zu beschreiben. Vielmehr finden wir in allen Religionen echte und ehrliche (wenn auch immer unvollkommene) Antworten der Völker und Kulturen auf die gemeinsamen Gotteserfahrungen der Menschheit. Für Juden und Christen enthält die Bibel über diese allgemeinen Gotteserfahrungen hinaus die Selbstoffenbarung Gottes im Wort, durch die ihnen der biblische Gott, der Schöpfer aller Dinge und allen Lebens, zum personalen Gegenüber einer Liebesbeziehung wird.
Trotzdem: In jeder Religion ist ein Ursprungsimpuls lebendig, der aus den Erfahrungen mit der Liebe Gottes herkommt, die den Menschen in ihrer persönlichen und kollektiven Geschichte begegnet ist. Und jede Religion kann im Glauben und Leben zu ihren Ursprungsimpulsen in der Begegnung mit der Liebe Gottes zurückkehren, denn diese dauern ja an bis heute an.
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3 Evolution oder Religion?
Die Grundannahmen der Evolutionslehre begründen das Recht des Stärkeren, den Schwächeren zu fressen, das Recht des Tüchtigeren, Anpassungsfähigeren, die weniger Geschickten zu überwältigen und auszuschalten. Biblischer Glaube dagegen begründet die Verpflichtung des Stärkeren, dem Schwächeren beizustehen, ihm zum Leben und zur Lebensfreude zu helfen. Und dieser fundamentale Unterschied beschreibt gleichzeitig auch den Widerspruch zwischen Atheismus und (biblischer) Religion.
Wir müssen die Konsequenzen bedenken, ehe wir einer bestimmten Ideologie folgen. Wir könnten sonst (dann, wenn die böse Wirklichkeit wieder einmal die so gut aussehenden Theorien entlarvt hat) überrascht und ernüchtert feststellen, dass eine Weltanschauung, die auf den ersten Blick so aufgeklärt und modern daherkommt wie die Evolutionslehre mit ihrem jüngsten „Kind“, dem „Neuen Atheismus“, in Wirklichkeit nur das alte „Recht des Stärkeren“ zementieren will.
Der „Neue Atheismus“ ist die Religion der Durchsetzungsfähigen, denn sie gibt ihnen recht, wenn sie die Schwächeren zu verdrängen versuchen. Wenn der „Kampf ums Dasein“, der die Starken und Anpassungsfähigen zu rechtmäßigen Siegern erklärt, tatsächlich der einzige schöpferische Mechanismus wäre, dem alles Leben sein Dasein verdankt, dann wäre es richtig, wenn die „Verlierer“, die Schwachen, Behinderten, Kranken beseitigt und aus dem Verzeichnis des Lebens gelöscht würden.
Die Ethik eines Atheismus, der sich auf den Kampf ums Dasein als entscheidenden Antrieb des Lebens und des Menschseins stützt, muss zwangsläufig und unvermeidbar eine Ethik der Kämpfer und Sieger und Gewalttäter sein.
Es geht hier nicht darum, die Evolutionslehre (in der heute üblichen, auf die Wirkungen von Mutation und Selektion eingeengten Form) und den mit ihr fest verbundenen „Neuen Atheismus“ zu widerlegen oder wenigstens Argumente gegen sie zu sammeln. Das ist schon in vielen Publikationen ausführlich geschehen. Es geht hier darum, die Folgen zu bedenken, wenn wir einer solchen „Lehre“ bedenkenlos folgen.
Gewiss gibt es in der Tier- und Pflanzenwelt (und manchmal auch zwischen Menschen, Gruppen und Völkern) Vorgänge, die dem Schlagwort vom „Kampf ums Dasein“ entsprechen. Dem zu widersprechen wäre dumm und blind gegenüber den Realitäten dieser Welt. Daraus aber eine allgemeine, alle Lebensvorgänge und auch das menschliche Miteinander umfassende Theorie zu konstruieren, dient nicht der Wissenschaft, sondern sie dient der Rechtfertigung der Gewalt der Starken gegen die Schwachen. Sie ist in Wahrheit kein wissenschaftliches, sondern ein gesellschaftliches, ja herrschaftspolitisches Instrument.
Nein, es ist kein Zufall, dass das Jahrhundert der atheistisch-ideologischen Herrschaftssysteme (das 20. Jahrhundert) zugleich das blutigste der Menschheitsgeschichte war. Es ist vielmehr die logische und zwangsläufige Konsequenz einer Geisteshaltung, die den individuellen oder kollektiven Egoismus zur alles gestaltenden Schöpfungskraft überhöht, und die zugleich die Schwachen und Hilfsbedürftigen zu Versagern des Lebens erklärt, die aussortiert und auf dem Abfallhaufen der Evolutionsgeschichte entsorgt werden müssen.
In der Natur gibt es beides: den Kampf ums Dasein und das Miteinander und Füreinander des Lebens. Beides gibt es auch in menschlicher Gemeinschaft zwischen sozialen Gruppen und Generationen, zwischen Völkern und Rassen, Religionen und Kulturen: Zuwendung und Abgrenzung, Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, Krieg und Frieden. Die Frage ist nur, welches von beiden wollen wir betonen und bestärken, wenn es um das menschliche Miteinander geht? Und wie weit wollen wir die Normen und Formen menschlicher Gemeinschaft von dem abhängig machen, was wir im Tierreich vorzufinden meinen? In welcher Welt wollen wir leben? Wir als Menschen sind die einzigen Lebewesen, die das selbst entscheiden können. Wir können der Evolutions-Ideologie folgen und sagen: Der Stärkere hat recht und das Schwache muss ausgeschieden werden. Oder wir können der biblischen Offenbarung folgen, die uns sagt: Die Stärkeren haben die Pflicht, den Schwächeren beizustehen, die Wohlhabenden sollen mit dem Armen teilen, die Mächtigen sind aufgefordert, die Machtlosen nicht zu unterdrücken, sondern zu beschützen. Wir können nicht nur, wir müssen entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen. Selbst jemand, der vom biblischen Glauben (und vielleicht sogar von Religion allgemein) nichts hält, muss überlegen, ob er statt dessen einer Ideologie den Vorzug geben will, die den „Kampf ums Dasein“ zur einzig angemessenen Form des Umgangs im Miteinander des Lebens erklärt.
Die Gemeinschaft des Menschseins wird im Zeitalter der Globalisierung, der weltweiten Verknappung der wichtigsten Lebensressourcen und der Massenvernichtungswaffen eine Gemeinschaft des Miteinander und Füreinander sein (oder wenigstens sich dem anzunähern versuchen), eine versöhnte und befriedete Menschheitsfamilie aus allen Völkern und Rassen, allen Kulturen und Religionen, allen Volkswirtschaften und Machtkonstellationen oder sie wird sich selbst ein schreckliches Ende bereiten.
Die Biblische Offenbarung gibt eine Menschen-würdige Richtung vor (Mt 22, 37-39): Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (vgl. 5. Mose 6,5). Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (vgl. 3. Mose 19,18).
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Bodo Fiebig „Die Quelle der Menschlichkeit“ Version 2018 – 3
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