Die Demokratie wurde in der Vergangenheit oft als Widerspruch zum Herrschaftsanspruch Gottes gesehen: Entweder es geht alle „Staatsgewalt“ (also alle Regierungsvollmacht) vom Volke aus (in der Demokratie) oder sie geht von Gott aus (im von Gott selbst erwählten und eingesetzten „Königtum von Gottes Gnaden“ und in der Kirche durch deren leitende Ämter). Die Herrschaft des Volkes wurde dann als Versuch der Entmachtung Gottes empfunden (und manchmal auch so gehandhabt, z. B. in der Französischen Revolution, als man die Kirchen im Namen des „Volkes“ gewaltsam in „Tempel der Vernunft” umwandelte). Diese Alternative ist aber falsch und entspricht auch nicht der biblischen Offenbarung. Wir sollten da einmal genauer hinschauen:
Als die Israeliten der Knechtschaft in Ägypten entflohen und nach dem Durchzug durch das Meer dem Herrschaftsbereich des ägyptischen Pharaos entkommen waren, da offenbarte Gott diesem Haufen entlaufener Sklaven, welche Ordnung er für ihre entstehende Volksgemeinschaft vorgesehen hatte: 2. Mose 19, 1-6: „Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: „So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“
Hier kommt, bei einer entscheidenden Weichenstellung der Heilsgeschichte, direkt von Gott eine ausdrückliche Anweisung, wie in dem von Gott besonders gerufenen und ausgesonderten Volk die Frage von Autorität und Herrschaft beantwortet werden soll. In allen Völkern rings umher gab es zwei Autoritäten: die königliche Autorität und die priesterliche. Die Könige hatten die „weltliche“ Autorität, die sich auf die Macht der Schwerter und Soldaten stützte und die durch einen hierarchischen Beamtenapparat ausgeübt wurde. Die Priester hatten die „geistliche“ Autorität, die für sich in Anspruch nahm, die sichtbare Vertretung der unsichtbaren Götter wahrzunehmen. Was sie sagten, war Wort der Götter, und was sie taten, geschah in deren Auftrag. Wer die Priester in Frage stellte, griff die Götter selbst an! So hatten beide, Könige und Priester fast unangreifbare Machtpositionen inne, die sie weit über das „gemeine Volk“ hinaushoben. Königtum und Priestertum waren sich gegenseitig Stützte ihrer Macht.
Hier aber, im biblischen Bericht von der Befreiung und Berufung der Israeliten als Volk Gottes, ist die Rede davon, dass ein ganzes Volk mit allen seinen Angehörigen, den Alten und Jungen, den Männern und Frauen, den Starken und Schwachen, den Mächtigen und den Unbedeutenden, den Armen und Reichen in ein „königliches Priestertum” eingesetzt werden soll. Eine völlig neue, noch nie dagewesene Form von Autorität und Herrschaft ist hier angesprochen. Und das nicht als wirklichkeitsferne utopische Idee, sondern als Aufforderung das Gemeinte tatsächlich zu verwirklichen: „Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“.
Das Reich Gottes, wie es in der Bibel dargestellt wird, ist eben kein monarchistisch zugespitzter Machtapparat mit einem absoluten Herrscher an oberster Stelle. Das Volk Gottes im Alten Testament (Israel) hatte jahrhundertelang gar keinen König, der sich auf die Macht der Schwerter stützen konnte, sondern „nur“ Propheten und Richter als Inhaber einer von Gott selbst eingesetzten und gestützten Autorität ohne menschliche Machtmittel. Als dann, Jahrhunderte nach den Ereignissen am Sinai, die Israeliten danach verlangten, einen König als „Monarchen“, als Alleinherrscher zu haben, weil sie sein wollten „wie alle anderen Völker auch“, da wurde dies ausdrücklich von Gott missbilligt, auch wenn er ihnen schließlich ihren Willen ließ (1.Sam 8, 4-22).
Im Neuen Testament rückt Jesus selbst jede monarchische Vorstellung und Ambition bei seinen Jüngern zurecht (Mt 20, 25-28): „Aber Jesus rief sie (die Jünger) zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun.So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“. Ebenso beschneidet Jesus auch die Vorstellungen seiner Jünger von herausgehobener geistlicher Autorität (Mt 23, 1-12): „… ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder“.
Deutlicher kann man die Absage an ein monarchisch-hierarchisches System kaum formulieren. Ist vielleicht doch eine Demokratie (also wirkliche Volks-Herrschaft) auf biblischer Grundlage möglich?
1 Die Urform der Demokratie
Die Idee einer Beteiligung aller (oder zumindest aller „freien“ und der bestimmenden Gruppe angehörenden) Mitglieder einer Volksgemeinschaft an der Verantwortung für das Wohlergehen und die Zukunft der Gemeinschaft, hat es zeitweise in mehreren Völkern gegeben (z.B. im antiken Griechenland oder in Island seit dem 10. Jahrhundert). Freilich war die Verwirklichung meist nur sehr eingeschränkt möglich und schloss einen großen Teil der Bevölkerung aus (die Sklaven z. B. oder die Frauen usw.). Ihre allgemeinste Form findet diese Sehnsuchtsperspektive von „Freiheit und Teilhabe für alle“ in der Bibel.
Jeweils am Anfang ihrer Geschichte als Volk Gottes wird sowohl dem alttestamentlichen wie auch dem neutestamentlichen Gottesvolk ihre eigentliche (und gemeinsame!) Berufung zugesprochen (2.Mose 19,6): Ihr (angesprochen ist das Volk Israel am Sinai) sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Und 1. Petr 2,9: Ihr aber (angesprochen sind die „auserwählten Fremdlinge in der Zerstreuung“ -vgl. 1. Petr 1,1- also die christliche Gemeinde aus Juden und Nichtjuden, die in einer heidnischen Umwelt lebte) ... ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums … Königtum und Priesterschaft, das ist die gemeinsame Berufung des ganzen Gottesvolkes Alten und Neuen Testaments.
2 Königliche Priesterschaft
Wir Heutigen aber müssen erst ganz neu lernen, zu verstehen, was (biblisch gesehen) mit diesen Begriffen wirklich angesprochen ist, sonst trifft unsere (berechtigte!) Abwehr etwas, was in der Bibel so nie gemeint und gewollt war. „Ein Königreich von Priestern“ und „königliche Priesterschaft“ meint beide Male die gleiche Sache, einmal aus dem Hebräischen und einmal aus dem Griechischen übersetzt. Gemeint ist beide Male eine Volksgemeinschaft, die als Ganzes(!) eine königliche und priesterliche Berufung und Verantwortung zugesprochen bekommt und die sie dann auch tatsächlich auf sich nimmt.
Das ist in beiden Fällen eine unglaubliche, gegen alles Denken und alle Erfahrung der damaligen Zeit verstoßende Vorstellung. König konnte es doch nur einen geben in jedem Volk! Und wenn es zwei gab, die Ansprüche auf den Thron erhoben, dann mussten sie den Machtkampf unter sich ausfechten, bis einer von ihnen auf der Strecke blieb und der andere die Macht an sich reißen konnte. Wie soll da ein ganzes Volk königliche Vollmacht haben? Und die Priester waren in allen Völkern der damaligen Zeit eine kleine, streng abgeschirmte Kaste, die aus ihrer (angeblichen) Mittlerrolle zwischen den Menschen und den Göttern eine fast unangreifbare Machtposition ableitete. Zu ihnen sah das Volk auf mit ehrfürchtiger Scheu! Wie sollte da ein ganzes Volk eine priesterliche Berufung haben und priesterlich denken und handeln? Und wozu sollte so ein „allgemeines königliches Priestertum“ da sein?
Die letzte dieser Fragen ist leicht zu beantworten: Als Gott sich (Jahrhunderte zuvor) mit Abraham den Erstling des Volkes Israel erwählte, da gab er ihm eine Verheißung mit auf den Weg, die schon alles enthielt, was er mit diesem Volk vorhatte (1.Mose 12,3): … In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter (alle Völker und Generationen) auf Erden. Durch Abraham und seine Nachkommen wollte Gott alle Völker der Erde, also die ganze Menschheit, segnen. Und hier am Sinai, in dem Augenblick, wo Gott die Abrahamsnachkommen befreite, sie durch gemeinsame Not und machtvolle Gotteserfahrungen zu einem Volk zusammenschweißte und schließlich mit ihnen einen Bund schloss, da machte Gott deutlich, dass dieser Segen nur wirksam werden kann, wenn das Volk Gottes wirklich das wird, was ihm von Gott als Berufung zugesagt ist: ein königliches Priestertum, ja, aber nicht Einzelner, besonders herausgehobener Führer im Volk, sondern des Volkes als Ganzes. Und genau das ist es, was in der Bibel das „Reich Gottes“ genannt wird (siehe das Thema „Dein Reich komme“), oder noch genauer: das noch vorläufige und unvollkommene Modellvolk des Gottesreiches in dieser Welt und Zeit, durch das die Völker der Welt gesegnet werden, damit auch sie auf den Weg zur Vollendung des Reiches Gottes gelangen. Und diese Segnung der Völker hat auch etwas mit der staatlichen Verfassung ihres Zusammenlebens zu tun. Diejenigen Völker der Welt, die heute in demokratischen Staaten leben, haben – oft ohne das zu ahnen – Anteil an diesem Segen.
Gott selbst hat sein Volk (sein ganzes Volk!) in eine königlich-priesterliche Verantwortung berufen, d. h. er möchte seinen Willen durch sein ganzes Volk zum Ausdruck bringen. Er will nicht nur Amtspersonen mit seinem Geist (und damit auch mit der Verantwortung für das Ergehen in diesem Volk) ausrüsten, sondern alle Menschen, die sich seiner Leitung anvertrauen.
Wenn das Volk Gottes Alten und Neuen Testaments seiner Ursprungsberufung gerecht werden will, dann muss es Lebensformen der Gemeinschaft finden und entwickeln, in denen es als Ganzes eine königliche und priesterliche Verantwortung wahrnimmt; dies aber nicht als Herrschaft der Macht, sondern als Diakonie der Liebe.
„Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein“ (2.Mose 19,5). Wir sehen in diesen Worten: Die ganze Erde ist Reich Gottes, Schauplatz seiner Herrschaft, und innerhalb dieser globalen Gottesherrschaft sollte das Volk Israel (später zusammen mit der weltweiten Messias/Christus – Gemeinschaft) eine königlich-priesterliche Verantwortung wahrnehmen: „Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (2. Mose 19,6 vgl. auch 1. Petr. 2,9). Das war die erste Weisung, die schon alles umfassende Thora für Israel, noch ehe es die 10 Gebote bekam. Diese königlich-priesterliche Berufung Israels (und später auch der christlichen Gemeinde) soll entscheidend dazu beitragen, dass die ganze Erde auch sichtbar und erfahrbar Ort der Gottesherrschaft, und die ganze Menschheit Volk Gottes werden kann.
Die Verheißungen Gottes zielen eindeutig darauf hin, dass die Gaben, Berufungen und Vollmachten des königlichen Priestertums nicht einzelnen, herausgehobenen Amts-Personen, sondern dem ganzen Gottesvolk gelten. Joel 3,1-2: „Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen. Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen“. Genau so geschah es am Entstehungstag der neutestamentlichen Gemeinde (Apg 2,1-4): Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.
Nach der biblischen Offenbarung ist es Gottes feste Absicht, seinen Geist über „alles Fleisch“ (hier in der Bedeutung von „alle Menschen”) auszugießen, nicht nur auf Amtspersonen, ja im Gegenteil geradezu bevorzugt auf solche, die gemeinhin als schwach und spirituell unzureichend befähigt gelten, auf „Söhne und Töchter, Jünglinge und Alte, Knechte und Mägde (wörtlich: Sklaven und Sklavinnen)“. Ziel dieser Geistausgießung ist das allgemeine königliche Priestertum des ganzen Gottesvolkes in allen seinen Gliedern, mit Alten und Jungen, Männern und Frauen, Vorgesetzten und Untergebenen (ob die alle davon wissen und ihr „Amt” auch ausüben, ist eine andere Frage). Dies soll geschehen zum Segen für „alle Geschlechter auf Erden“, das heißt, das „König-Priestertum” ist Berufung und Auftrag aller Gläubigen zu allen Zeiten zum Segen für alle Menschen in allen Völkern. Und dieser verheißene Segen für die Völker der Erde besteht (nicht nur aber auch) in einer Herrschaftsform, an der unter der Leitung des Geistes Gottes alle Menschen beteiligt sind. Da, wo die Herrschaft Gottes (sein „Reich“) anerkannt ist, wird eine Gemeinschaft von Menschen möglich, die ohne bedrückend empfundene menschliche Herrschaft auskommt.
Dass hier alle Glieder des Gottesvolkes gleichermaßen mit dem Geist Gottes begabt sind und gleichzeitig alle Hierarchien für überholt erklärt werden, das ist eine ungeheuerliche Provokation aller „Amtsträger“ und aller leitenden Institutionen aller Zeiten und wurde von den Inhabern von Machtpositionen immer als Affront empfunden. Sowohl weltliche als auch geistliche Amtsträger waren fast immer geneigt, die charismatisch-freien Äußerungen des Geistes Gottes durch „Laien ohne Amt und Würden“ zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen und gleichzeitig unter dem Deckmantel scheinbar demütiger Unterordnung unter Gott (z. B. als Kaiser und Fürsten „von Gottes Gnaden“) sehr menschlich-eigennützige Herrschaftsstrukturen zu errichten.
Selbstverständlich wäre es falsch, „Reich Gottes” und „Demokratie” einfach gleichzusetzen. Auch in Demokratien gibt es viel Widergöttliches. Auch Demokratien können gottlos werden und dadurch menschenfeindlich. Die Demokratie (nicht Anarchie!) ist aber diejenige Organisationsform menschlicher Gemeinschaft, die dem Anliegen des Reiches Gottes zumindest potenziell am nächsten kommt, sie ist das „Gefäß”, das am leichtesten mit den Inhalten gefüllt werden kann, die Gott in seinem Reich für das Miteinander der Menschen vorgesehen hat.
Jesus selbst betont immer wieder die „demokratische“ Verfassung des Gottesreiches, das er verkündigt: so z. B. Jo 13, 1-18: Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wisst ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe. Die Verantwortung aller für das Wohl aller in der Gemeinschaft durch die Lebenspraxis einer Diakonie der Liebe. So ist Reich Gottes und so soll Demokratie sein.
3 Teilhabe, Verantwortung und Vollmacht
Im europäischen Mittelalter wurde jahrhundertelang erbittert darum gestritten, wem die höchste Autorität gebührt, der „weltlichen“ Herrschaft, also den Fürsten, Königen oder Kaisern, oder dem „geistlichen“ Amt, also dem Papst mit seinen Bischöfen. Diese Fragestellung geht an der biblischen Offenbarung vorbei: Weder Kaiser noch Papst sind die von Gott einsetzten Instanzen durch die Gott „alle Völker auf Erden segnen“ will, sondern das allgemeine königliche Priestertum des ganzen Gottesvolkes (wobei in diesem königlich priesterlichen Gottesvolk auch besondere Verantwortlichkeiten und Ämter vorgesehen sind, z. B. das apostolische Amt und in ihm das Petrus-Amt), siehe das Thema „Das Modell der Urgemeinde”.
Festzuhalten ist also, dass nach der biblischen Offenbarung Alten und Neuen Testaments im Volk Gottes sowohl das priesterliche als auch das königliche Amt primär und dauerhaft gültig ein dem ganzen Gottesvolk verliehenes, also mit unseren „modernen“ Worten gesprochen, ein demokratisches Amt sein soll. Ja, das „Reich Gottes“ (das mit der Volkwerdung Israels am Sinai seine erste irdisch-handgreifliche Konkretisierung erfuhr und das mit der nachösterlichen Christenheit in eine Weltdimension hineinwuchs) ist die Urform der Demokratie, kein „Gottesstaat“, in dem eine Ämterhierarchie von Priestern regiert, und kein „Königtum von Gottes Gnaden“ mit dem dazu gehörigen hierarchischen Beamtenapparat, sondern die königlich-priesterliche Verantwortung und Berufung des ganzen Volkes.
Diese „Urform der Demokratie“ beinhaltet nicht nur, wie in modernen Demokratien üblich, eine Beteiligung des ganzen Volkes an der Regierungsmacht, sondern sie verlangt auch eine Demokratisierung der Religionsausübung und der spirituellen Berufung und Verantwortung.
Königtum heißt Regierungsvollmacht und Auftrag zu ordnendem Handeln, durch das äußere Sicherheit und inneres Recht, Versorgung und Fürsorge usw. gewährleistet sein soll. Ein Volks-Königtum, wie es die Bibel hier anspricht, würde bedeuten, dass alle Glieder der Gemeinschaft gleichermaßen Anteil haben an der Verantwortung und der Vollmacht, an den Rechten und Pflichten, den Chancen und Ressourcen des Gemeinschaftslebens. In der Demokratie ist das Volk als Ganzes Inhaber dieser Vollmacht, die erst durch freie Wahlen an „Volksvertreter“ delegiert werden kann, wobei auch dann noch das Volk als Ganzes und jeder Einzelne im Volk Inhaber der Vollmacht bleibt und die Mehrheit der Bürger eines Landes sie ihren Volksvertretern wieder entziehen kann.
Priesterschaft heißt Versöhnungsvollmacht und Auftrag zu spiritueller Verantwortung und zu kultischem Handeln. Ein Volks- Priestertum, wie es die Bibel hier anspricht, würde bedeuten, dass alle Glieder der Gemeinschaft gleichermaßen Zugang bekommen zu den Segnungen und Herausforderungen einer unmittelbaren Gottesbeziehung. Durch das allgemeine Priestertum des ganzen Gottesvolkes ist auch diese Vollmacht dem ganzen Volk Gottes verliehen und jedem Einzelnen im Volk und kann erst dann durch Wahl oder Beauftragung an „Amtsträger“ delegiert werden, wobei auch hier immer die Gesamtheit des Gottesvolkes, die „Gemeinschaft der Heiligen“ und jeder der „Heiligen” in dieser Gemeinschaft, Inhaber der Vollmacht bleiben müssen, die sie den Amtsinhabern mit Mehrheit auch wieder entziehen können.
Das „allgemeine Priestertum“ wird in den großen christlichen Kirchen zwar theoretisch anerkannt*, praktisch wird es aber vom besonderen, herausgehobenen Amtspriestertum des Klerus überdeckt und zum Teil auch verhindert. Auch in den protestantischen Kirchen wird das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ zwar als theologisches Markenzeichen hochgehalten, aber in der Realität meist nur in sehr bescheidenem Umfang angewendet.
* Z. B. in der röm. kath. Kirche (im „Katechismus der katholischen Kirche“, München 1993, unter Ziffer 1546): „Die ganze Gemeinschaft der Gläubigen ist als solche priesterlich (…). Durch die Sakramente der Taufe und der Firmung werden die Gläubigen zu einem heiligen Priestertum geweiht.“
Das hat seine Parallelen auch in der gesellschaftlich-politischen Realität. Auch die Formen von parlamentarischer Demokratie, die wir in den gegenwärtigen demokratischen Verfassungen kennen, ermöglichen nur eine sehr eingeschränkte Teilhabe des Volkes an der Regierungsvollmacht. Der im Abstand von mehreren Jahren stattfindende Wahlakt ist nur ein sehr dürftiger Ausdruck für die viel umfassendere Vollmacht, die in der Bibel Alten und Neuen Testaments mit „Königlicher Priesterschaft“ des ganzen Gottesvolkes gemeint ist. Da geht es um das sich Auswirken und um das Zusammenwirken aller von Gott verliehenen Gaben und Talente in allen und durch alle, zum Segen für die ganze Gemeinschaft und für alle Völker und Generationen der Menschheit. Die Demokratie kann dann zur sichtbaren Vor-Verwirklichung des noch verborgenen Gottesreiches werden, wenn sie eine „königliche Priesterschaft“ ermöglicht, durch die alle Mitglieder der Gemeinschaft eine möglichst weitgehende Mit-Teilhabe (an den Chancen und Ressourcen der Gemeinschaft), Mit-Verantwortung (an den Entwicklungen der Gegenwart und den Herausforderungen der Zukunft) und Mit-Vollmacht (an den Entscheidungsprozessen und Handlungsmöglichkeiten) bekommen.
Wie ernst Gott das selbst meint, ist an folgender Tatsache erkennbar: Als im Laufe des 20. Jahrhunderts nach fast zweitausendjähriger Vertreibung und Zerstreuung die verheißene Sammlung des Volkes Israel in seinem verheißenen Lande sich tatsächlich vollzog, da gestaltete Gott den äußeren politischen Rahmen für die Wiedererstehung Israels als Demokratie inmitten einer Region, die aus lauter Feudalherrschaften und Diktaturen bestand.
Die von Gott von Anfang an gemeinte und gewollte Form von Regierung und Kultus (in Israel als dem Modellvolk des Gottesreiches und später auch in der Christenheit, und in der Zielrichtung dann für „alle Geschlechter auf Erden“) ist ein königliches Priestertum des ganzen Volkes, in dem die Liebe Gottes in allen das Miteinander der Menschen regiert und in dem die Liebe Gottes auch durch alle Versöhnung und Frieden stiftet.
Die vom Schöpfer des Alls für die Gemeinschaft des Menschseins auf dieser Erde vorgesehene Gemeinschaftsordnung ist eine in der Verantwortung vor Gott von den Menschen gestaltete Demokratie.
Reich Gottes und Demokratie sind kein Widerspruch. Vielmehr ist die Demokratie diejenige Organisationsform staatlicher Gemeinschaft, die dem Grundanliegen des biblisch verkündigten Gottesreiches am besten entspricht und das Reich Gottes ist die einzig mögliche Grundlage für eine globale Demokratie, in der die ganze Menschheit zu einer umfassenden Gemeinschaft des Miteinander und Füreinander werden kann.
Das war die Absicht, die Leit-Idee, der Gott folgte, als er das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit führte und als Jesus seine Jüngerinnen und Jünger in seine Nachfolge rief.