Bisher haben wir nur das Phänomen „Intelligenz“ angesprochen. Jetzt geht es um die „Art des Denkens“. Deshalb zunächst die Frage: Wie gehören denn „Intelligenz“ und „das Denken“ zusammen? Vereinfacht ausgedrückt so:
Als „Intelligenz“ bezeichnet man die Fähigkeit, eine bestimmte „Qualität“ von Denkleistungen hervorzubringen. Dabei können die „Leistungsträger“ für solche Denkleistungen einzelne (biologische) Organismen sein (Menschen, Tiere …) oder Organisationen (menschlichen Organisationen wie z. B. die UNO, eine Firma oder eine Fußballmannschaft, aber auch tierische Organisationen mit „Schwarmintelligenz“ wie z. B. ein Bienen-“Volk“ oder ein Ameisen-“Staat“) oder „Denk-Maschinen“ (z. B. Computer mit Programmen mit „künstlicher Intelligenz“). Davon war in den vorausgehenden Beiträgen die Rede.
Jetzt aber soll es um das Denken selbst gehen. Dabei geht es um die Frage, auf welchen Grundlagen und auf welche Weise Systeme mit natürlicher oder künstlicher Intelligenz ihre Denkleistungen hervorbringen. Also: Wie denken wir als Menschen und wie denken Maschinen? (Das Denken von Tieren als Einzelne bzw. als Herden oder Schwärmen lasse ich hier noch weg.) Sind das die gleichen Denkweisen oder gibt es da grundsätzliche Unterschiede (obwohl ja die Denkweise der Maschinen von Menschen „erfunden“ und „gemacht“ ist)? Es geht also hier um die Art des Denkens („Art“ ist manchmal auch ein anderes Wort für „Kunst“. Man könnte auch sagen: Es geht um „die Kunst des Denkens“ und später werden wir merken, dass diese Bezeichnung gar nicht so abwegig wäre).
„Intelligenz“ und „Denk-Fähigkeit“ werden oft als inhaltlich gleiche Begriffe verwendet. Das ist auch weitgehend richtig, und wir konnten im Beitrag 1 „Prozesse im Bereich von Intelligenz“ erkennen, dass sowohl bei natürlicher als auch bei künstlicher Intelligenz ganz ähnliche Prozesse ablaufen: Daten wahrnehmen und aufnehmen, Daten verarbeiten und speichern, Ergebnisse der Datenverarbeitung ausgeben und anwenden. Aber damit wäre ja noch nicht gesagt, dass (bei aller Gleichartigkeit der Abläufe) auch die Denkvoraussetzungen und Denkweisen beim Einsatz natürlicher und künstlicher Intelligenz gleich sein müssten. Vielleicht denken ja intelligente Menschen grundsätzlich anders als intelligente Maschinen?
Wir werden sehen: Menschen und Maschinen haben tatsächlich grundsätzlich verschiedene Art zu denken, wenn auch manche Menschen sich bemühen, sich die Denkweise von Denk-Maschinen (Computern und deren Programmen) anzugewöhnen, und andere sich bemühen, die Arbeitsweise von „Maschinen“ (z. B. auch Computer mit „künstlicher Intelligenz“) so zu gestalten, dass sie „intuitiv“ zu bedienen wären, sie also an menschliche Denkweisen anzupassen. Was dabei herauskäme, wenn immer mehr Menschen sich immer mehr ihre gewohnten menschlichen Denkweisen abgewöhnen würden, und sie sich immer mehr maschinelle Denkweisen angewöhnen würden, davon wird später noch zu reden sein.
Aber zunächst einmal: Gibt es wirklich grundsätzliche Unterschiede zwischen der „Art des Denkens“ von Menschen und Maschinen (hier meint „Art“ zunächst einmal die Weise, wie man denkt)? Und wenn ja: Wie unterscheiden sich menschliches Denken und maschinelles Denken? Ich beginnen hier mit dem maschinellen Denken, weil das viel einfacher zu beschreiben ist
1 Maschinelles Denken
Maschinelles Denken im digitalen Zeitalter hat bestimmte Grund-Strukturen und grundlegende Vorgehensweisen, die maschinelles von menschlichem Denken unterscheiden:
1.1 Das Denken in kleinsten Einheiten.
0 oder 1, das sind die „Buchstaben“ der Computer-Sprachen. Aus diesen beiden Elementen (ja oder nein, an oder aus) sind alle Inhalte einer „Maschinensprache“ zusammengesetzt. Maschinelles Denken geschieht durch „Aktionen“ mit großen Mengen von kleinsten Daten-Elementen.
1.2 Maschinelles Denken geschieht mit zahlenmäßigen Größen und statistischen Wahrscheinlichkeiten
Maschinelles Denken geschieht durch Prozesse in großen Mengen von kleinsten Daten-Elementen und deren zahlenmäßigen Verhältnissen und Veränderungen. Solche Prozesse können dazu dienen, vorgegebene Programm-Schritte abzuarbeiten und so routinemäßige Arbeitsvorgänge zu erleichtern. Sie können aber auch (bei Systemen mit künstlicher Intelligenz) dazu dienen, in großen Datenmengen Strukturen, Muster und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, sie zu schon vorhandenen Datenbeständen in Beziehung zu setzen, dabei die eigenen Datengrundlagen und Vorgehensweisen selbständig zu optimieren und schließlich von menschlicher Einflussnahme unabhängige Entscheidungen zu treffen. Wichtig sind dabei nicht die einzelnen Daten-Elemente, sondern deren zahlenmäßigen Größen-Verhältnisse und die statistische Wahrscheinlichkeit möglicher Veränderungen, bei denen erst durch die große Zahl der Verarbeitungsprozesse Strukturen und Entwicklungen sichtbar und anwendbar werden.
1.3 Das Denken in Zahlen-Werten
Maschinen denken in statistischen Zahlen-Werten, nicht in persönlichen Bedeutungs-Werten. Denk-Ergebnisse entstehen dabei durch Verarbeitung großer Mengen von Daten-Elementen, wobei das einzelne Element selbst keine Bedeutung und keinen Wert hat. Die „Wertigkeit“ und „Bedeutung“ der Datenelemente und der Ergebnisse von maschinellen Denkprozessen entsteht erst dadurch, dass Menschen diesen Elementen und Ergebnissen einen Wert und eine Bedeutung zumessen. Für den Computer selbst (auch mit noch so viel künstlicher Intelligenz) sind die eigene Datenbasis und die eigenen Denk-Ergebnisse völlig Bedeutungs-los. Sie (diese Ergebnisse) können aber für die betroffenen Menschen von größter (hilfreicher oder zerstörender) Bedeutung werden. Maschinelles Denken ist (von sich aus) ohne Bedeutung, ohne Sinn und Ziel und damit auch ohne Ethik. Weil aber technische Potenzen ohne Sinn, Ziel und Ethik für die davon betroffenen Menschen grundsätzlich hoch-gefährlich sein können, müssen ihnen Sinn, Ziel und Ethik von Menschen vorgegeben werden (siehe die Beiträge zu „verantwortete Intelligenz“).
2 Menschliches Denken
2.1 Menschliches Denken beginnt nicht mit kleinsten Daten-Einheiten, sondern mit großen Bedeutungs-Ganzheiten.
Die Jäger und Sammler, die vor etwa 14 000 Jahren Jahren in den Höhlen von Altamira in Nordspanien wohnten und dort ihre großartigen Höhlenmalereien hinterließen, waren nicht an einzelnen Detail-Daten (z. B. Größe, Gewicht oder Abstammungs-Linien …) für die dargestellten Tiere interessiert, sondern an deren Bedeutung als Mit-Bewohner des eigenen Lebensraums und als Nahrungs-Quelle für das eigene Überleben. Aber eben nicht nur das, sondern sie waren erkennbar auch beeindruckt von der Kraft und Schönheit dieser Tiere, vielleicht sogar existenziell berührt von ihrer spirituellen Bedeutung im Gesamt-Zusammenhang des Lebens angesichts der ungelösten Rätsel des eigenen Daseins.
Menschliches Denken fragt von Anfang an nach Bedeutungs-Ganzheiten und nach existenziellen Zusammenhängen. Wobei sich das Ausmaß der Bedeutung nicht an statistischen Zahlen-Dimensionen festmacht, sondern an persönlichen Bedeutungs-Dimensionen.
Das gilt heute, im 21. Jahrhundert, noch genau so: Wir sind beeindruckt und fasziniert von einem großartigen, farbenglühenden Sonnenuntergang und fragen dann nicht nach Licht-Brechungen und Farben-Wellenlängen, obwohl wir ja eigentlich auch davon wissen.
Oder: Eine Lehrerin in einer Schulklasse erlebt und versteht und behandelt jedes einzelne Kind als besondere Einzel-Persönlichkeit und nicht z. B. als Funktions-Element beim Klassen-Ranking der Noten-Durchschnitte, bei dem die Nachbar-Klasse um 0,2 Prozentpunkte besser abgeschnitten hat.
Oder: Wir sind vielleicht beeindruckt vom Gemeinschafts-Erlebnis eines Gottesdienstes mit großem Chor und gewaltigem Orgelklang, aber dann doch im Tiefsten berührt von dem persönlichen Zuspruch: „Für dich gegeben…“ und „Du, sei gesegnet“.
2.2 Menschliches Denken entwickelt sich in der Wechselwirkung von denken und sprechen
Zahlen sind Größenangaben; Wörter und Sätze dagegen sind Bedeutungs- und Sinnträger. Das ist ein entscheidender Unterschied. Das Denken der Menschen entstand wesentlich im Zusammenhang mit Sprache als Bedeutungs- und Sinnträger; Zahlen als Größen- und Mengenangaben kamen erst viel später hinzu. Bei der Sprache merken wir: Es sind nicht die einzelnen Daten-Elemente (die Laute bzw. Buchstaben) von Bedeutung, sondern bestimmte Laute- bzw. Buchstaben-Kombinationen (also Wörter als kleinste Bedeutungs-Träger) und die als Teile einer Bedeutungs-Einheit (eines Satzes) im Gesamtzusammenhang eines Bedeutungs-Ganzheit (einer Geschichte).
Die Sprache und das Denken der Menschen entwickelten sich in gegenseitigen Wechselwirkungen: Die Entwicklung des Denkens ermöglichte und förderte die Entwicklung einer Sprache und die Entwicklung der Sprache erweiterte und strukturierte die Entwicklung des Denkens. Nicht in erster Linie anatomische Veränderungen (die Entwicklung des Zungenbeins und des Kehlkopfs beim Menschen, die freilich für eine differenzierte Lautbildung wichtig waren), sondern die gegenseitige Befruchtung von Denken und Sprechen führte zur Herausbildung des Menschen als komplex denkfähiges und sprachfähiges Wesen.
Einige Schritte in dieser Entwicklung seien hier angedeutet:
- Nennung einzelner Personen oder Dinge mit einer Lautfolge als deren „Namen“ (z. B. „Baum“ oder „Höhle“). Das ist ein sehr bedeutungsvoller Vorgang, denn „von Natur aus“ haben Dinge keinen „Namen“. Wenn wir einen Baum „Baum“ nennen, bezeichnen wir mit einem einzigen Wort tausend „Dinge“ in einem Wald und wir unterscheiden sie zugleich von tausend anderen Dingen im Wald, die eben nicht „Baum“ sind (sondern vielleicht „Erde“ oder „Vogel“ oder „Blume“). Indem wir Dinge mit „Namen“ ausstatten, ordnen wir sie zugleich ein in ein Strukturmodell und Ordnungssystem des Denkens.
- Vergegenwärtigung von Dingen, die zeitlich oder räumlich entfernt sind, durch nennen ihrer „Namen“. So konnte eine Gruppe von Jägern, die mehr als eine Stunde schnellen Laufes von ihrer Wohnhöhle entfernt waren, sich darüber verständigen, dass es nun Zeit sei, zu ihrer Höhle zurückzukehren, weil es bald dunkel werden würde, indem ihr Anführer das Namen-Wort für ihre „Höhle“ aus-sprach und die anderen zustimmend nickten. Durch die Nennung des Namens kann etwas, das nicht „da“ ist, im Denken der Menschen so vergegenwärtigt werden, dass es zum Inhalt gemeinsamen Denkens und Entscheidens wird.
- Zusammenfassung von einzelnen Phänomenen der Umwelt (von denen es sehr viele gab, die aber jeweils durch gemeinsame Merkmale als zusammengehörig erkannt werden konnten) durch Begriffs-Bildung (Baum, Höhle, Wasser, Berg, Mann, Frau, Kind …). Begriffe, die jeweils ganze Kategorien von Einzelerscheinungen zusammenfassen (das „Strukturmodell und Ordnungssystem des Denkens“ siehe oben, Punkt 1, wird immer mehr erweitert und ausdifferenziert).
- Sprachliche Negierung: Die Fähigkeit, etwas beim Namen zu nennen, was nicht existiert (In der Trockenzeit: „Kein Regen“ oder in friedlichen Zeiten „keine Feinde“ oder in Mangel-Zeiten „kein Fleisch“). Dieses „nicht“ oder „kein“ konnte anfangs auch durch eine verneinende Geste verbunden mit dem „Namen-Wort“ ausgedrückt werden. Aber es war doch eine völlig neue Stufe in der Entwicklung des Denkens und Sprechens, etwas zu benennen und sprachlich zu vergegenwärtigen, was nicht (auch nicht in einiger Entfernung, wie die Höhle, siehe oben, Punkt 2) vorhanden ist.
- Bildung von Begriffen für die Eigenschaften von Dingen (groß oder klein, leicht oder schwer, stark oder schwach, essbar oder giftig …) und die Verbindung von Gegenständen mit Eigenschaften: „Baum – groß, Stein – schwer …“
- Bildung von Begriffen für Vorgänge oder Tätigkeiten (laufen, springen, schwimmen, fliegen, schreien …) und die Verbindung von „Dingen“ oder „Personen“ mit Tätigkeiten: „Kinder – spielen, Vögel – fliegen …“
- Bildung von Ablauf-Reihen: Erst und dann und dann … („Erst sammeln wir Wurzeln und Pilze, dann waschen wir sie im Bach, dann trocknen wir sie in der Sonne.“) Hier werden nicht „Dinge“ und ihre Eigenschaften und Tätigkeiten genannt, sondern „Abläufe in der Zeit“. Zum ersten Mal wird die Dimension „Zeit“ Inhalt menschlichen Denkens und Sprechens.
- Herstellung von wenn-dann-Beziehungen. „Wenn die Sonne untergeht, dann gehen wir zurück zur Höhle. Wenn Vögel in Scharen wegfliegen, dann wird es bald Winter.“ Hier werden Zeit-Beziehungen nicht als zufällige Gegebenheiten erkannt und benannt, sondern als fester Zeit-Folge-Zusammengang: „Immer, wenn Vögel in Scharen wegfliegen, dann wird es bald Winter.“
- Damit zusammenhängend: Verlängern von gegenwärtigen Situationen oder Entwicklungen in die Zukunft hinein: „Es ziehen Wolken auf, bald wird es regnen“ oder „Wir haben nichts mehr zu essen. Morgen werden wir zu einem mehrtägigen Jagdzug aufbrechen“. „Zukunft“ ist ein sehr abstrakter Begriff, der wahrscheinlich erst sehr spät gebildet wurde. Aber das Verständnis für das, was wir heute „Zukunft“ nennen, war ein wesentlicher Faktor für die Überlebensfähigkeit von Menschen, die sich nun auf kommende Ereignisse und Entwicklungen vorbereiten konnten.
- Herstellung von weil-deshalb-Beziehungen: „Weil das Kind diese Beeren gegessen hat, deshalb hat es jetzt Bauchweh.“ Oder: „Weil wir im Herbst nicht genug Vorräte angelegt haben, deshalb müssen wir jetzt hungern.“ Das Erkennen und Aussprechen von weil-deshalb-(Ursache-Wirkung)-Beziehungen ist ein ganz wichtiger Vorgang, denn dadurch wird es möglich, lebenswichtige Folgerungen abzuleiten: „Kinder dürfen diese Beeren nicht essen.“ Oder: „Im nächsten Herbst müssen wir mehr Vorräte anlegen.“ Das Erkennen von Ursache-Wirkung-Beziehungen war ein entscheidender Faktor für die Überlebensfähigkeit früher Menschen-Gemeinschaften, weil so die Möglichkeit entstand, auf die Ursachen von Entwicklungen einzuwirken, bevor sie sich (negantiv) auswirken konnten.
- Bildung von Begriffen für Realitäten, die keine sichtbaren oder anfassbaren „Gegenstände“ sind, z. B. für „Nacht“ oder „Kälte“ oder „Traurigkeit“ oder „Gestern“ oder „Zukunft“.
- Bildung von Sammelbegriffen für eine ganze Fülle von verschiedensten Erscheinungen, die in einem einzigen Wort zusammengefasst werden, z. B. „Sommer“ (mit all seinen Erscheinungsweisen und Erlebnissen, die für einen Sommer typisch sind) oder „Winter“ oder „Frieden“ oder „Krieg“.
- Ausdrücken von hypothetischen Erwägungen: Was wäre, wenn? „Was wäre, wenn wir aus einigen Baumstämmen eine Brücke über den Bach bauen? Dann könnten wir doch in der kühleren Jahreszeit trockenen Fußes auf die andere Seite gelangen“. Vorausschauendes Planen und abwägendes Entscheiden bringen (damals wie heute) wesentliche Vorteile für das tatsächliche Leben und Handeln. Das setzt allerdings die Fähigkeit voraus, verschiedene Varianten eines Vorhabens vorausschauend „in Gedanken“ durchzuspielen und deren mögliche Vor- und Nachteile zu vergleichen, bevor man sie verwirklicht.
- Erzählen von zeitlich zurückliegenden Ereignissen. Die Jagdgruppe, kommt von der Jagd zurück und die „Jäger“ (wahrscheinlich Männer und Frauen) berichten von ihren Erlebnissen und zeigen ihre Beute vor. Und dabei konnte es vorkommen, dass die Erzählungen nicht nur reine Fakten wiedergaben, sondern auch das eigene Ergehen und Empfinden in den verschiedenen Situationen. Manchmal vielleicht auch schon vermischt mit erfundenen Ereignissen, die so gar nicht stattgefunden haben. Das Erzählen der Menschen löste sich offensichtlich schon sehr frühzeitig von reiner Faktenwiedergabe (die phantastischen Erzählungen eines Homer vor fast 3000 Jahren z. B. setzten ja schon eine viele Jahrtausende umfassende Entwicklung des Erzählens voraus).
- Erzählen von inneren Erfahrungen: Von Träumen, Ängsten, Hoffnungen …
- Erzählen von Sinn-Geschichten, die besonders eindrucksvolle Erfahrungen in einen Bedeutungszusammenhang zu stellen versuchen („Es hat schon so lange nicht geregnet. Ich denke, die Sonne ist uns böse, deshalb verdorrt sie unser Land und hält den Regen ab; was haben wir falsch gemacht?“ …) Die Entstehung von Religionen ist solchen einfachen Sinn-Geschichte freilich noch nicht erklärt, aber doch schon vorbereitet (siehe das Thema 2-6 „Weltreligionen und biblischer Glaube“).
Die denkende Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Umwelt führte zu immer neuen und differenzierteren sprachlichen Ausdrucksformen. Und die Entwicklung immer neuer sprachlicher Ausdrucksformen förderten und strukturierten immer weitergehende Formen des Denkens. Das „denkende Sprechen“ und das „sprechende Denken“ sind unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung menschlichen Denkens und (als Ausdruck davon) menschlicher Intelligenz bis in die Höhen von Wissenschaft, Philosophie und Religion. Und bei allen diesen Entwicklungen des Sprechens und des Denkens ging es nicht (bzw. nicht primär) um zahlenmäßige Größen- und Mengenverhältnise oder um statistische Wahrscheinlichkeiten, sondern um persönliche oder gemeinsame, individuelle oder kollektive Bedeutsamkeiten.
2.3 Menschliches Denken ist von Anfang an Werte-orientiert
So etwas wie „Wertigkeit“ entsteht in menschlichem Denken durch „Bedeutung“ und solche Bedeutung bekommen Dinge oder Vorgänge durch Erfahrung, nicht durch zahlenmäßige Berechnung. Wasser z. B. ist für menschliches Denken nicht zuerst H2O (bzw. für Menschen, die noch nichts von Atomen und Molekülen wussten, eine zählbare Menge von Tropfen) sondern Durstlöscher, Köstlichkeit, ja, lebensnotwendiges Gut von höchstem Wert in Trockenzeiten, oder auch lebensbedrohliche Gefahr bei Überschwemmungen. In allen Kulturen war und ist klares, trinkbares Wasser etwas Wertvolles, manchmal Heiliges. Menschen denken grundsätzlich Werte-orientiert, nicht Zahlen-orientiert (und das ist ein Unterschied! Nicht immer repräsentiert eine größere Zahl auch einen höheren Wert – z. B. wenn es um Beziehungen geht).
Der höchste Wert für jedes Lebewesen ist das eigene Leben (und das Leben der eigenen Angehörigen, also bei Menschen das Leben der Mitglieder in der eigenen Familie, Sippe, Stammes- und Volksgemeinschaft …). Aber: Menschen (und nur Menschen) haben die Möglichkeit, auch darüber noch hinauszugehen. Für sie kann das Leben jedes Menschen von höchster Bedeutung sein (oder werden). Es ist ein überaus großer Schritt menschlichen Denkens (ein Schritt, für den die Menschheitsentwicklung viele Jahrtausende brauchte) wenn man „Menschen-Rechte“ formuliert, die jedem Menschen das Recht auf Leben zusprechen. (z. B. in der Charta der UN, oder, Jahrtausende vorher, in der Bibel (2. Mose 20,13): Du sollst (Menschen) nicht töten.
Freilich gibt es schon seit frühester Zeit auch entsprechende Gegenbewegungen: In großen, auf Gewaltanwendung begründeten Diktaturen gab (und gibt) es die „Umwertung menschlicher Werte“: Da zählt der einzelne Mensch als einmaliges Individuum nichts, sondern es zählt die Größe, Macht und Funktion des Ganzen (z. B. im Nationalismus: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Oder im Kommunismus: „Du bist nichts, die Partei ist alles!“) Und da Menschen es gewöhnt sind, in „Bedeutungs-Ganzheiten“ (siehe oben) zu denken, können solche Vorstellungen große Faszination erwecken.
Gegenwärtig ist viel von „Schwarm-Intelligenz“ die Rede. Man ist fasziniert von den Reaktionen und Bewegungen eine großen Schwarms kleiner Fische, der von einem Raubfisch angegriffen wird (oder beeindruckt von den abgestimmten Vorgängen und Verhaltensweisen in einem Bienenstock oder einem Ameisenhaufen). Und manche leiten davon ein allgemeingültiges Prinzip ab: Es geht darum, dass der Schwarm als Ganzes überlebt; welche Einzelnen der kleinen Fische vom Raubfisch gefressen werden, ist unerheblich. Und das überträgt man dann auch auf das Miteinander von Menschen, von Gruppen, Gemeinschaften und Völkern. (Wobei man dann oft Massenphänomene, die von rauschhaften Stimmungen getrieben werden, mit Schwarmintelligenz verwechselt.)
Diese Frage bestimmt das Zusammenleben der Menschen seit Jahrtausenden (und die jeweilige Antwort hängt mit der Art unseres Denkens zusammen): Was ist die wertvollste Bedeutungs-Einheit, der Einzelne oder das Kollektiv? (Freilich stellt sich in der Realität und beim genaueren Hinsehen die Frage oft anders: Da geht es um die Über-Bedeutung der Einzel-Person des Machthabers und seiner Mit-Täter und Mit-Läufer bei gleichzeitiger Bedeutungs-losigkeit der einzelnen „Untertanen“). Oder soll doch die Gleichwertigkeit aller Einzel-Personen im Gesamt-Zusammenhang verschiedenster Gemeinschafts-Zugehörigkeiten als höherer Wert gelten, so dass jedes einzelne Menschen-Leben zählt, auch wenn es jetzt schon 8 Milliarden davon gibt?
2.4 Menschliches Denken ist von Anfang an Sinn- und Ziel-orientiert
Das Denken von Menschen sucht seit Jahrtausenden (ja von Anfang an, seit sich menschliches Leben aus dem Formenkreisen tierischen Lebens herausgelöst hat) nach Bedeutung, nach Sinn und Ziel des eigenen Daseins im Gesamtzusammenhang der für die Menschen erkennbaren Gegebenheiten und Vorgänge in ihrer „Welt“.
Wir können das ablesen aus frühesten Zeugnissen menschlicher Kultur, die sich nicht damit begnügten, die Realitäten wahrzunehmen und wiederzugeben, wie sie eben sind, um daraus optimale Lebens- und Überlebens-Strategien zu entwickeln (wie man eigentlich vermuten müsste). Da fanden z. B. Archäologen in einer Höhle der Schwäbischen Alb einen „Löwenmenschen“, 31 cm groß, aus einem Mammut-Elfenbein geschnitzt vor ca. 40 000 Jahren, mit Menschen-Leib und Löwen-Kopf. Man kann nur vermuten, warum er gemacht und wozu er verwendet wurde, aber ganz gewiss nicht, um die Wirklichkeit abzubilden, wie sie ist (es gab nie einen realen Löwenmenschen mit Menschenleib und Löwenkopf, auch nicht vor 40 000 Jahren). War es ein Sehnsuchts-Bild für die eigene Zukunft: „Ich, Mensch der ich bin, aber stark wie ein Löwe“? Oder war es ein Kult-Gegenstand, der eine „Über-Macht“ verkörpern sollte, eine löwenstarke Über-Menschen-Macht, gefährlich, aber vielleicht auch hilfreich? Wir wissen es nicht. Eines aber können wir mit absoluter Gewissheit sagen: Dass Menschen schon in sehr frühen Entwicklungsstadien des Menschseins danach strebten, Bedeutungs-Ebenen zu erschließen und Sinn-Zusammenhänge zu erahnen, die über die erfahrbaren Realitäten und über die eigene gegenwärtige Existenz hinausreichen. An den Kunstwerken der menschlichen Früh-Geschichte können wir etwas von der „Kunst des Denkens“ in der Geschichte des Menschseins wahrnehmen, einer Kunst, die nur im Menschsein entwickelt und verwirklicht wurde.
Menschliches Denken ist von frühesten Anfängen an darum bemüht, in den alltäglichen und offensichtlichen „realen“ Dingen und Vorgängen in ihrer Umwelt etwas zu erkennen, was diese Dinge und Vorgänge in einem weiteren Zusammenhang deutet und ihnen so eine über-reale, „spirituelle“ Bedeutung gibt.
Menschliches Denken strebt nach „Erfassen“ eines „Sinn-Ganzen“, das den einzelnen Dingen und Ereignissen der eigenen Erfahrungs-Welt eine übergeordnete Bedeutung gibt, und deren Vorgängen und Entwicklungen eine zusammenführende Zielperspektive. Menschen suchen nach „etwas“, das vor allem dem eigenen Leben und Erleben (und dem Leben und Erleben des Menschseins allgemein) durch solche Sinn-Orientierung und Ziel-Ausrichtung einen bleibenden „Wert“ anbietet. Die Religionen der Völker und Kulturen der Menschheit sind Ergebnis von Jahrtausenden solchen Bestrebens (siehe dazu das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“).
Das Denken in ganzheitlichen Bedeutungen, in Sinn-Zusammenhängen und Zielvorstellungen, welche die realen Gegebenheiten und auch die eigene Existenz überschreiten, ist wesentlich die Art und Weise menschlichen Denkens. Und das unterscheidet menschliches Denken grundsätzlich von maschinellem Denken.
Und nur solches Denken (das immer wieder Überschreitungen der eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse, ja der eigenen Selbstverständnisse und Weltverständnisse ermöglichte), konnte dann auch wissenschaftliches Denken hervorbringen (und hat es ja auch hervorgebracht!) und schließlich auch das, was wir hier „maschinelles Denken“ nennen. Ohne menschliches Denken (und das heißt: Ohne solches, die jeweils erkennbaren Realitäten überschreitendes Denken in Bedeutungs-Werten und Sinn-Zusammenhängen) ohne das könnte es auch kein maschinelles Denken geben und keine „künstliche Intelligenz“.
3 Menschliches und maschinelles Denken
Wir können es so ausdrücken: Maschinelles Denken ist Zahlen- und Mengen-orientiert und menschliches Denken ist Bedeutungs- und Sinn-orientiert (siehe oben).
Aber: Menschliches und maschinelles Denken sind keine Konkurrenten, sondern (und im 21. Jahrhundert mehr denn je) auf Zusammenarbeit angewiesen:
Es geht hier nicht um ein trennendes Entweder-oder, sondern um eine notwendige Differenzierung: Wo ist maschinelles Denken angebracht und zielführend und wo ist menschliches Denken notwendig (Not-wendend) und hilfreich? Wir können es in einer vereinfachten (die Wirklichkeit ist immer komplexer) „Formel“ so zusammenfassen:
Da, wo es um die Verarbeitung von zahlenmäßig erfassbaren Daten geht, um messbare Größen und Veränderungen, um statistisch darstellbare Verhältnisse und Entwicklungen, da ist es richtig und sinnvoll, Systeme mit maschinellem Denken (auch mit künstlicher Intelligenz) zu nutzen.
Da, wo es um Bedeutungen und Werte geht, um Zielorientierung und Sinngebung, ist es (um des Überlebens der Menschheit willen und um der Erhaltung unserer Erde als lebenswerten Lebensraum) unerlässlich, menschliches Denken über maschinelles Denken zu stellen, denn maschinelles Denken kann (von sich aus) keine Bedeutungen und Werte, keine Zielorientierung und Sinngebung, und das heißt auch keine Ethik hervorbringen. Ein Beispiel: In Zahlen-Werten gedacht ist ein Krieg, wo eine größere Macht eine kleinere überfällt, weil die berechenbare Wahrscheinlichkeit (angesichts des Umfangs des technischen und menschlichen „Materials“) einen leichten Sieg verspricht und der erwartbare „Gewinn“ die absehbaren „Verluste“ übersteigt, richtig. In Bedeutungs-Werten gedacht, die auch ethische Werte umfassen, ist er falsch.
Die gegenwärtige Neigung, vor allem in berechenbaren Zahlen-Werten zu denken und das Denken in sinngebenden und zielorientierten Bedeutungs-Werten als „überholt“ abzulehnen, kann (wenn sie sich durchsetzt und verabsolutiert) zu einem Ende jeder Menschlichkeit führen und schließlich auch zum „end-gültigen“ Ende der Menschheit und des Lebens auf unserer Erde.
Alle Beiträge zum Thema "Natürliche und künstliche Intelligenz"
- Natürliche Intelligenz 1: Prozesse im Bereich von Intelligenz
- Natürliche Intelligenz 2: Teilbereiche menschlicher Intelligenz
- Natürliche Intelligenz 3: Erweiterung menschlicher Möglichkeiten
- Künstliche Intelligenz 1: Grenzüberschreitung?
- Autonome Systeme
- Herr oder Sklave der Technik?
- Die Art des Denkens
- Verantwortete Intelligenz 1: Humane Technik
- Verantwortete Intelligenz 2: Ethisch verantwortete Technik
- Biblische Perspektiven 1: Das „Optimierungsziel“ des Menschseins
- Biblische Perspektiven 2: Zeit und Ziel