Die Demokratie hat sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte als die dem Menschsein angemessenste und für ein friedliches Miteinander hilfreichste Organisationsform menschlicher Gemeinschaft erwiesen und bewährt. Allerdings ist sie bei einer rein quantitativen Handhabung mit großen Risiken behaftet. Heute ist die Demokratie außerdem mehr denn je durch eine Form von „Globalisierung“ gefährdet, welche die Regeln der national organisierten Demokratien mit globalen Strategien der Machtausübung, Beeinflussung und Ausbeutung unterläuft.
Demokratie als politisches System und als allgemeine Lebensform ist kein Selbstläufer. Sie muss, um lebens- und handlungsfähig zu sein gewollt, bejaht und aktiv gestaltet werden.
Um Missverständnisse gar nicht erst entstehen zu lassen, muss dabei betont werden, dass es hier nicht darum geht, das „Himmelreich auf Erden“ (also einen politischen, gesellschaftlichen, moralischen … Idealzustand) mit menschlichen Mitteln zu verwirklichen (das ist in der Vergangenheit schon oft genug furchtbar gescheitert). Es geht hier auch nicht darum, einen utopischen Idealstaat zu entwerfen, sondern darum, Ideen zu sammeln und Vorstellungen zu konkretisieren, in welche Richtung die moderne Demokratie in einer globalisierten Welt weiterentwickelt werden könnte und wie unter veränderten Rahmenbedingungen die Gaben und Fähigkeiten vieler zum Wohle aller zusammenwirken können.
Und das alles bewusst als vorläufige und menschlich unvollkommene „Übergangslösung“ auf der Grundlage der Überzeugung, dass nur der Schöpfer aller Dinge und allen Lebens selbst eine Gesellschaftsordnung gestalten kann, in der alle Ungerechtigkeiten aufgehoben und alles Unheil überwunden sein werden und dass immer dann, wenn Menschen selbst das Vollkommene, den idealen Staat, die „vollkommene Gesellschaft“, das „endgültige Heil“ schaffen wollen, sie die Menschheit in furchtbares Unheil stürzen (wie es in den vergangenen Jahrhunderten mehrfach geschehen ist, siehe das Thema „Die Revolution und ihre Kinder“, Beitrag „Die das Gute wollten“). Diese Überzeugung befreit uns von dem Druck, selbst eine „perfekte” Ordnung gestalten zu müssen: Wir brauchen nicht das Vollkommene durchzusetzen (was uns ohnehin nie gelingen wird) sondern nur das jetzt Mögliche ernsthaft anzustreben.
1 Wichtige Unterscheidungen
Grundlage für jede demokratische Verfassung ist die Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung aller Menschen, nicht aber die Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung aller Ideen, Absichten, Handlungsweisen und Ziele von Menschen. Alle Menschen haben eine unverlierbare von ihrem Schöpfer verliehene Würde. Das muss unangetastet bleiben. Aber die Ideen, Absichten, Handlungsweisen und Ziele von Menschen, die sind menschlichen (oft allzumenschlichen) Ursprungs und deshalb sind sie immer unvollkommen, ja oft egoistisch und menschenfeindlich, manchmal auch gewalttätig und mörderisch. Die Vergangenheit und die Gegenwart auf unserer Erde beweisen das millionenfach. Ob uns das gefällt oder nicht: Wir müssen unterscheiden zwischen den Menschen und ihrem Tun.
Und: Wir müssen (um der Überlebensfähigkeit der Demokratie und der Menschlichkeit willen) den Unterschied beachten zwischen den verschiedenen Auswirkungen, die menschliche Ideen, Absichten, Handlungsweisen und Ziele haben können: Lebenserhaltend oder lebenszerstörend, friedensfördernd oder konfliktverstärkend, gemeinschaftsfördernd oder gemeinschaftsgefährdend, persönlichkeitsstärkend oder persönlichkeitszerstörend, hilfreich oder schädlich, gerecht oder ungerecht … Oder mit anderen Worten gesagt: Nicht Menschen (nur deshalb, weil sie einer bestimmten Volksgruppe, Hautfarbe, Kultur, Religion … angehören) wohl aber menschliches Denken, Wollen und Tun können gut oder böse sein (siehe das Thema „gut und böse“). Oder, wenn uns die Begriffe „gut“ oder „böse“ nicht gefallen, dann nennen wir es eben (siehe oben) lebenerhaltend, friedensfördernd, gemeinschaftsfördernd, persönlichkeitsstärkend, hilfreich und gerecht bzw. jeweils das Gegenteil davon.
Ich weiß: Wer die Kategorien „gut“ und „böse“ in der öffentlichen Diskussion verwendet, gilt heute als rückständig und unerträglich moralisierend. Trotzdem, in der Realität dieser Welt ist es unübersehbar: Wer zwischen gut und böse keinen Unterschied machen will, wer gut und böse auf die gleiche Stufe stellt und beides gleich behandeln will, der macht ganz automatisch das Böse zur alles bestimmenden Kraft, denn das Böse hat (im Gegensatz zum Guten) keine Skrupel, seine Absichten mit Gewalt durchzusetzen – so man es denn lässt und ihm nicht wehrt. Wobei die Begriffe „gut“ oder „böse“ hier nicht als moralische Kategorien verstanden werden, sondern eher als rechtliche: Als „gut“ oder „böse“ in diesem Sinn gilt alles, was den grundlegenden Menschenrechten entspricht (und was zu ihrer Geltung für alle Menschen beiträgt), bzw. was ihnen widerspricht. Die Demokratie als Gemeinschaftsform größtmöglicher Mitmenschlichkeit muss immer gegen den Egoismus der Einzelnen und Gruppen durchgesetzt werden. Wer das Gute nicht „gut“ nennen will und das Böse nicht „böse“ macht sich mitschuldig daran, dass im Miteinander der Menschen und Gruppen, der Völker und Kulturen das Gute immer weniger und schwächer und das Böse immer mehr und stärker wird.
Das bedeutet: Die Demokratie braucht eine Selbstschutzfunktion, die auf die ethische Begründung von Ideen, Absichten, Handlungsweisen und Zielen bei Einzelnen und Gruppen achtet. Diese Selbstschutzfunktion beruht (ich wiederhole es) auf dem Prinzip der Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung aller Menschen, aber eben nicht auf der Gleichwertigkeit und Gleichbehandlung aller Ideen, Absichten, Handlungsweisen und Ziele von Menschen. Die heute rein quantitativ (zahlenmäßig) geregelten Demokratien (durchgesetzt wird das, was die Mehrzahl der Stimmen bekommt, nicht, was für die Mehrzahl der Menschen tatsächlich positive Auswirkungen hat) brauchen eine qualitative, d. h. ethisch begründete Ergänzung. Um in Zukunft und in einer globalisierten Welt lebens- und handlungsfähig zu sein, müssen die Entscheidungen der verantwortlichen Personen und Institutionen in demokratischen Gemeinwesen nicht nur anhand von zahlenmäßigen Mehrheiten erfolgen, sondern auch auf Grund von ethischen Grundpositionen. Und die national bzw. regional organisierten und damit in ihren Wirkungsmöglichkeiten begrenzten Demokratien brauchen eine Ergänzung durch eine globale Gesinnung des Miteinander und Füreinander. Das ist ja gar nichts Neues: Demokratien sind von Anfang an „qualitativ“ geregelt auf der Grundlage von Verfassungen, welche die elementaren Grundrechte für alle Bürger eines Landes garantieren sollen und auf der Grundlage von allgemeinen Menschenrechten, die für alle Menschen in allen Ländern auf allen Kontinenten diese Rechte sicherstellen sollen. Aber diese ethischen Grundlagen der Demokratie sind heute angefochtener als je und müssen weiterentwickelt werden, damit sie tragfähig bleiben können.
Freilich: Man kann Liebe und Güte (in Form von Zuwendung, Menschenfreundlichkeit, Verantwortung, Einfühlsamkeit, Hilfsbereichtschaft …) nicht einfordern und zur Verplichtung machen. Sie sind unverfügbar und frei und müssen es bleiben, obwohl sie eigentlich Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft sind. Aber man kann und muss das geltende Recht einfordern und zur Verpflichtung machen (siehe das Thema „Recht und Unrecht“, Beitrag 4 „Menschenrechte“), auch im gesellschaftlichen und politischen Diskurs, auch in den analogen und digitalen Medien und auch in der Kunst. Jede politisch und sonst gesellschaftlich wirksame Kraft und Bewegung kann und muss darauf verpflichtet werden, dass sie die Menschenrechte respektiert und ohne Einschränkungen für alle gleichermaßen zur Geltung bringt.
Eine Demokratie, die das nicht einfordert, schafft sich auf Dauer selbst ab (z.B. bei Wahlen, wo jede Stimme gleiches Gewicht hat, egal, ob sie für eine demokratische Partei mit menschenwürdigen Zielen abgegeben wird oder für eine Partei, die zu Ausgrenzung, Hass, Gewalt und Mord gegenüber Minderheiten in der Gesellschaft aufruft). Das bedeutet: Verantwortliche Positionen und Ämter in einer demokratischen Gesellschaft dürfen nicht ausschließlich nach dem Mehrheitsprinzip vergeben werden. Die Zulassung von Parteien zu demokratischen Wahlen darf nicht außer Acht lassen, dass es auch Demokratie- und Menschen-feindliche Bestrebungen geben kann. Parteien, die an politischen Wahlen teilnehmen wollen, müssen vorher anhand von Äußerungen und Handlungen ihrer Mitglieder mit der Fragestellung überprüft werden, dass sie keine antidemokratischen Ziele verfolgen und es muss Gerichte geben, die das überprüfen. Und wenn einer Partei dieser Nachweis der Demokratiefähigkeit beweisbar nicht gelingt, dann muss eine solche Parteie von den Wahlen ausgeschlossen werden. (Wobei ich mir bewusst bin, dass autoritäre Machthaber solche Regelungen auch missbrauchen könnten, um Konkurrenten auszuschalten. Aber es kann doch nicht richtig sein, notwendige Schranken gegen undemokratische Bestrebungen im politischen System wegzulassen, weil sie missbraucht werden könnten, wenn eine Demokratie schon gescheitert ist. Es geht ja zunächst einmal darum, zu verhindern, dass sie scheitert!)
Ich habe hier auch die Kunst angesprochen, mit großer Sorge (und mit dem Bewusstsein, dass man mich hier missverstehen wird). Kunst ist eine der ältesten und großartigsten Äußerungen menschlichen Geistes. Schon vor vielen Jahrtausenden schufen Menschen Kunstwerke, die noch heute beeindrucken und begeistern. Und auch heute leisten künstlerisch begabte Menschen Großartiges (obwohl der gegenwärtige „Kunstbetrieb“ vor allem das Spektakuläre mit Aufmerksamkeit und Geld überhäuft und Kunst als überragendes Können und kreative Gestaltungsleistung oft achtlos übersieht). Trotzdem: Es gibt die starke Tendenz, alles, was sich „Kunst“ nennt, von jeder ethischen Wertung und Verantwortung auszunehmen. „Kunst“ darf alles! Und das wirkt geradezu als Herausforderung und Einladung für alle antidemokratischen und menschenfeindlichen Kräfte, ihre Machenschaften „Kunst“ zu nennen und sie so gesellschaftlich unangreifbar zu machen. Im Endeffekt ist das Selbstzerstörung der Demokratie.
Man kann und muss jeder politisch oder sonst gesellschaftlich wirksamen Kraft und Bewegung aktiv entgegentreten, wenn sie die Menschenrechte in Frage stellen, öffentlich Stimmung gegen sie machen, zu ihrer Missachtung auffordern, sie bestimmten Gruppen verweigern wollen usw. Solchen Kräften und Bewegungen muss das Recht und die Möglichkeit entzogen werden, in den Gremien und Institutionen der Gesellschaft (z. B. in Parteien, Parlamenten, Regierungen … Schulen, Universitäten, Polizei, Gerichten … auch bei den öffentlichen Medien) mitzuwirken und/oder Einfluss auszuüben.
Das heißt in der Praxis: Es muss nicht nur ein zentrales Verfassungsgericht geben, das bei schon etablierten Parteien, Institutionen, Regierungen … mögliche Verstöße gegen die Grundrechte beurteilt, sondern es sollte zusätzlich in den Regionen dezentrale und untergeordnete Verfassungsgerichte geben, die dafür zuständig sind, schon bei entstehenden kleineren Bewegungen gegen menschenfeindliche Bestrebungen einzuschreiten und (z. B. bei einer Bürgermeister- oder Stadtratswahl) Einzelne oder Gruppierungen auszuschließen, die nachweisbar verfasssungsfeindliche Einstellungen pflegen und äußern oder z. B ein Konzert einer Musik-Gruppe verbieten, die schon oft und immer wieder hasserfüllte, menschenverachtende und verfassungsfeindliche Inhalte verbreitet hat (wobei solche Gerichte peinlichst darauf achten müssten, dass sie nicht dazu missbraucht werden, unliebsame Konkurrenten auszuschalten). Verfassungsrechtliche Grundentscheidungen müssen einem obersten Verfassungsgericht vorbehalten sein; aber um gegen vereinzelt aufkeimende menschenverachtende und demokratiefeindliche Bestrebungen vorzugehen, wären dieses überfordert. Allerdings muss dann das Recht bestehen, Urteile dieser untergeordneten Gerichte durch das oberste Verfassungsgericht überprüfen zu lassen und gegebenenfalls durch ein Grundsatzurteil zu korrigieren.
2 Das Gute fördern
Man muss zwischen gut und böse unterscheiden, sonst kann man dem Feindseligen, Böswilligen, Zerstörerischen nicht wehren. Aber es gibt noch einen zweiten Grund dafür, der in den gegenwärtigen Demokratien kaum irgendwo im Blick ist: Man muss zwischen gut und böse unterscheiden, um das Gute bewusst zu fördern. Das Böse geschieht von allein. Es entspricht ja meist den egoistischen Antrieben der Menschen, die in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte (und Vorgeschichte) im „Kampf ums Dasein“ gebildet wurden. Das Gute hingegen, das einander positiv Zugewandte, das Menschenfreundliche, sich gegenseitig Unterstützende, Hilfreiche (über die Grenzen der eigenen Familie, Sippe, Volksgruppe hinweg, auch über die Grenzen von privaten Vereinigungen oder politischen Parteien, von Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften usw. hinaus), das muss man fördern, bestätigen, unterstützen, manchmal auch belohnen. Und das ist für die Erhaltung der Demokratie noch wichtiger als die Abwehr des Bösen.
Eine ehrenamtliche Rot-Kreuz-Helferin, oder ein freiwilliger Feuerwehrmann, die ihre Freizeit opfern, um Menschen, die in einer Notsituation sind, beizustehen, die stehen heute in ihrem gesellschaftlichen Ansehen meist deutlich schlechter da, als andere, die durch aggressiv-egoistische Verhaltensweisen öffentliche Aufmerksamkeit erregen und Gewinne einstreichen. Aber: Solche soziale „Belohnung“ für unsoziales Verhalten kann man nur eine begrenzte Zeit durchhalten, bis die betreffende Gesellschaft als Ganzes ethisch implodiert oder gewalttätig explodiert. Deshalb ist es für den Zusammenhalt der Gesellschaft notwendig, diesen Vorgang umzukehren.
Warum sollte man nicht der Rot-Kreuz-Helferin und dem Feuerwehrmann (siehe oben) eine gesellschaftliche Anerkennung schaffen, indem man z. B. ihre Dienstzeiten beim Roten Kreuz oder bei der Feuerwehr positiv auf ihre Rentenansprüche im Alter anrechnet? Warum sollte man nicht z. B. eine Forschungseinrichtung an einer Universität für ein Projekt, das die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben in einem Großstadtquartier mit hohem Migrationsanteil aus verschiedensten Kulturen erforscht, nicht bewusst mit zusätzlichen öffentlichen Mitteln und vielseitiger Unterstützung fördern? Warum sollten Vorhaben, die eine positive soziale Entwicklung anstreben, nicht genau so (oder noch mehr) gefördert werden als Vorhaben, die auf einen technisch-wirtschaftlich-finanziellen Fortschritt hinzielen? Solche einzelne Beispiele müsste man zu einem allgemeinen System der Förderung von gesellschaftlich wertvollem Engagement ausbauen und verdichten. Selbstverständlich weiß ich auch, dass in totalitären Staaten Systeme öffentlicher Belobigung zum Nutzen der Machthaber missbraucht wurden (und werden). Aber es besteht doch in der Demokratie keine Verpflichtung, in jede Falle zu tappen, die uns von irgendwelchen zerstörerischen Mächten gestellt werden! Man könnte ja die Stellen, die über solche Förderungen entscheiden, als öffentlich-rechtliche Institutionen entwickeln, die unabhängig von jeder staatlichen Beeinflussung handeln.
In den folgenden Kapiteln sollen einige Grundsätze und konkrete Schritte in Richtung auf eine „ethisch begründete Demokratie“ beschrieben werden:
3 Vernetzte Vielfalt
Das Gesellschaftsmodell für eine demokratisch organisierte Menschheit der Zukunft in einer globalisierten Welt ist das „globale Netz“. Ein Netz hat keine „Spitze“ wie eine Pyramide und es ist auch nicht nur so stark wie seine schwächste Stelle (wie bei einer Kette). In einem Netz, vor allem in einem gewachsenes Beziehungsnetzwerk, hat jeder Knotenpunkt direkte oder indirekte Beziehungen zu sehr vielen anderen Knoten, und eine Schwachstelle, die irgendwo entstanden ist, kann durch stärkere Verbindungen in andere Richtungen und auf anderen Ebenen ausgeglichen werden. Das globale Netz kann eine Gesellschaftsordnung von großer Kraft und Kreativität sein.
Das Beziehungsnetz ist ja keine neue Erfindung des Internet-Zeitalters. Es ist die ursprünglichste und „natürlichste“ Form menschlicher Beziehungen. Schon vor Jahrtausenden bestand jeder Familienclan oder Stammesverband von Buschjägern und Früchtesammlerinnen aus einem Beziehungssystem: Familiengestützt und familienübergreifend, generationenbezogen und generationenüberschreitend, mit immer neu wechselnden Herausforderungen, Aufgaben und Positionen. Demgegenüber ist die hierarchische Pyramide ein künstliches und starres System, das jedem Glied der Gemeinschaft einen fast unverrückbaren Platz in ihrem Schichtenmodell zuweist.
Ja, das Modell des Netzwerkes ist noch viel ursprünglicher: Jedes Gehirn (auch schon bei Tieren, aber erst recht bei Menschen) ist ein Organismus aus Milliarden Nervenzellen und Billionen Verbindungen (Synapsen), der als (neuronales) Netzwerk funktioniert und nur als solches funktionieren kann. Und das Erstaunliche ist: Das Gehirn braucht für seine fantastische Leistungsfähigkeit keine Hierarchien. Es gibt keine „Königs- oder Chef-Neuronen“, die allen anderen sagen, was sie machen zu machen haben. Alle arbeiten mit allen zusammen und nur so, als „demokratisches Netzwerk der Gleichberechtigten“, ist das Gehirn flexibel, anpassungsfähig, lernfähig und kreativ. Ein Netzwerk ist das Gegenteil von Uniformität, denn es kann sehr verschiedene Individuen und Gemeinschaften miteinander in Verbindung und Beziehung bringen: Vernetzte Vielfalt.
Für eine solche Vernetzung bilden die modernen Kommunikationstechniken und das Internet nie dagewesene Voraussetzungen und Möglichkeiten. Mit ihrer Hilfe können sehr viele Menschen in verschiedenen Ländern und Kontinenten aus verschiedenen Völkern und Kulturen gleichzeitig in Kontakt treten, Informationen austauschen, Vorhaben planen, Arbeitsschritte miteinander abstimmen, Projekte voranbringen … Das bietet großartige Möglichkeiten für die Verwirklichung einer „ethisch begründeten Demokratie“ (freilich bietet es auch nie dagewesene Möglichkeiten des Missbrauchs zu egoistischen und zerstörerischen Zwecken).
In einer qualitativen, das heißt ethisch begründeten Demokratie kann nicht die formale Beteiligung des Volkes durch den einmaligen Wahlakt im Abstand von mehreren Jahren die einzige Form der Teilhabe am Aufbau und der Entwicklung des Gemeinwesens sein. Vielmehr muss jede/r Einzelne die Möglichkeit haben, auch jederzeit und direkt seine/ihre Meinungen, Fähigkeiten und Ziele in die gesellschaftlichen Prozesse mit einzubringen (ob er/sie diese Möglichkeit dann auch nutzt, ist deren eigene Entscheidung). Davon soll im nächsten Abschnitt die Rede sein:
4 Gesammelte Kraft
Aber kann es denn möglich und sinnvoll sein, komplexe gesellschaftliche, wirtschaftliche, rechtliche, kulturelle … Fragestellungen zufälligen Initiativen unbekannter Einzelner oder anonymer Netzwerke zu überlassen? Nun, solche Initiativen müssen keineswegs zufällig und anonym sein, und es ist durchaus möglich, dass aus Einzelinitiativen große und effektive Bewegungen werden, die große und für viele hilfreiche Wirkungen entfalten (nehmen wir als ein Beispiel von vielen die Entstehung der Organisation des internationalen Roten Kreuzes aus der Initiative eines Einzelnen heraus). Offensichtlich ist es möglich, dass Gemeinschaften aus vielen Einzelnen und kleinen Gruppen, weltweit verstreut, aber über das Internet verbunden und vernetzt, an sehr komplexen Aufgabenstellungen arbeiten und dabei zu Ergebnissen kommen, die sich mit den Produkten und Arbeitsergebnissen hochbezahlter Spezialisten in machvollen Weltkonzernen messen können. Ein Beispiel dafür: Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ging der Siegeszug des Computers um die Welt und mit ihm auch der Siegeszug bestimmter Betriebssystem- und Anwendungsprogramme, die innerhalb weniger Jahre durch Ausnutzung ihrer Marktmacht und aggressiver Verkaufsstrategien zu Weltstandards wurden und ihren Besitzern jedes Jahr satte Milliardengewinne einbrachten. Dann aber, Ende des 20. Jahrhunderts, tauchten Programme auf (z. B. Büro-Programm-Systeme), die qualitativ mindestens gleichwertig, zugleich aber kostenlos waren.
Wie war das möglich? Nun, es wurde möglich durch die Zusammenarbeit Tausender von freiwilligen Mitarbeitern, die verstreut über die ganze Erde, aber über das Internet vernetzt, unentgeltlich aber mit großem Einsatz jeweils an Teilbereichen dieser hochkomplexen Programme arbeiteten. So entstand jeweils rund um ein komplexes Projekt eine weltweite, aber hoch differenzierte „Community“ von Fachleuten, ohne die es gar nicht möglich wäre, solche Programme zu entwickeln. Dazu gab es relativ kleine Gruppen von Verantwortlichen, die die Arbeitsergebnisse sammelten, auswerteten, koordinierten und schließlich zur Veröffentlichung zusammenstellten. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel für so ein nicht-kommerzielles Netzwerk ist die Wissens-Plattform Wikipedia, aber auch sonst freie Programme für verschiedenste Anwendungen. Durch die freiwillige Zusammenarbeit vieler entstand etwas Neues, das nicht mehr ausschließlich am Gewinn orientiert war*. So ähnlich, wenn auch mit anderen Inhalten, Motivationen und Zielsetzungen kann man sich die Beteiligung von Einzelnen und Gemeinschaften an einer qualitativen Demokratie vorstellen. Jeder soll das Recht und die Möglichkeit haben, sein Wissen, seine Fähigkeiten, seine Vorstellungen und Ziele jederzeit in die gesellschaftlichen Prozesse einzubringen. Gruppen weltweit oder regional vernetzter Teilnehmer könnten an bestimmten Projekten, z. B. an der Lösung wichtiger humanitärer, sozialer, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer, technischer … Probleme zusammenarbeiten, die Bürger befragen, Expertenmeinungen einholen, Lösungsansätze entwickeln, Teilbereiche ausarbeiten, Pläne entwerfen, Details klären usw. Dann bräuchte es nur noch relativ kleine Einheiten von gewählten und beauftragten Verantwortlichen, welche die Beiträge sammeln, auswerten, verschiedene Lösungsansätze vergleichen und erproben und zusammenstellen.
* Gegenwärtig erleben wir allerdings, wie diese freien Programme von den IT-Weltkonzernen, die mit den Daten ihrer Nutzer riesige Gewinne machen wollen, immer mehr an den Rand gedrängt werden). Warum kann man eigentlich solche freien Initiativen nicht durch Zuwendungen der Allgemeinheit fördern (freilich unter vorgegebenen Rahmenbedingungen), ohne ihnen ihre Freiheit zu nehmen?
Dazu müsste allerdings das gesamte gesellschaftliche und politische System daraufhin ausgerichtet sein, solche Mitarbeit zu fördern, ihre Ergebnisse aufzunehmen und ernst zu nehmen, sie zu werten und zu koordinieren und in die konkreten Entscheidungen und Vorhaben der Gemeinschaft mit einzubeziehen. Die Ideen und Vorschläge der Bürger sind wesentliche Bestandteile demokratischer Willensbildung und nicht störende Eingriffe in die internen Prozesse der Machtausübung. Allerdings müssten alle „Sammelstellen“ solcher Initiativen darauf ausgerichtet und dafür eingerichtet sein, anhand vorgegebener Kriterien (z. B. anhand der formulierten Menschenrechte) solche Initiativen auszusortieren, die nicht Mindestanforderungen an allgemeiner Mitmenschlichkeit entsprechen.
5 geförderte Mitwirkung
Entscheidend ist, dass demokratische Institutionen in der globalen Gesellschaft ganz selbstverständlich und ganz bewusst darauf ausgerichtet sein müssten, die Mitwirkung interessierter Einzelner und potenter Gemeinschaften nicht nur auf den Wahlvorgang alle paar Jahre zu beschränken, sondern sie jederzeit herauszufordern, zu fördern und zu stärken. Wobei demokratische Wahlen damit nicht unnötig oder gar falsch wären; sie bedürfen aber der Ergänzung durch die ständige Mitarbeit vieler zum Wohle des Ganzen, wobei es darauf ankommt, dass solche Mitarbeit von den jeweils leitenden Organen wirklich aufgenommen und ernst genommen wird.
Dazu wäre es notwendig, dass die entsprechenden Gremien (in einem Amt, einer Schule, einer Universität, einer öffentlich-rechtlichen Medienanstalt, einem Ministerium, …) so angelegt und geschult werden, dass sie in der Lage sind, die Anliegen und Vorstellungen der Bürger aufzunehmen, ihre Lösungsansätze ernst zu nehmen und weiterzuentwickeln, verschiedene Strategien und Handlungsvorschläge miteinander in Beziehung zu setzen, Gespräche in Gang zu bringen, vielversprechende Projekte zu fördern, Pläne auszuarbeiten, Vorgehensweisen abzustimmen … Auf solche Weise würde sich die demokratische Verantwortung der ganzen Volksgemeinschaft innerhalb einer „ethisch begründeten Demokratie“ viel konkreter, vielfältiger und wirkungsvoller darstellen, als es durch den einmaligen Wahlakt im Abstand von mehreren Jahren möglich wäre.
Institutionen in einer „qualitativen“ Demokratie haben in ihrer Gesamtheit zwei Aufgaben: Das Böse zurückzudrängen (dazu gibt es die Polizei und Gerichte) und (aber das geschieht gegenwärtig fast nie) das Gute herauszufordern, es in der Vorbereitungs- und Projektphase zu fördern und ihm zur Verwirklichung zu helfen.
Die einzelnen Institutionen (z. B. Ministerien, Behörden, Stadtratsausschüsse …) in einer qualitativen Demokratie müssten daher jeweils aus aus zwei Abteilungen bestehen:
- a) Eine erste Abteilung zur Verwaltung des jeweiligen Zuständigkeitsbereiches entsprechend den gesetzlichen Vorgaben (so wie es schon jetzt ganz selbstverständlich in allen Institutionen einer Demokratie geschieht).
- b) Eine zweite Abteilung zur inhaltliche Weiterentwicklung der Demokratie im jeweiligen Zuständigkeitsbereich durch aktive Einbindung von Bürgerinitiativen, die nicht den komplizierten Umweg über Unterschriftensammlungen, Volksbegehren usw. gehen müssten, sondern die jederzeit direkten Zugang zu den Entscheidungsgremien hätten (und das geschieht fast nirgendwo und deshalb müsste das initiiert, in Gang gesetzt und immer weiter ausgebaut werden). Freilich müsste man dann unterscheiden zwischen Anregungen, die zeitnah und unkompliziert innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens umsetzbar wären, und solchen mit übergeordneter Bedeutung, die einer gesetzlichen Neuregelung bedürfen und für das Gemeinwesen einheitlich geregelt werden müssen.
Dabei wäre es aber absolut selbstmörderisch für die Demokratie, wenn man beliebig und unterschiedslos allen Strömungen und Bestrebungen (egal ob friedlich oder hasserfüllt, aufbauend oder zerstörerisch, hilfreich oder schädigend …) gleichermaßen freie Bahn machen würde. Es braucht die Möglichkeit zur Entscheidung für bestimmte Projekte und gegen andere anhand von objektiven demokratisch-ethischen Kriterien (siehe den folgenden Abschnitt).
Priorität für die Annahme und Förderung hätten dann Vorschläge, die allen diesen Kriterien entsprechen. Projekte, die zwar einige Aspekte stark betonen, anderen aber widersprechen, müssten erst noch weiterentwickelt werden, ehe sie zur Verwirklichung kommen. Das alles aber wäre nur möglich auf dem Fundament einer ethischen Grundhaltung, die wenigstens in ihren tragenden Elementen, von der überwiegenden Mehrheit bejaht und befolgt werden.
6 Kriterien für die ethische Bewertung von Vorhaben
In der konkreten Anwendung, vor allem, wenn es darum geht, Vorschläge, Vorhaben und Projekte von Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft dahingehend zu bewerten, ob sie von der Allgemeinheit unterstützt und gefördert werden sollen, müssen diese ethischen Grundüberzeugungen „übersetzt“ werden in handhabbare und nachprüfbare Kriterien, anhand derer man auch auch eindeutige Entscheidungen fällen kann. Dabei wäre es absolut selbstmörderisch für die Demokratie, wenn man beliebig und unterschiedslos allen Strömungen und Bestrebungen (egal ob friedlich oder hasserfüllt, aufbauend oder zerstörerisch, hilfreich oder schädigend …) gleichermaßen freie Bahn machen würde. Die Demokratie schafft sich selbst ab, wenn sie keine Maßstäbe setzt, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht.
Das erste und wichtigste Kriterium ist, dass Vorhaben nicht gegen die festgeschriebenen Menschenrechte verstoßen dürfen (siehe oben, Abschnitt 1 „Menschenrechte“). Das genügt aber nicht. Es braucht auch die Möglichkeit zur Entscheidung für bestimmte Projekte und gegen andere anhand von qualitativen Kriterien, die nicht nur sagen, was ist erlaubt und was ist verboten, sondern auch, welche Vorhaben und Vorgehensweisen einem demokratischen Gemeinwesen entsprechen (und deshalb gefördert werden sollen) und welche nicht. Ich versuche hier einige solche „qualitativen Kriterien“ zu nennen, die den oben genannten „ethischen Grundüberzeugungen“ entsprechen und ihnen in konkreten Bezügen zur Geltung verhelfen könnten. Bürgerinitiativen sind dann zu fördern, wenn sie folgenden inhaltlichen Grundanforderungen entsprechen:
- hilfreich: Das Vorhaben bewirkt eine Verbesserung der Situation für alle, die irgendwie davon betroffen sein können (nicht: Was dem einen nützt, schadet dem anderen).
- gerecht: Das Vorhaben hat vergleichbar positive Auswirkungen für alle, die davon betroffen sein können (nicht: Die einen haben viel davon, andere wenig oder gar nichts).
- lebenserhaltend: Das Vorhaben bewirkt, dass menschliches Leben von der Zeugung bis zum Tode, aber auch die Biosphäre der Erde und die Artenvielfalt des Lebens geschützt und gestärkt werden.
- friedensfördernd: Das Vorhaben bewirkt, dass das Zusammenleben aller betroffenen Menschen im allgemeinen und persönlichen Bereich konfliktfreier, vertrauensvoller und in gegenseitiger Annahme und Wertschätzung verlaufen kann.
- gemeinschaftsbildend: Das Vorhaben bewirkt, dass der Zusammenhalt unter den betroffenen Menschen, ihr Miteinander und Füreinander gefördert und gestärkt werden.
- persönlichkeitsstärkend: Das Vorhaben bewirkt, dass die Individualität, Selbstwert-Erfahrung und Eigeninitiative möglichst aller betroffenen Menschen gefördert und gestärkt werden können.
Priorität für die Annahme und Förderung durch die Allgemeinheit haben Vorschläge, die allen diesen Kriterien entsprechen. Projekte, die zwar einige Aspekte stark betonen, anderen aber widersprechen, müssten erst noch weiterentwickelt werden, ehe sie zur Verwirklichung kommen.
Zusammenfassend können wir sagen: Weltweit anerkannte und angewandte Menschenrechte, gemeinsame ethische Grundüberzeugungen und dazu Kriterien für die ethische Bewertung von Vorhaben könnten zusammen das Fundament einer „ethisch begründeten Demokratie“ bilden.