„Der Papa (oder die Mama) ist groß und stark, bei ihm (ihr) geht es mir gut und mir kann nichts Schlimmes passieren“. So fühlt sich ein Kind an der Hand des Vaters (oder der Mutter) und das ist auch gut so. Weniger gut ist es, wenn Millionen von Erwachsenen in einem Land so von ihrem Staat und deren verantwortlichen Politikern denken. Die Sehnsucht nach dem „starken Staat“ mit dem „starken Mann“ an der Spitze ist Merkmal einer Gesellschaft, die sich (politisch gesehen) aus kindlichen Abhängigkeiten noch nicht gelöst hat. Freilich muss man beim Blick auf die jubelnden Massen in autoritären Staaten etwas differenzierter hinschauen: Die einen jubeln, weil sie als Teil des Systems von ihm profitieren (Ämter, Macht, Reichtum …), die andern jubeln, weil sie Angst haben vor den bösen Folgen, wenn sie nicht jubeln würden. Höhenrausch ideologischer (nationaler, sozialer, kultureller, religiöser …) Selbstübersteigerung einerseits und andererseits Angst vor brutaler Gewalt, Folter und Mord durch die „Organe“ des totalitären Regimes, das sind die „Säulen der Macht“ auf denen Diktaturen aufgebaut sind.
Ganz anders eine Demokratie. Eine „erwachsene“ Demokratie besteht aus einer Mehrheit von erwachsenen Menschen, die sich aus eigener Einsicht, Überzeugung und Verantwortung an der Erhaltung und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen und politischen Realität ihres Landes beteiligen und die sich dabei auf ethische Grundpositionen des Menschseins berufen. Deshalb kann auch eine Demokratie niemals den Rausch der Selbstüberhöhung und der Macht bieten (ein Rauschzustand, der seine Energien immer auch aus der Selbst-Erhebung über „die anderen“ und aus der Verachtung und dem Hass gegenüber „den Feinden“ bezieht), wie das in einer Diktatur selbstverständlich und systemnotwendig ist. Als die Bewunderer und Profiteure des „Nationalsozialismus“ in Deutschland am Ende des 2. Weltkrieges aus ihrem nationalistischen Höhenrausch erwachten, konnten sie oft selbst kaum fassen, zu welcher Entmenschlichung des Denkens und Handeln sie ihren Beitrag geleistet hatten.
Demokratie ist Selbstbewusstheit und Selbstorganisation einer Gemeinschaft zum Wohle aller Beteiligten mit den Mitteln begrenzter Vollmacht, gemeinsamer Verantwortung und offener Kommunikation. Aber das zu verwirklichen ist gar nicht so einfach: Unsere Vorstellungen von „Herrschaft” stammen weitgehend aus der Erfahrung von Jahrtausenden: Einer oder wenige „da oben” bestimmen, was zu geschehen hat und die vielen „hier unten” müssen gehorchen. Und dies, weil angeblich nur so Großartiges geleistet werden kann: Der Bau der Pyramiden von Gizeh, die Eroberung eines Weltreiches durch Alexanders den Großen, der Aufbau des römisch-byzantinischen Cäsaren-Reiches, die Kolonisierung Amerikas, Afrikas und Südasiens, der Absolutismus des „Sonnenkönigs” und die Schlösser von Versailles … Die Frage ist allerdings: Können wirklich nur große Einheiten mit zentralen Machtpositionen Großes vollbringen und ist die Demokratie wirklich (wie oft gesagt wird) eine Gemeinschaftsform der Mittelmäßigkeit und der Langeweile? Manchen gilt die Demokratie als blutleere Vernunftverfassung, die dem periodisch aufflammenden Wunsch nach Begeisterung, nach gesteigerter Emotionalität und rauschhaftem Gemeinschafts-Erlebnissen auf Dauer nicht befriedigen kann.
Die Zeitspanne der Demokratisierung (die ja in der Realität bisher nur in wenigen Ländern einigermaßen konsequent verwirklicht wurde) ist im Vergleich zur Jahrtausend-Erfahrung mit absoluten Mächten geradezu winzig. Und auch da empfinden sich die Regierenden, wenn sie denn einmal gewählt sind, gern als „Herrscher auf Zeit”. Trotzdem: In den wenigen wirklich demokratischen Ländern und von ihnen ausgehend hat sich in kürzester Zeit das Gesicht der Erde stärker verändert (und zum Positiven hin verändert!) als je zuvor: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten so viele Menschen Anteil an Wohlstand, Rechtssicherheit, Freiheit, Frieden, Bildung, Gesundheits- und Altersvorsorge … wie in diesen demokratischen Ländern, und das trotz aller Mängel an demokratischer Gesinnung, die auch dort bei vielen der Beteiligten immer noch vorhanden sind.
Die Frage ist: Sind wirklich nur zentralistische Machtkonzentrationen in der Lage großartige Gemeinschaftsleistungen zu vollbringen? Und selbst wenn es so wäre (und wir werden sehen, es ist nicht so), dann bliebe noch die viel wichtigere Frage: Sind die Pyramiden von Gizeh und die Schlösser von Versailles oder die Eroberung großer Reiche und die Kolonialisierung ganzer Kontinente wirklich eine größere und wertvollere Menschheits-Leistung als Frieden und Wohlstand für möglichst viele, ja, möglichst alle Menschen (auch wenn Letzteres niemals vollständig gelingt)?
Es geht um unsere Grundeinstellungen: Wenn es darauf ankommt, dass wir die Stärksten sind, damit unser Eigenes gesichert ist und wächst und niemand uns etwas antun oder wegnehmen kann, ja, dass wir selbst uns nehmen können, was uns gefällt, dann sind eben Macht, Militär und Moneten die entscheidenden Mittel zur Selbsterhaltung und Selbstüberhöhung. Wenn es aber darauf ankommt, im Frieden miteinander zu leben, so dass jeder seine besten Eigenschaften und Fähigkeiten in die Entwicklungsprozesse der Menschheitsgemeinschaft mit einbringen kann, und jeder Anteil bekommt an den Werten und Errungenschaften der Gemeinschaft, dann sind Offenheit, Zusammenarbeit und gegenseitige Rücksichtnahme wichtiger und richtiger. (Wobei man dann trotzdem immer noch bereit sein muss, den egoistischen und aggressiven Impulsen von innen und außen, die nie ganz zu überwinden sind, auch entschieden entgegenzutreten).
Wichtig ist: Solche Grundeinstellungen (Egoismus oder Mitmenschlichkeit) sind nicht vorgegeben und zwangsläufig, auch wenn uns unser natürlicher Egoismus gern in eine bestimmte Richtung führen will (siehe das Thema „Friede auf Erden“ im Bereich „Grundlagen der Gesellschaft“). Die Zukunft ist grundsätzlich offen. Wir können (und müssen!) wählen, ob wir uns einer lustvoll rauschhaften Selbstüberhöhung hingeben wollen (die im Verborgenen mit den unmenschlichste Verbrechen an den „Feinden“ erkauft wird und mit dem ungeheuerlichsten Leiden der „anderen“, der nicht dazugehörenden bezahlt wird) oder ob wir einen (manchmal mühsamen) Weg des Miteinander und Füreinander der Völker und Kulturen, der Weltanschauungen und Religionen suchen und gehen wollen. Wir können und müssen wählen und entscheiden! Das Furchtbare an den großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts war ja nicht, dass es wahnsinnige und machtbesessene Menschen gab wie Hitler, Stalin, Mao … (Wahnsinnige gibt es immer, es kommt nur darauf an, ob die in einer psychiatrischen Klinik betreut werden oder ob sie in der Machtzentrale eines Staates herrschen), das wirklich Furchtbare an diesen Diktaturen war, dass so viele Millionen „normaler“ Menschen ihren Wahn-Ideen so bedingungslos gefolgt sind!
In der geschichtlich gesehen sehr kurzen Dauer ihrer praktischen Erprobung hat sich die Demokratie trotz aller Schwächen, die ihr anhaften, als die menschlichste und erfolgreichste Form gesellschaftlicher Ordnung erwiesen. Trotzdem: Gibt es nicht Gemeinschaftsaufgaben der Gesellschaft, die so umfassend und so bedeutend sind, dass sie große und stabile Rahmenbedingungen in Form von hierarchisch gegliederten Zuständigkeiten und eindeutigen Befehlsstrukturen mit einer höchsten Macht an der Spitze brauchen? Die meisten von uns werden geneigt sein, diese Frage aus den Erfahrungen der Vergangenheit heraus mit „ja“ zu beantworten. Wir haben einfach zu wenig Erfahrungen mit herrschaftsfreien* Gemeinschaftsformen angesichts großer Herausforderungen. Deshalb greifen wir auch in einer immer stärker globalisierten Welt, oft ohne das zu bedenken, auf Muster zurück, die uns vertraut sind, auch wenn sie aus einer Vergangenheit stammen, aus der die Gegenwart längst herausgewachsen ist und deren Mittel und Vorgehensweisen sich für die anstehenden Aufgaben als wenig geeignet erweisen: National begründete Einzelstaaten mit hierarchisch geordneten Befehlsstrukturen, und das, obwohl die Realitäten unserer Gegenwart uns schon ganz andere Möglichkeiten und Tendenzen aufzeigen (wir werden darauf noch zurückkommen).
* „Herrschaftsfrei“ heißt hier gewiss nicht anarchistisch (das wäre nur die Rückkehr zum Gewaltrecht des Stärkeren), sondern demokratische Ordnungen auf der Grundlage von Kooperation statt Hierarchie.
Gegenwärtig wird die angebliche „Schwäche“ der Demokratie oft an der Frage „Freiheit oder Sicherheit?“ festgemacht. Diese beiden Begriffe benennen einige der drängendsten Fragen gegenwärtiger Politik:
> Wieviel Freiheit muss man notfalls opfern, um ein ausreichendes Maß an Sicherheit zu gewährleisten?
> Wieviel Überwachung und Reglementierung sind in Zeiten terroristischer Bedrohung (oder in der Gefahr für Gesundheit und Leben durch eine sich als Pandemie entwickelnde Krankheit) unumgänglich, um das Leben der Menschen zu schützen und wo schlägt die Überwachung in umfassende Bespitzelung und die Reglementierung in totalitäre Unterdrückung um?
> Muss man selbst Krieg führen (oder Länder, die angegriffen werden, mit Waffenlieferungen unterstützen), um machthungrige Diktatoren daran zu hindern, ihren Machtbereich stetig zu erweitern?
> Kann man das Internet als freies, überall verfügbares und für jeden zugängliches Medium erhalten, angesichts der Tatsache, dass es zunehmend für kriminelle und radikalpolitische Zwecke missbraucht wird?
> Was kann man tun angesichts einer Entwicklung, durch die ganze Staaten und deren Regierung und Verwaltung von weltweit agierenden maffiös-kriminellen Verhaltensweisen und Organisationen überwuchert und korrumpiert werden?
> Wie kann man eine demokratische Gesinnung erhalten und stärken, wenn sehr mächtige Interessengruppen (z. B. Geheimdienste und „Beeinflussungsinstitute“), mit sehr viel Geld und Fachpersonal ausgestattet, bewusst eine „Gegenwelt“ aus gezielten Fehlinformationen, Misstrauen, Verunsicherung und Aggressivität erzeugen?
> Und wie kann man dem Machtgelüsten enthemmter und gewaltbereiter Diktatoren begegnen, ohne sich selbst in den Kreislauf von Macht und Gegenmacht, Gewalt und Gegengewalt ziehen zu lassen?
Auf solche Fragen angemessene und überzeugende Antworten zu finden, ist eine der großen Herausforderungen an die Demokratien in unserer Gegenwart (siehe dazu auch das Thema „Fragen der Zeit und Antworten des Glaubens“ im Bereich „Grundfragen des Glaubens“.
In den relativ wenigen wirklich demokratischen Ländern der Erde verstehen sich heutige „Regierungen” nicht mehr als Herrschaftsapparat sondern als Dienstleistungs-Institution. Aber können solche gesellschaftlichen und politischen Dienstleistungen dauerhaft gewährleistet werden, ohne an nationale Staatsgebilde mit hierarchisch aufgebauten Befehlsstrukturen gebunden sein, die immer auch die Tendenz zur Selbst-Verabsolutierung enthalten? Die verlockende Alternative, nämlich über-nationale und globale Superstrukturen zur Gefahrenabwehr zu schaffen (z. B. eine Art „Weltsicherheitsagentur“ mit weltweiten Überwachungs- und Handlungs-Vollmachten), trägt die noch viel größere Gefahr in sich, dass daraus globale Gleichschaltungs- und Unterdrückungsapparate werden könnten, deren Zugriff man (wegen ihrer weltweiten Zuständigkeit) nirgends mehr entkommen könnte.
Das klingt sehr pessimistisch. Aber das wäre ein Missverständnis. Es geht hier nicht um Resignation, sondern um einen Neuaufbruch für eine Demokratie mit Zukunfts-gestaltenden Ideen, menschenwürdigen Lebensbedingungen und lohnenden Perspektiven.
Die Zukunft der Demokratie braucht eine Weiterentwicklung der Staatengemeinschaft (der Vereinten Nationen) über den Stand von 1949 hinaus. Es kann nicht länger gelten, dass die „Siegermächte“ des 2. Weltkrieges als „ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrates“ Sonder-Rechte genießen, die alle anderen Staaten der Erde nicht haben, so dass sie jedes eigene Unrecht ungefährdet durchsetzen können und mit ihrem Veto-Recht jeden Versuch dem zu wehren, zunichte machen können.
Die Zukunft der Demokratie braucht auch eine Weiterentwicklung ihrer gegenwärtigen Verhältnisse und Abläufe, der geltenden Regeln und zuständigen Institutionen, um in einer Phase zunehmender Globalisierung ihren grundlegenden Normen und Werten auch weiterhin Gültigkeit zu erhalten. Wenn die Demokratie „wehrhaft“ sein soll, dann muss sie nicht nur militärisch wehrhaft sein, sondern sie muss zunächst und noch viel wichtiger geistig wehrhaft sein mit einem gesicherten Vertrauen in die Stärke der Demokratie, das sich nicht von Lügen und Hetze im Internet verunsichern und destabilisieren lässt (Siehe das Thema „Wirklichkeit und Wahrheit“). Und: Die Demokratie muss auch spirituell „wehrhaft“ sein auf der Grundlage eines gefestigten Glaubens. Die Zukunft der Demokratie braucht vor allem auch eine spirituelle Begründung ihrer ethischen Fundamente auf dem das Miteinander und Füreinander der Einzelnen und Gemeinschaften bis hin zu Völkern, Kulturen und Religionen erlebt, gefestigt und weiterentwickelt werden kann.
Trotzdem müssen hier erst einmal einige Schwachstellen, Grenzen und Gefahren in den gegenwärtigen Demokratien erkannt und benannt werden (siehe den folgenden Beitrag).
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In den folgenden Beiträgen wurden im Zuge der Neubearbeitung auch Inhalte aufgenommen und eingeordnet, die bisher in verschiedenen anderen Themen und in jeweils anderem Zusammenhang schon vorhanden waren, die aber für den Gesamtzusammenhang im Thema „Krise der Demokratie“ wichtig sind.