Grenzen und Gefahren einer vor allem zahlenmäßig begründeten Mehrheits-Demokratie
Offensichtlich hat sich die Demokratie in den letzten Jahrhunderten weltweit als die dem Menschen angemessenste Form herausgestellt, Gemeinschaft zu organisieren. Freilich zeigt sich schon beim flüchtigen Hinsehen, dass die Demokratie in ihrer heutigen Form auch ihre Grenzen und Gefahren hat. Die sind ja in den alltäglichen Verhältnissen und Vorgängen des öffentlichen Lebens der real existierenden demokratischen Staaten nicht zu übersehen. Aber wäre es nicht möglich, demokratische Strukturen so anzulegen, dass sie ermöglichen und fördern, was dem Leben und dem Zusammenleben der Menschen dient und dass sie (freilich nie vollkommen) zurückdrängen, was die Entfaltung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand für alle hemmt?
Freilich gäbe es da noch Hindernisse und Stolperfallen zu beseitigen. Ein Hindernis wäre z. B. die gegenwärtige Handhabung des demokratischen Prinzips der Mehrheitsentscheidungen.
1 Das Mehrheitsprinzip
Für die gegenwärtige Gestaltung von Politik in der Demokratie gelten folgende zwei Thesen:
a) Die Demokratie hat gegenüber allen anderen Staatsformen einen entscheidenden Vorteil: das Mehrheitsprinzip. Das Volk selbst entscheidet durch seine Mehrheit wie und durch wen der Staat regiert wird. So soll jede Unterdrückung der Mehrheit durch eine aristokratische Elite, eine ideologische Kaderpartei, eine ausbeuterische Finanzmacht oder eine gewalttätige Minderheit usw. unmöglich gemacht werden.
b) Die Demokratie hat gegenüber allen anderen Staatsformen einen entscheidenden Nachteil: das Mehrheitsprinzip. Entscheidend für politisches Handeln ist nach diesem Prinzip nicht zuerst und vordringlich, was dem Wohlergehen der Menschen dient, was die Freiheit und den Frieden fördert, sondern was die Mehrheit will. Der Wille der Mehrheit ist aber keineswegs immer am Wohle aller (z. B. auch der Minderheiten) interessiert und er ist in hohem Maße manipulierbar.
Die Mehrheit der Meinungen ist in der modernen Mediendemokratie weitgehend das Ergebnis von gezielter Beeinflussung, von Werbung und Propaganda (manchmal auch von Verleumdung und Entwürdigung des Gegners). Wahlkampfstrategen wissen: Nicht das bessere politische Programm macht den Wahlsieg, sondern die geschicktere Werbung, die subtilere Beeinflussung, die überzeugendere Ansprache … und natürlich der höhere Werbeetat. Vor allem heute, wo langfristige Bindungen von Wählern an eine bestimmte programmatische Ausrichtung „ihrer“ Partei immer seltener werden und immer mehr Wähler ihre Wahlentscheidung kurzfristig aus einer momentanen Stimmung heraus treffen, ist die politische Beeinflussung durch die Medien, besonders im Internet, das alles entscheidende Moment für die Gewinnung von Mehrheiten und Macht. Wobei die Meinungsbildung sich zunehmend in geschlossenen „Meinungsblasen“ vollzieht, die für Korrekturen durch den öffentlichen Diskurs kaum mehr zugänglich sind. Die Meinungsäußerung (vor allem zugunsten von radikalen Bewegungen) kann dann aber überraschend massiv sein.
Dabei zeigt sich eine wesentliche, im System der Mehrheitsdemokratie liegende Schwäche: In ihr können auch totalitäre Strömungen mit demokratischen Mitteln an die Macht kommen, weil der Zugang zur Macht ausschließlich zahlenmäßig geregelt ist. Auch menschenverachtende, gewalttätige und verbrecherische Bewegungen und Ideologien können demokratische Mehrheiten erringen. Bei Wahlen kann das Mehrheitsprinzip schließlich dazu führen, dass sich die Demokratie selbst abschafft. Jede Stimme zählt gleich, egal ob sie für eine wirklich demokratische Partei mit verantwortungsbewussten Politikern abgegeben wird, oder für eine radikale Gruppierung, die mit Demagogie und Hetze gegen Andersartige und Andersdenkende auf Stimmenfang geht. Die Demokratie in der heute üblichen Ausprägung nährt ihre erbittertsten Feinde ebenso gut wie ihre treuesten Freunde. Die Erfahrung zeigt: Solange die soziale und wirtschaftliche Lage eines Staates gesund und stabil ist, werden sich radikale Gruppen kaum durchsetzen können. Sobald aber eine krisenhafte Verschlechterung der Lage eintritt (die man manchmal auch bewusst herbeizureden versucht), wird die Hinwendung zu radikalen Kräften und Ideen zu einer ernsthaften Bedrohung für die Demokratie (wir werden auf diese Problematik später noch konkret eingehen).
Freilich: Die unveräußerlichen Grundrechte in den Verfassungen demokratischer Staaten sollen dem Mehrheitsprinzip dann Grenzen setzen, wenn durch gewählte Mehrheits-Regierungen das Recht missbraucht wird. Jedoch zeigt die Erfahrung, dass Unrechtssysteme, wenn sie einmal an der Macht sind, sehr leicht die Substanz der Grundrechte außer Kraft setzen können, ohne den Wortlaut der Verfassung nach außen hin sichtbar anzutasten.
Aber nicht nur im Extremfall eines Unrechtsregimes unter demokratischem Deckmantel ist das Mehrheitsprinzip als rein zahlenmäßiges Instrument fragwürdig: Auch im ganz normalen demokratischen Gesetzgebungsverfahren ist es nach dem reinen Mehrheitsprinzip unerheblich, welcher von mehreren Vorschlägen für die Lösung eines Problems das inhaltlich bessere, in seinen Auswirkungen für die Bürger vorteilhaftere Gesetz ergeben würde. Entscheidend ist ausschließlich, welche Gesetzesvorlage von den Mehrheitsfraktionen unterstützt wird. Die Mehrheiten in den gesetzgebenden Gremien folgen aber in der Regel nicht inhaltlich qualitativen Kriterien, sondern vor allem (und in Wahlkampfzeiten fast ausschließlich) parteitaktischen Überlegungen.
In den modernen Demokratien gibt es drei „Wächter“ über die Erhaltung der freiheitlichen Grundpositionen: freie Wahlen, unabhängige Gerichte und freie Medien. Aber wie frei sind Wahlen wirklich, wenn sie im wesentlichen das Ergebnis von Beeinflussung durch professionelle Werbefachleute sind, die Parteien und ihre Programme mit den selben Strategien „verkaufen“ wie Waschmittel oder Autos?
Wie unabhängig in ihrer Meinungsbildung sind Verfassungsrichter wirklich, wenn sie von den Parteien und Regierungen eingesetzt werden? Können sie wirklich völlig „vergessen“, wer sie in ihr hohes Amt berufen hat und können sie sich ganz von den Denkmustern und Voreingenommenheiten einer Partei befreien, in der sie groß geworden sind?
Und wie frei sind Medien wirklich, wenn einzelne Politiker (oder auch Parteien und Regierungen) Eigentümer von Presseorganen, Fernsehanstalten und Verlagen sind, und wenn sich die Medienmacht immer mehr in den Händen weniger Medienkonzerne konzentriert? Außerdem sind private Medienunternehmen durch den Druck von Quoten und Marktanteilen viel zu sehr auf die kurzatmige Jagd nach der schnellen „Story“, der reißerischen „Sensation“ ausgerichtet, als dass sie zu einer objektiven Berichterstattung fähig wären, die auch die Hintergründe, das Umfeld und die möglichen Folgen vordergründiger Ereignisse ausreichend recherchiert und beleuchtet (Ausnahmen bestätigen die Regel). Auch die „freie“ Presse (bzw. Berichterstattung in den öffentlichen Medien) ist weitgehend dem quantitativen Denken unterworfen. Sie hat zwar in der Demokratie keine Zensur von außen durch Staatsorgane zu befürchten, aber sie unterwirft sich oft freiwillig und bedenkenlos einer Zensur von innen: Für ein Prozent mehr Marktanteil (und entsprechend steigende Aktienkurse) wird mancher Vorstandsvorsitzende eines großen Medienunternehmens seine demokratischen Überzeugungen weit, weit hintenanstellen; und welcher Redakteur (z. B. in den öffentlich-rechtlichen Medien) wird es wagen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen, der dem gegenwärtigen „Mainstream“ der Meinungen zuwiderläuft?
2 Die eingesperrte Demokratie
Außerdem unterliegt die Demokratie auch in den Ländern der „freien Welt“ einer seltsamen Beschränkung: Sie wird auf eine „mittlere Ebene” eingesperrt, oder, um es mit dem Bild eine Hauses zu sagen: Sie wird in den ersten Stock des politischen „Hauses” einquartiert, während im Erdgeschoss und im zweiten Stock ausgesprochen undemokratische Verhältnisse hausen. Was ist damit gemeint?
Ganz einfach: Die demokratischen Spielregeln gelten nur für die Spitzen des jeweiligen staatlichen Systems. Die Präsidenten und Kanzler, die Minister und Abgeordneten, die Bürgermeister und Stadträte … werden (direkt oder indirekt) vom Volk gewählt und sind dadurch demokratisch legitimiert. Für alle Ebenen politischer Verantwortlichkeit unterhalb dieser „Spitze“ gilt das nicht. Die leitenden Positionen in allen Ämtern und öffentlichen Institutionen (deren Inhaber oft im alltäglichen „Geschäft“ mehr Ermessensspielräume und Entscheidungsfreiheiten haben als die gewählten Volksvertreter) werden ohne jede demokratische Mitwirkung und Legitimation „von oben herab“ vergeben. Der Abteilungsleiter in einem Amt, der Direktorin einer Schule, der Lehrstuhlinhaber an einer Universität, die leitende Oberstaatsanwältin einer Justizbehörde …, werden nicht „vom Volk“ gewählt (also durch diejenigen, die dem jeweiligen Leitungsamt unterstehen, so wie es demokratischen Spielregeln entsprechen würde), sondern von den nächsthöheren Ebenen der Hierarchie berufen und eingesetzt, wie zu Kaisers Zeiten.
Nun kann man einwenden, dass solche Führungspositionen ja mit kompetenten Fachleuten besetzt werden müssen, damit die jeweilige Behörde funktionsfähig bleibt, und solche Fachleute könne nur die nächsthöhere Hierarchieebene erkennen und ernennen. Was aber hätten wir damit (unfreiwillig) zum Ausdruck gebracht? Etwas ganz Absurdes und zugleich Brandgefährliches, nämlich: Dass die Spitzen der Verantwortlichkeit (Abgeordnete, Minister, Kanzlerin, Präsident …, durch die ja die politischen Leitlinien und Rahmenbedingungen für den ganzen Staat vorgegeben werden sollen), keine fachlichen Qualifikationen brauchen, weil ja die sachliche Arbeit eh von den Beamten der unteren Ebenen gemacht wird und deshalb könne man die Auswahl der Personen für die Spitzenämter auch dem ahnungslosen Volk überlassen, während man für die unteren Ebenen der Verwaltung wirkliche Fachleute brauche und die könne man nur durch Berufung von oben installieren). Wir hätten damit ein Misstrauensvotum gegen die Grundlagen der Demokratie ausgesprochen: Demokratische Wahlen taugen (nach dieser Sichtweise) nur für eher repräsentative Aufgaben. Für die wirkliche Arbeit in den staatlichen Organen braucht man Fachleute, die jeweils durch einen Herrschaftsakt von oben eingesetzt werden müssen.
Aber stimmt denn das, stimmt denn das wirklich? Ist z. B. die Direktorin einer Schule, die von den oberen Kultusbehörden auf Dauer eingesetzt wurde (also von Leuten, die zum Teil nie selbst in einer Schule gearbeitet haben oder mancher sich durch jahrelange Verwaltungstätigkeit weit von der Wirklichkeit des täglichen Schulbetriebs entfernt hat) auf jeden Fall die bessere Schulleiterin, im Vergleich zu derjenigen, die vom aktuellen Kollegium, dem Elternbeirat und der Schülervertretung der Schule auf Zeit gewählt würde? Diese Frage könnte man in ähnlicher Weise für jede Führungsposition in jeder öffentlichen Einrichtung stellen. Und ist es wirklich auf jeden Fall besser, wenn Führungsaufgaben in öffentlichen Institutionen zeitlich unbegrenzt bis zur Pensionierung vergeben werden (wie früher die Pfründen und Lehen der Fürsten) statt durch eine Wahl, die nur für eine festgesetzte Amtsperiode gilt, nach der das Amt wieder neu durch demokratische Wahlen besetzt werden muss?
Ich meine: Es ist nicht gut für die demokratische Grundordnung, wenn die Demokratie im hübsch hergerichteten ersten Stock des Hauses wohnt und darunter im Erdgeschoss, wo ein großer Teil der alltäglichen Arbeit gemacht werden muss und die entsprechenden Entscheidungen gefällt werden müssen, große Spielräume eines obrigkeitsstaatlichen Amtsverständnisses bestehen bleiben.
Das ist aber nur die eine Hälfte des Problems. Als im 18. bis 20. Jahrhundert die demokratischen Bürgerrechte erkämpft wurden, da gab es als oberste gesellschaftliche Größe die Reste der Feudalstaaten und die daraus hervorgegangenen Nationalstaaten. In langen und mühsamen Prozessen wurden für die verantwortlichen Spitzenämter des Staates demokratische Rahmenbedingungen entwickelt und durchgesetzt. Damit schien die demokratische Verfassung der Staaten gut und dauerhaft verankert.
Im 20. Jahrhundert wurde aber immer deutlicher, dass die Nationalstaaten allein nicht in der Lage sind, den globalen Herausforderungen der Gegenwart und erst recht der Zukunft gerecht zu werden. Und so wurden nach und nach viele übernationale Staatenbündnisse und globale Institutionen gegründet, wie die UN (Vereinte Nationen) EU (Europäische Union) der IWF (Weltwährungsfond), die Weltbank, die WTO (Welthandelsorganisation) usw. die einen beträchtlichen Teil der Verantwortung, die bis dahin von den Länderregierungen getragen wurde, übernahmen, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. Die entscheidenden Gremien tagen geheim, ihre Vertreter sind nicht demokratisch gewählt, ihre Regeln und Gesetze werden nicht in einem parlamentarischen Prozess erarbeitet und kontrolliert. Gleichzeitig sind vielfach diese Regeln und Gesetze den demokratisch entstandenen Gesetzen der einzelnen Staaten übergeordnet. Erst in den letzten Jahren sind in der EU vorsichtige Entwicklungen in Gang gekommen, die ein Mehr an Demokratie ermöglichen (Wahl des Europa-Parlaments, Wahl des Kommissionspräsidenten); das meiste wird aber immer noch durch nicht demokratisch legitimierte Gremien entschieden.
So haben wir nur auf der mittleren Ebene politischer Verantwortung (in den einzelnen Ländern) demokratische Wahlen und Kontrollen, während sich drunter und drüber ausgesprochen undemokratische Verhältnisse etabliert haben, die sich jeder demokratischen Kontrolle entziehen. Die Demokratie wurde im ersten Stock des politischen „Hauses” eingesperrt. Aber sie darf nicht auf Dauer dort eingesperrt bleiben, wenn nicht die Demokratie als Gemeinschaftsform insgesamt Schaden leiden soll. Sie hat ja schon von ihrer eigenen Konstruktion her genug eigene Grenzen und Gefahren.
3 Die Parteien-Demokratie
Jahrtausendelang ist die Menschheit ohne politische Parteien in Form von festgefügten Organisationen mit ideologischer Ausrichtung ausgekommen. Eine politische „Parteienlandschaft“ in der uns heute vertrauten Form gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Nun aber scheinen Parteien für politisches Handeln völlig unentbehrlich zu sein. Kein Staat rund um den ganzen Globus ohne „staatstragende“ Partei(en), gleich, ob es sich um funktionierende Demokratien handelt, oder um schreckliche, gewalttätige Diktaturen. Auch in wirklich demokratischen Staaten haben die Parteien alles politische Handeln so für sich vereinnahmt, dass ohne sie nichts, aber auch gar nichts geht. Selbst wenn in den Verfassungen ausdrücklich steht, dass die Abgeordneten der Parlamente frei und nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, so zeigt die Realität doch, dass die Parteien, ihre leitenden Personen und Gremien, das Verhalten der Abgeordneten (abgesehen von wenigen Ausnahmen) bis ins Detail festlegen und bestimmen. Die „Volksvertreter“ sind längst und fast ausschließlich zu „Parteienvertretern“ geworden. Und die meisten von ihnen nehmen das nicht einmal als Problem wahr, sondern meinen, dass sie die Interessen des Volkes dann am besten vertreten, wenn sie sich strikt an die Vorgaben ihrer Parteiführung halten. Außerdem werden in dem ganzen riesigen Verwaltungsapparat des Staates (der zwar nicht die politische Verantwortung für staatliches Handeln hat, aber doch weitgehende Handlungsspielräume bei der Umsetzung der politischen Vorgaben) die leitenden Positionen nicht durch demokratische Wahlen besetzt, sondern durch Berufung „von oben“, einem Verfahren, auf das die Parteien einen erheblichen Einfluss nehmen (siehe den Abschnitt „Die eingesperrte Demokratie“).
Angehörige einer Partei sind – wie könnte es anders sein – parteilich. Sie nehmen (bestenfalls!) Partei für eine bestimmte Gruppe im Volk, z. B. für Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, oder sie nehmen Partei für ein bestimmtes politisches Anliegen, z. B. für Planwirtschaft oder Marktwirtschaft, und sie tun dies auf der Basis von Grundüberzeugungen, die ihre Parteilichkeit ideologisch begründen. Manche Parteien nennen sich sogar „Volksparteien“ und merken den Widerspruch nicht, der schon in diesem Begriff liegt. Das Volk ist das Ganze und eine Partei ist ein Teil. Eine Volkspartei wäre also ein Teil, der das Ganze umfasst, und damit ein Widersinn in sich. Noch dazu, wenn es mehrere „Volksparteien“ nebeneinander gibt, also mehrere Teile, von denen jedes meint, das Ganze zu sein oder zu vertreten.
Parteifunktionäre sprechen (vor allem in Wahlkampfzeiten, und die dauern für sie vom Tag nach der Wahl bis zum nächsten Wahltag) von anderen Parteien und deren Vertretern immer als von „Gegnern“, ganz Gemäßigte sprechen manchmal auch nur von „Konkurrenten“. Aber fast alle empfinden den Funktionär der anderen Partei als „Feind“, den es zu bekämpfen gilt (ich übertreibe und vereinseitige hier und im Folgenden etwas, um in der Zuspitzung die Aussage zu verdeutlichen).
Einem Parteifunktionär wird es kaum jemals gelingen, etwas Gutes, das eine andere Partei zu Stande gebracht hat, anzuerkennen und zu unterstützen. Ja, er freut sich über jedes Scheitern der anderen Parteien, auch wenn es zum Schaden des ganzen Volkes wäre, weil es die eigenen Wahlchancen erhöht. Parteifunktionäre sehen eine wesentliche Aufgabe für sich darin, Erfolge der anderen Parteien zu verhindern, oder wenn das nicht geht, sie wenigstens klein zu reden. Denn nur so können sie die eigene Partei als die bessere Alternative anbieten. Und so behindern und blockieren sich die Parteien aus eigennützigen Motiven gegenseitig bis hin zur Lähmung der Politik zum Schaden aller.
Parteifunktionäre sind zur verantwortlichen Wahrnehmung von leitenden Ämtern in einem demokratischen Staat von Haus aus grundsätzlich ungeeignet (seltene Ausnahmen bestätigen die Regel). Ihre Parteilichkeit behindert und verhindert eine erfolgreiche Arbeit für das Ganze. Und nicht nur das: Der Zwang, sich durch einen Parteiapparat nach oben kämpfen zu müssen, um eine Führungsaufgabe im Staat wahrzunehmen, bringt einen ganz bestimmten Typus von Menschen in Machtpositionen, nämlich solche, deren hervorragende Fähigkeiten nicht in einer guten Regierung und Verwaltung bestehen, sondern im Verdrängen von Konkurrenten, im Ausschalten fähiger Mitbewerber. Ihr Bestreben ist immer darauf gerichtet, zu verhindern, dass andere sichtbare Erfolge haben, weil diese dann sie selbst auf der Karriere-Rennstrecke überholen könnten. Sie haben gelernt, sich selbst in den Vordergrund zu spielen, die Positionen und Begabungen anderer so zu nutzen, dass sie der eigenen Karriere dienen und zugleich die Arbeit begabter und fähiger Konkurrenten (auch in der eigenen Partei) zu behindern und deren sichtbare Erfolge zu verhindern.
Dann aber, in der Führungsposition angekommen, müssten sie genau das Gegenteil tun und können: nämlich fähige Mitarbeiter heranziehen, sie nach ihren Fähigkeiten optimal einsetzen und sie erfolgsorientiert unterstützen. Das aber haben solche Leute nie gelernt und nur in Ausnahmefällen wird es ihnen dann gelingen.
4 Die Ohnmacht nationaler Demokratien gegenüber dem Anspruch und Zugriff globaler Mächte
Globale Wirtschafts- und Finanzakteure und neuerdings auch globale IT-Unternehmen sind unterdessen so mächtig, dass auch die größten demokratischen Staaten der Erde sie nicht mehr kontrollieren und regulieren können. Die Institutionen der „Global Player“ und der Umfang ihrer Aktivitäten sind so groß, dass ihr (oft selbst verschuldetes, manchmal sogar durch kriminelle Handlungen verursachtes) Scheitern selbst die stärksten Volkswirtschaften mit in den Untergang reißen würde, sodass sich die Staatenwelt gezwungen sieht, mit Steuergeldern sogenannte „systemrelevante“ Finanz- und Wirtschaftsstrukturen am Leben zu halten, von denen sie weiß, dass sie dem Gesamten der Weltwirtschaft mehr schaden als nützen. (Z. B. kann in einem Bundesland der Bundesrepublik Deutschland ein US-amerikanischer Unternehmer in wenigen Monaten eine Fabrikanlage aufbauen, für die einheimische Unternehmer jahrelang mit Behörden und Umweltverbänden hätten streiten müssen, er aber (und der Druck und die die Verlockungen seiner Finanz- und Wirtschaftsmacht) war so mächtig, dass er alle Bedenken mit einer Hnadbewegung zur Seite wischen konnte).
Im Besonderen können globale Mächte der Beeinflussung mit Hilfe des Internet globale Meinungsbildungs-Prozesse steuern und weltweit akzeptierte Einstellungen prägen. Das Internet wandelt sich zusehends vom demokratischsten Medium der Menschheitsgeschichte zum erfolgreichsten Instrument zur Steuerung globaler Beeinflussungsstrategien. Jeder Versuch, wenigstens die schlimmsten Auswüchse menschenverachtender Inhalte und Aktivitäten im Internet zu unterbinden scheitert oft an der Unangreifbarkeit der global agierenden Medienmächte.
Am deutlichsten sichtbar wird die Ohnmacht der nationalen Demokratien bei ihrem Kampf gegen das internationale Verbrechen. Die organisiere Kriminalität ist weltweit aufgestellt und vernetzt. Die Polizeibehörden der Länder dagegen scheitern trotz einiger Zusammenarbeit an nationalen Grenzen und Zuständigkeiten. Außerdem neigt kriminelle Macht dazu, sich mit jeder Form legaler Machtausübung zu verbünden und zu tarnen. In vielen Regionen der Erde sichert das schnelle Geld aus verbrecherischen Systemen insgeheim die öffentlich-legale Macht der wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte. Und große Teile des Geldes, das heute mit aggressiven Spekulationen die weltweiten Finanzsysteme an den Rand des Zusammenbruchs treibt, stammt aus kriminellen Quellen, dem weltweiten Drogenhandel, Waffenhandel, Menschenhandel ….
Wir sehen:
- Die rein quantitativ gehandhabte Demokratie ist ethisch blind,
- die totale Vereinnahmung der Politik durch die Parteien ist ein entscheidendes Hindernis für erfolgreiches politisches Handeln, das dem Wohl des Ganzen dient
- und die Aktivitäten globaler Mächte haben die Handlungsmöglichkeiten der nationalen Demokratien längst überholt.
Es ist deshalb um des Überlebens der Demokratie und um des Wohlergehens der Menschen willen notwendig, das quantitative Mehrheitsprinzip durch qualitative Elemente zu ergänzen. So müsste es in einer globalisierten Welt ganz gewiss keine zentrale „Weltregierung“ geben und keine „Weltpolizei” (eine Schreckensvorstellung!), sondern je nach Bedarf Kooperation von selbständigen regionalen Kräften für überregionale Herausforderungen und Aufgaben, welche die regionalen Kräfte überfordern (davon wird noch zu reden sein).
Wir brauchen also, ergänzend zu den Institutionen und Strukturen der vor allem zahlenmäßig geordneten Demokratie, wie sie in den vergangenen Jahrhunderten errungen und ausgeformt wurden, Institutionen und Strukturen einer ethisch begründeten Demokratie, ohne die das demokratische Anliegen dem Druck der Egoismen nicht standhalten kann. Woher sollte aber so ein ethisch begründetes Element kommen? Wem könnten wir vertrauen, dass die Werte, die dadurch zum Zuge kommen sollen, sich nicht doch wieder gegen uns wenden? (Später, im Rahmen des Beitrags „Grundlagen einer ethisch begründeten Demokratie“ werden wir darauf zurückkommen)