Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Wirtschaft

Beitrag 2: An-Triebe (Bodo Fiebig1. Februar 2021)

1 Die Egoismus-Falle

Ich sage es ungern, aber es muss gesagt werden: Wirtschaftliches Handeln geschieht immer am Rande der Egoismus-Falle. Das kann gar nicht anders sein. Das Haben-wollen und das Immer-mehr-haben-wollen stecken in jedem Menschen drin, offen oder verborgen, aggressiv oder gebändigt. Diese Emotionen als Antrieb wirtschaftlichen Handelns sind Reaktionen auf Ur-Erfahrungen des Lebens und darin auch des Menschseins. Sie stammen aus den Not-Erfahrungen der Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden, und ihre Entstehung reicht weit zurück bis in die früheste Menschheitsgeschichte. Solche Noterfahrungen am Rande des Verhungerns, in der Gefahr des Verdurstens, unter der Lebensbedrohung durch Dürre und Feuer, durch Wasser und Sturm, Kälte und Schnee, durch Vulkanausbrüche und Erdbeben, durch wilde Tiere und giftige Pflanzen und vor allem in der existenziellen Bedrohung durch Konkurrenz und Kampf in der Auseinandersetzung mit den „Anderen“, mit den „fremden“ Menschen, die stecken der Menschheit auch im 21. Jahrhundert noch in den Knochen, oder genauer gesagt: in der kollektiven Erinnerung der Menschheit und in der psychischen Grundausstattung jedes Einzelnen. Keiner ist dagegen immun. Das ist die Egoismus-Falle der Menschheit und die Geschichte der Menschheit weist nach, dass sie die Menschen immer wieder in Spannungen und Auseinandersetzungen, in selbst gemachte Zerstörungen und Katastrophen, in Kämpfe und Kriege, Leid, Not und Tod treiben kann, jetzt, im 21. Jahrhundert, vielleicht sogar in die Selbstvernichtung alles Lebens auf diesem Planeten.

Diese Noterfahrungen der Menschheitsgeschichte bewirken in uns (als Einzelne oder als Gemeinschaft) zweierlei: Not-Vorsorge und Zukunfts-Angst. Erfahrungen existenzieller Gefährdung verlangen unwiderstehlich nach Not-Vorsorge und Not-Vorräten (und das ist ja auch richtig und sinnvoll, ohne sie könnten Menschen z. B. Trocken-Zeiten und Kälte-Zeiten im Jahresablauf nicht durchstehen). Aber Not-Erfahrungen bewirken in uns auch eine allgemeine, ungewisse Angst vor dem, was vielleicht noch kommen könnte. Existenz-Ängste und Futter-Neid entstehen da, wo es vorher Mangel- und Hunger-Erfahrungen gab, und die können sich über viele Generationen vererben.

Ein Lebewesen, das fähig ist, vergangene Erfahrungen (was war?) in eine mögliche Zukunft zu übertragen, kann wie kein anderes Vorsorge treffen für das, was kommt (z. B. in Vorratskammern für den Winter, wenn draußen nichts essbares wächst), aber es kann auch wie kein anderes in Angst geraten vor dem, was kommen könnte. Die Noterfahrungen der Menschheit in Jahrtausenden befeuern in uns auch ein (bewusstes oder unbewusstes) Verlangen nach einem Übermaß an Vorräten und nach einem Übermaß an Sicherheit, ein Verlangen nach Verteidigungs-Anstrengungen und Angriffs-Strategien, um uns gegen vielleicht kommende Gefahren abzusichern, um mögliche Angreifer abzuwehren, mögliche Konkurrenten auszuschalten und um uns selbst gegenüber „den anderen“ einen Vorteil zu verschaffen. Wenn ich noch mehr Vermögens-Werte hätte und noch größere Waren-Vorräte (und sei es nur, wie in Corona-Zeiten, der Kampf ums Klopapier im Supermarkt), und wenn ich noch stärkere Verteidigungs-Wälle hätte und noch wirksamere Angriffs-Waffen, dann könnte ich mich besser absichern gegen die (mögliche) Not von Morgen (man weiß ja nie, was kommen könnte). Aber: Werte und Waren, Wälle und Waffen sind, das wissen wir ja längst aus Erfahrung, keine wirklich verlässlichen Sicherheiten gegen die Bedrohungen des Lebens. Deshalb suchen wir ständig nach immer neuen Absicherungen und die Versicherungen verdienen prächtig damit.

Ob wir es wahrnehmen oder nicht: Die Noterfahrungen der Menschheitsgeschichte (den Alten unter uns ist sie in der Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegszeit noch sehr nahe) und die Angst vor der nächsten vielleicht kommenden Not sind als Motivationshintergrund für den Egoismus wirtschaftlichen Handelns in allen Wirtschaftssystemen gegenwärtig, egal ob sozialistisch-staatswirtschaftlich oder kapitalistisch-privatwirtschaftlich oder sonst noch irgendwie anders. Immer geht es darum, für mich und für unsere Gemeinschaft die entscheidenden Vorteile herauszuholen gegenüber „den Andern“.

Dabei zeigt sich: Die Noterfahrungen der Menschheit führen immer wieder auch zu überschießenden Reaktionen, zu Reaktionen und Handlungsweisen, bei denen das Streben nach Notvorsorge unversehens in Habgier und Machtgier umschlägt. Auch das ist eine Menschheitserfahrung: Besitz und Macht sind seit Jahrtausenden die bevorzugten Betäubungsmittel der Menschheit gegen die Angst vor der (immer ungewissen) Zukunft. Und weil diese Betäubungsmittel nicht wirklich helfen, bringen sie immer wieder Reaktionen und Handlungsweisen hervor, die weder not-wendig sind (im Sinne von „die Not wendend“) noch hilfreich, so dass sie andere un-nötig in Not bringen und im Endeffekt auch die eigene Not vergrößern, ja, dass sie sich schließlich selbst-zerstörend und Menschheits-gefährdend auswirken (das 20. Jahrhundert hat eine ganze Reihe von Beispielen dafür bis hin zu den Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki).

Nun sagt man oft (wenn es um wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Belange geht): Es kommt auf das System an. In einer freien Marktwirtschaft können sich die gesellschaftsrelevanten Kräfte im freien Spiel der Marktgesetze ausgleichen und können so jedem Einzelnen und jeder Gemeinschaft die gleichen Chancen im Zusammenspiel aller Interessen und Interessenten zukommen lassen. Und dann kommt der (berechtigte!) Hinweis auf die Auswüchse dieses Systems in Form von Übervorteilung und Marktmacht, von Ausbeutung und Sklaverei.

Andere sagen: In einer staatlich gelenkten sozialistischen Planwirtschaft können eben solche Auswüchse vermieden werden und so kann dort jedem das Notwendige zugeteilt werden, so dass niemand in Abhängigkeit und Not leben muss. Und dann kommt der (berechtigte!) Hinweis auf das Scheitern aller Versuche, solche planwirtschaftlichen Modelle erfolgreich umzusetzen und auf die Auswüchse dieses Systems in Form von Inkompetenz und Mangelwirtschaft, von politischer Unterdrückung und gesellschaftlichen Zwangssystemen.

Machen wir uns das bewusst: Es gibt kein betriebswirtschaftliches, volkswirtschaftliches und weltwirtschaftliches System, und kann auch keines geben, das Betrug, Übervorteilung, Ungerechtigkeit und Ausbeutung verhindern könnte, solange die Menschen, die in diesem Systemen handeln, von betrügerischen, auf Übervorteilung bedachten, ungerechten und ausbeuterischen Ideen und Antrieben beherrscht sind. So etwas wäre weder theoretisch noch praktisch möglich. Es kommt nicht in erster Linie auf die Wirtschaftssysteme an, sondern auf die grundlegenden Einstellungen der Menschen (in der deutschen Sprache nennt man das ihre „Gesinnung“).

Wir bräuchten eine Gesinnung, also einen Sinnhintergrund wirtschaftlichen Handelns, welcher die Noterfahrungen der Menschheit aufnimmt und ernst nimmt, aber der zugleich die darin liegenden Motivations-Energien in Bahnen lenkt, die nicht von einer diffusen Zukunfts-Angst getrieben und nicht vom individuellen und kollektiven Egoismus vorgezeichnet sind. Das wäre nur dann möglich, wenn die (individuelle oder kollektive) Ur-Angst vor dem, was kommen könnte überwunden wäre durch eine Grundhaltung des  Vertrauens auch angesichts einer immer ungesicherten und oft auch bedrohlich erscheinenden Zukunft. Davon wird später im Beitrag 5 „Sinnvoll wirtschaften“ die Rede sein.

2 Der Wende-Punkt

Zunächst komme ich jedoch noch einmal zurück auf den entscheidenden Übergang: den „Wendepunkt“ von der Zeit der Jäger und Sammler zur sesshaften Landwirtschaft (siehe Beitrag 1: „Leben in Gemeinschaft“ und dort der Abschnitt 2 „Zusammenarbeit“), weil der uns Zusammenhänge veranschaulicht, die noch heute von Bedeutung sind, denn das war der Moment in der Menschheitsgeschichte, in dem die Egoismus-Falle zuschnappte. (Allerdings: Die Begriffe „Wende-Punkt“ oder „Moment“ sind hier eigentlich irreführend, denn es handelte sich um Vorgänge, die sich in verschiedenen Kulturkreisen auf verschiedenen Kontinenten in Verlauf von Jahrtausenden allmählich vollzogen haben; erst in unserer Gegenwart verlieren die letzten noch nomadenhaft lebenden Volksstämme die dafür nötigen Lebensgrundlagen, das heißt, sie „verlieren“ sie nicht, sondern sie werden ihnen genommen von denen, die diese Lebensweise längst hinter sich gelassen haben).

In einer Gruppe nomadisierender Jäger und Sammler war die optimale Zusammenarbeit von Männern und Frauen, Alten und Jungen unbedingte Notwendigkeit, um das Überleben der ganzen Sippe zu sichern. So eine Menschengruppe hätte es sich einfach nicht leisten können, dass Teile dieser Gruppe an den Rand gedrängt, benachteiligt oder ausgeschlossen würde, denn die hätten ja dann gefehlt, wenn es um den Erhalt der ganzen Gruppe ging. Und diese Notwendigkeit des Zusammenhalts aller sicherte zugleich auch allen eine relativ gleichberechtigte soziale Stellung jedes Einzelnen und auch der Geschlechter und Generationen im Ganzen der Gruppe. Eine Nebenbemerkung: Man muss sich, wie immer, davor hüten, irgendeine frühere Epoche zu idealisieren. Das gilt selbstverständlich auch für die Zeit vor der „landwirtschaftlichen Revolution“. In vielen nomadisierenden Gruppen war es z. B. üblich, Menschen, die so eine anstrengende Lebensweise, (ohne feste, dauerhafte Wohnstätte, immer unterwegs, den Wanderungen der wichtigsten Beutetiere folgend) nicht oder nicht mehr mitvollziehen konnten (behinderte Kinder, Alte, schwer Verletzte oder dauerhaft Kranke …), auszusetzen und den wilden Tieren zum Fraß zu überlassen. Trotzdem: Der Zusammenhalt und die Zusammenarbeit aller war bei nomadisierender Lebensweise Voraussetzung für den Fortbestand der ganzen Gruppe.

Das änderte sich grundlegend im Zuge der „Landwirtschaftlichen Revolution“ mit sesshafter Lebensweise in festen Siedlungen. Das Verhältnis der Gruppenmitglieder zueinander veränderte sich nun je nach Situation. In der Bedrohung der Siedlung durch Angriffe von außen oder durch Naturgewalten war der Zusammenhalt aller wichtig wie bisher. In friedlicheren Zeiten aber drifteten nun die sozialen „Stände“ auseinander: Jetzt (erst jetzt!) wurde der Besitz zum entscheidenden Faktor des Sozialstatus eines Menschen, vor allem der Besitz an nutzbarem Boden, an Haus und Hof, an Vieh und Geräten. Wer mehr Land hatte, konnte mehr ernten. Und dieses „Mehr“ war nicht wie vorher allgemeiner Besitz (wenn z. B.  jemand in einer nomadenhaft lebenden Jagdgruppe ein Wildschwein erlegt hatte, dann war der Speerwerfer, dem der entscheidende Treffer gelungen war, eben nicht alleiniger Besitzer des Fleisches, sondern davon lebte die ganze Gruppe). In nomadisierenden Gruppe konnte der Besitz keine bedeutende Rolle spielen, denn er beschränkte sich auf das, was die Menschen selbst tragen konnten (etwas Nahrung, wenige Kleidungsstücke, das notwendige an Waffen und Geräten), denn man musst ja, je nach Jahreszeit den Wanderungen der wichtigsten Beute-Tiere folgen.

Jetzt aber, im Zuge der sesshaften Landwirtschaft, war der Bauer, der ein größeres Stück Land besaß, vielleicht auch mit besserem Boden, nicht gezwungen, seine Ernte mit den anderen zu teilen. Vielmehr konnte der Wohlhabende nun üppigere Ernten einbringen und größere Gewinne machen. Und: Er konnte nun Ärmere aus der Dorfgemeinschaft zur Arbeit auf den eigenen Feldern einstellen (vielleicht neben der Arbeit auf dem eigenen Feld, das aber nicht ausreichte, die eigene Familie zu ernähren) und die dann mit einem Anteil aus seiner Ernte entlohnen. Er wurde zum „Unternehmer“, der „Lohnarbeiter“ für sich beschäftigte. Vielleicht konnte er sich auch schon auch mehrere Sklaven halten (Männer, Frauen und Kinder, die bei früheren Auseinandersetzungen mit Nachbarclans als „Kriegsbeute“ mitgenommen worden waren), konnte mit deren Einsatz seine Feldern noch weiter vergrößern und noch höhere Ernteerträge einbringen. Schließlich konnte er zum „Häuptling“ der ganzen Siedlung aufsteigen, obwohl er, alt geworden, gar nicht mehr selbst auf den Feldern arbeitete.

Während früher der persönliche Einsatz für den Zusammenhalt der Gruppe und die aktuelle eigene Arbeitsleistung den Status eines Gruppenmitglieds begründete, waren es jetzt Besitz und Gewinn. Und da, wo die Egoismus-Falle zuschnappte (übrigens: In beiden Systemen, vor und nach der „landwirtschaftlichen Revolution“). Da wurde aus dem „Recht des Stärkeren“ das „Recht des Besitzenden“ (beides waren ja schon Fehlentwicklungen innerhalb des jeweiligen Systems). Jetzt aber begann sich das ganze Wirtschafts-System grundlegend zu wandeln.

Innerhalb der eigenen Gruppe von Jägern und Sammlern wäre so etwas wie übertriebener Egoismus und gnadenlose Konkurrenz eine lebensbedrohliche Schwächung der ganzen Gruppe. Jedes Gruppenmitglied, das benachteiligt würde und z. B. weniger zu essen hätte, als es nötig wäre, um bei Kräften zu bleiben und bei den Jagdzügen die jeweilige Rolle als Fährtensucher, Treiber, oder Speerwerfer auszufüllen, würde den Jagderfolg der ganzen Gruppe in Frage stellen.

Bei einer sesshaften Landwirtschaft dagegen sind Konkurrenz und Egoismus erfolgversprechende Eigenschaften und Vorgehensweisen: Wer den Besitz seines Nachbarn an sich bringen kann (mit welchen Methoden auch immer) und wer die Fähigkeiten seiner Mitmenschen für sich und die eigenen Interessen nutzen kann, (unter welchen Umständen auch immer), hat eigentlich nur Vorteile davon. Und das gilt auch heute noch im Zeitalter der Welt-Konzerne und Daten-Giganten.

Also ist die Sache eindeutig (so scheint es): Die Menschheit des 21. Jahrhundert mit bald 8 Milliarden hungrigen Mitgliedern ist ja mit den Methoden der Jäger und Sammler längst nicht mehr zu ernähren. Also muss man die Versorgung der Menschheit trotz aller Bedenken in die Hände derer legen, die am erfolgreichsten wirtschaften, die alle Konkurrenten ausschalten, die immer mehr Besitz und Gewinn für sich in Anspruch nehmen und denen es gelingt, die Fähigkeiten möglichst vieler Menschen für sich zu nutzen. Und das (im Zeitalter zunehmender Globalisierung) am besten in einem Wirtschaftssystem, in dem es für jede Wirtschaftssparte ein Weltunternehmen gibt (als „Weltmartktführer“), welches die alleinige Vormachtstellung hat, ein Weltunternehmen, das alle kennt und alle versorgt und alles weiß und alles entscheidet (wie Google oder Amazon). Das würde uns (endlich!) die Mühen zur Daseins-Vorsorge abnehmen und unsere Zukunftsängste beruhigen.

Wir sehen: Die Egoismus-Falle des Menschseins hat im 21. Jahrhundert globale Ausmaße: Die wenigen „Großen“ versuchen sich abzusichern durch immer mehr Besitz und Macht und die vielen „Kleinen“ suchen nach Schutz und Sicherheit unter den Flügeln der „Großen“ und sie merken viel zu spät, dass ihr „Schutzraum“ in Wahrheit eine (manchmal und zeitweise recht bequem eingerichtete) Falle ist, aus der sie nicht mehr entkommen können. Wir werden auf diese Situation später zurückkommen.

Zuvor müssen aber noch zwei grundlegende Begriffe wirtschaftlichen Handelns geklärt werden: Eigentum und Wert.

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Bodo Fiebig  „An-Triebe“,  Version 2020-12

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