Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Wirklichkeit und Wahrheit

Beitrag 3: Relativismus und Kontruktivismus (Bodo Fiebig8. Mai 2018)

Der Relativismus ist eine philosophische Denkrichtung, die im zwanzigsten Jahrhundert eine erstaunliche Bedeutung und Wirkung erreichte, besonders in seiner konsequentesten Form, dem sogenannten „radikalen Konstruktivismus“. Er geht davon aus, dass es dem Menschen grundsätzlich unmöglich sei, so etwas wie die „Wirklichkeit“ der Welt und die „Realität“ seiner eigenen Existenz wahrzunehmen. Das, was Menschen von den Dingen, von der Welt und von ihrer eigenen Existenz wahrzunehmen meinen, sei tatsächlich nur ihr eigenes Konstrukt. Die Sicht des Betrachters gibt vor, was er sieht. Es gibt gar keine objektive „Realität“, die unabhängig von einem Betrachter existieren würde, meint der Konstruktivismus, sondern der Mensch konstruiert sich seine „Realitäten“ selbst. Also gibt es so viele „Realitäten“ wie es Menschen gibt (siehe auch das Thema „Das Gender-Konstrukt“).

Die relativistisch-konstruktivistische Sichtweise bedeutet allerdings, und das betonen ihre Vertreter selbst mit stolzer Überzeugung, dass es grundsätzlich keine objektiven Tatsachen geben kann (historischer bzw. sachlicher Relativismus), keine allgemein gültige Erkenntnis (erkenntnistheoretischer Relativismus), keine allgemein gültigen Wahrheiten (Wahrheitsrelativismus) und keine allgemein verpflichtende Ethik (ethischer Relativismus). Was das für das Leben und das Zusammenleben der Menschen bedeutet, wird uns noch zu beschäftigen haben.

Das Phänomen des Relativismus selbst ist alt, neu ist seine weltumspannende und alle Lebensbereiche durchdringende Wirksamkeit. Schon Plato (im 4./5. Jahrhundert vor Christus) zweifelte an der Realität seiner Wirklichkeit. In seinem berühmten „Höhlengleichnis“ versuchte er darzustellen, dass unsere „Realitäten“ eigentlich nur Schattenbilder seien von den wahren Dingen, den „Ideen“, die sich nur dem philosophischen Denken erschließen. Plato war nicht der einzige, der sich solche Gedanken machte. Im Hinduismus und Buddhismus z. B. gelten das Universum und alle in ihm erscheinenden Realitäten als „Maya“ (Illusion) und gilt als Ziel des Seins „Nirwana“ (Erlösung von dem Leben, das grundsätzlich ein Leiden ist, in ewiger Nicht-Existenz). Das Selbst, die Identität des Menschen (Atman) ist ebenso Illusion, ist Anatman (Nicht-Selbst). Ein innerstes „Ich“, eine bleibende Identität des Menschen gibt es nicht und das Streben danach kann nur durch „Shoonya“ (Auflösung, Leere) erlöst werden.

Seit Plato hat diese Frage immer wieder nachdenkliche Menschen bewegt: Sind unsere Ideen Schattenbilder der Wirklichkeit oder sind die wahrnehmbaren Erscheinungen unserer Wirklichkeit nur Schattenbilder unserer Ideen? Sind unsere Wahrnehmungen Widerspiegelung von Realitäten oder doch nur Illusion? Solche Fragen blieben (in Europa) über viele Jahrhunderte im Innenraum feingeistiger Zirkel und philosophischer Fachgespräche und erreichten kaum je einmal die raue Luft gesellschaftsrelevanter Diskussion.

Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich das radikal geändert. Für selbstverunsicherte Intellektuelle wurden Relativismus und Konstruktivismus zur erlösenden Idee: Zum einen galten sie als intellektuell besonders anspruchsvoll und nur für besonders kluge Köpfe zugänglich (und das schmeichelte ihnen natürlich) und zugleich war man nun von der Notwendigkeit erlöst, sich mit den ungeheuer komplexen Realitäten und Problemen dieser Welt positiv und lösungsorientiert auseinanderzusetzen (denn die waren ja ohnehin nur „Konstruktionen“, die so, aber auch ganz anders sein könnten). Für machtbewusste Strategen allerdings boten Relativismus und Kontruktivismus großartige Instrumente zur Manipulation und Destabilisierung ganzer Gesellschaften: Alles ist relativ, nichts ist real so, wie es zu sein scheint. Es gibt kein richtig und falsch, kein gut und böse, alles ist relativ, aber meine Ideen sind die relativ besten, ihr müsst nur daran glauben! Die Ideen des Relativismus und Konstruktivismus wurden von philosophischen Gedankenspielen zu Machtinstrumenten, mit denen man gesellschaftliche und politische Prozesse anstoßen und fast nach Belieben steuern konnte (davon wird noch zu reden sein).

Heute, im 21. Jahrhundert, sind die Begriffe und das Bewusstsein von Wahrheit und Wirklichkeit in vielen Bereichen aufgelöst und haben ein diffuses Gefühl von Verunsicherung und Ratlosigkeit hinterlassen.

Relativismus und Konstruktivismus treten mit hohem intellektuellen Anspruch auf. Das müssen sie auch, denn sie treten gegen einen mächtigen Gegner an: Unsere Wahrnehmung der Dinge und Vorgänge um uns her. Das ist ja auch (von einer unbefangenen Denkweise her) nur schwer einzusehen, dass die Realitäten vor unseren Augen gar nicht real sein sollen, sondern nur persönliche Wahrnehmungen, die bestenfalls „Schattenbilder“ sind oder „Illusionen“, weil hinter ihnen keine objektive Wirklichkeit steht. Und es widerspricht ja unseren elementarsten Erfahrungen, dass es keine Wahrheit geben soll, sondern nur Meinungen und Überzeugungen, die alle gleich berechtigt sind, weil hinter unseren Wahrheiten keine unabhängigen Tatsachen stehen. (Wie kommt das dann eigentlich, dass bei naturwissenschaftlichen Untersuchungen bei gleichen Versuchsbedingungen immer die gleichen Ergebisse ereicht werden? Wenn doch die untersuchten Phänomene gar nicht wirklich existieren, sondern nur „Konstrukte“ der untersuchenden Menschen sind. Dann müsste man doch erwarten, dass die verschiedenen „Konstrukte“ der verschiedenen Menschen auch verschiedene Ergebnisse hervorbringen??) Da muss man sich schon etwas einfallen lassen, um so eine Theorie durchzudrücken.

Es ist fast wie bei dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: Man muss den Menschen nur einreden, dass jeder, der intellektuell einigermaßen mithalten kann, selbstverständlich die Richtigkeit des Relativismus versteht, und dass jeder, der diese Denkweise ablehnt, einfach nur zu dumm ist, um ein wirklich modernes Verständnis der Welt nachzuvollziehen. Und wer will schon gern zugeben, dass er sooo dumm ist! So plappern es viele, allzuviele nach: Es ist alles relativ. Es gibt keine allgemeingültigen Wahrheiten, sondern nur persönliche Interpretationen, es gibt keine objektiven Realitäten, sondern nur individuelle Wahrnehmungen, es gibt keine allgemein verpflichtende Ethik, sondern nur kulturbedingte Moralvorstellungen. Es gibt keine historischen Tatsachen, sondern nur interessengesteuerte Deutungen vergangener Vorgänge und Verhältnisse. Das klingt so intellektuell und tiefsinnig, so abgehoben und selbstentrückt! Die Konsequenzen einer solchen Haltung werden erst bei genauerem Hinschauen sichtbar. Hier sollen sie kurz angesprochen werden:

  • Die relativierte Wahrheit
  • Die relativierte Wirklichkeit
  • Die relativierte Ethik

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2.1 Die relativierte Wahrheit

Herr A. war mit dem Auto in der Stadt, hat einige Dinge besorgt und war dann noch in der Bank um etwas Bargeld abzuheben. Einige Zeit später bekommt er einen Brief von der Polizei, dass er sich bei der Wache melden soll. Dort erfährt er, dass eine Anzeige gegen ihn vorliege, weil er einen Unfall verursacht habe, dabei war zwar nur ein Außenspiegel des anderen Fahrzeugs zerstört worden, aber er habe Unfallflucht begangen. Der Geschädigte hatte sich sein Autokennzeichen notiert. Herr A. ist erschrocken und verunsichert; er kann sich an den Vorfall nicht erinnern. Zu Hause sieht er in seinem Kalender nach und stellt fest: Am angegebenen Unfalltag war er gar nicht in der Stadt und er kann das auch beweisen. Die Nachfragen der Polizei ergeben: Der angeblich Geschädigte hatte selbst einen kleinen Unfall verursacht, bei dem der Spiegel kaputt ging. Um von sich selbst abzulenken, hatte er die Nummer eines Autos notiert, das am Unfallort vor der Bank parkte und dann am nächsten Tag den Unfall angezeigt. Wenn Herr A. nicht hätte beweisen können, dass er am angeblichen Unfall-Tag nicht in der Stadt war, hätte er nun ein Problem: Aussage steht gegen Aussage, welche ist wahr? Und vor allem: Welche könnte den wahr sein, wenn es angeblich gar keine objektiven Wahrheiten gint? Wem wird man glauben?

Solche Fragen nach der „historischen Wahrheit“ gibt es täglich tausendfach. Und ohne die Frage nach der Wahrheit kann es kein Recht geben.  Schwierig wird es, wenn nun eine Denkrichtung wie der Relativismus behautet, dass es so etwas wie eine historische Wahrheit gar nicht gibt.Jeder hat seine eigene Wahrheit“, sagt man; „meine Wahrheit kann eine ganz andere sein als deine. Und selbst, wenn meine Wahrheit eine von mir selbst erfundene Lüge wäre, so bestehe ich doch darauf, dass sie ebenso ernst genommen wird wie alle anderen „Wahrheiten“ auch (von denen wir ja auch nicht wissen, wie „wahr“ sie sind). Wichtig ist nur, dass du die Wahrheit des Relativismus anerkennst, ansonsten magst du für wahr halten, was du willst. Eine alleinige Wahrheit (die gegenüber allen anderslautenden Behauptungen wahr ist) gibt es nicht und kann es nicht geben.“ Solche Relativierung der Wahrheit hätte in diesem Fall die Potenz in sich, Herrn A. rechtlos zu machen. Freilich, in diesem Fall ist die Sache eindeutig: Herr A. war nicht Verursacher des Unfalls, er kann es beweisen. In anderen Fällen kann der Wahrheitsrelativismus den Ausgang eines Streitfalles ganz anders entscheiden:

Aber es ist doch wahr, ich bin meinem Mann nie untreu gewesen, ich habe immer versucht, die Kinder gut zu versorgen und ordentlich zu erziehen, obwohl das schwer genug war, als mein Mann immer öfter bei seiner Geliebten blieb und er immer weniger Zeit und Geld für seine Familie übrig hatte.“ „Das mag wahr sein“, sagt dann der Scheidungsrichter, „aber es ist irrelevant. Die Beiden haben sich auseinandergelebt, die Ehe ist „gescheitert“ (1976 wurde in Deutschland das Schuldprinzip bei Scheidungen durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt). Also müssen nur noch die „Scheidungsfolgen“ (Unterhalt, Sorgerecht usw.) geregelt werden. Die Schuldfrage bringt uns nicht weiter. Außerdem sieht ja sowieso jeder den anderen als Schuldigen. Und eine objektive Wahrheit kann es da nicht geben.“ So bekommt eine sehr seltsame philosophische Denkweise (der Wahrheitsrelativismus) plötzlich gesellschaftspolitische Wirkkraft per Gesetz. Die Schuldfrage, die als Rechtsprinzip immer auch eine Frage nach der Wahrheit sein muss, die kann und darf nicht mehr gestellt werden. Das heißt, es wird Recht gesprochen und es werden Urteile gefällt, die nicht mehr nach der Wahrheit fragen. Und damit hört das Recht auf, der Gerechtigkeit zu dienen, denn Gerechtigkeit kann nur auf Wahrheit aufgebaut werden.

Das ist nur ein Beispiel, es gibt schlimmere: Selbst die Überzeugung, dass das Töten von Menschen etwas Verbotenes ist, wird auf einmal ganz relativ, wenn man es „Euthanasie“ nennt und „Gnadentod für Lebensunwertes“ (wie man das im „Dritten Reich“ nannte, als man Hunderttausende von Behinderten umbrachte). Ja, selbst der grauenvolle Mord an Millionen Menschen wird zur guten Tat, wenn wir ihn „Endlösung“ nennen für ein schwieriges Problem, die „Judenfrage“.  Heute redet man von einem „Recht auf einen selbstbestimmten Tod“, das jedem Menschen zustehe (wobei ich mir der Problematik und des Leidens von schwer erkrankten Menschen wohl bewusst bin; aber immer dann, wenn irgendwelche Arten von „Bezahlung“ und „Gewinn“ mit ihm Spiel sind, ist vom „Helfen“ zum „Morden“ nur ein kleiner Schritt).  Mit der Relativierung der Wahrheit kann man jedes (eigene) Vorgehen, und sei es noch so verbrecherisch, rechtfertigen und jedes Handeln (anderer), und sei es noch so menschenfreundlich, zum Verbrechen erklären. Heute ist es z. B. ein beliebtes Mittel autoritärer Machthaber, alle, die anderer Meinung sind als sie selbst, zu „Terroristen“ zu erklären. Jeder, der eine andere Meinung vertritt als der aktuelle Machthaber ist ein Terrorist und jede abweichende Meinung ist „Terrorpropaganda“ (und Terroristen müssen selbstverständlich bekämpft und „ausgeschaltet“ werden). Wer wird denn da nach der Wahrheit fragen? Der Relativismus wirkt heute nicht als philosophische Idee, sondern als Machtinstrument (manchmal auch als Mordinstrument), weltweit tausendfach erfolgreich angewendet!

Die Relativierung und Umdeutung der Wahrheit ist Hauptmerkmal jeder Ideologie und Voraussetzung für jede totalitäre Herrschaft.

Ein besonders deutliches gegenwärtiges Beispiel für die politische Seite der Wahrheitsfrage ist der seit Jahrzehnten andauernde israelisch-palästinensische Konflikt (siehe das Thema „Konfliktherd Heiliges Land“ im Bereich „kontroverse Diskussion“ und dort den Beitrag „Die doppelte Wahrheit“). Jede Seite des „Nahost-Konflikts” hat ihre eigene Wahrheit (genauer gesagt: ihre eigenen Wahrheitsansprüche). Und diese „Wahrheiten“ könnten kaum unterschiedlicher und gegensätzlicher sein. Jede Seite (Israelis oder Palästinenser) hat ihre eigene Geschichtsschreibung entwickelt, und auch die sind kaum widersprüchlicher denkbar. Es existieren zwei völlig unterschiedliche Geschichtsbilder bezüglich der historischen Fakten bei der Entstehung und Entwicklung des Konflikts, so als ob man über völlig verschiedene Vorgänge reden würde, wobei jede Seite ihre Interpretation für die einzige objektiv richtige Wahrheit hält. Das muss uns nicht überraschen, das ist in solchen Konfliktfällen mehr oder weniger immer der Fall. Trotzdem hat die Sache zwei Aspekte, die man auseinanderhalten muss: Einmal geht es um das subjektive Erleben der Menschen auf beiden Seiten, und das muss man trotz aller Widersprüchlichkeiten und Einseitigkeiten (die in der Natur der Sache liegen, denn jeder erlebt ja nur die eine Seite des Konflikts) sehr erst nehmen. Es gibt aber nicht nur das tatsächliche Erleben, sondern auch bewusste Übermalungen, Verfälschungen und Fehlinterpretationen solchen Erlebens, die bewusst als „Kampfmittel“ im Konflikt eingesetzt werden. Und diese Verfälschungen bekommen nach und nach (vor allem in der nächsten Generation, die das Geschehen nicht mehr selbst miterlebt hat) einen subjektiven Wahrheitswert, der sich gegen die tatsächlichen und objektiven historischen Fakten durchsetzen und diese völlig verdrängen kann.

Wenn es um historische Vorgänge geht, gibt es eben nicht nur subjektives Erleben, sondern auch objektive Tatsachen. Wer das leugnet, ist unfähig zu einem ehrlichen Dialog. Richtig ist, dass man nur ins Gespräch kommen kann, wenn man das Erleben und Erleiden der Menschen auf der jeweils anderen Seite wahrnimmt und ernst nimmt. Absolut zerstörerisch für das Gespräch ist es aber, wenn die eine Seite verlangt, dass man ihre Verfälschungen zur Grundlage des Dialogs macht. „Nur wenn du meine Interpretation der Ereignisse (bis hin zur Geschichtsfälschung und Kollektiv-Lüge) als unsere gemeinsame Wahrheit akzeptierst, bin ich bereit, mit dir zu reden.“

Es gibt eine ganze Reihe von Geschichts-Lügen, die für die meisten (moslemischen) Araber (innerhalb und außerhalb Palästinas) unterdessen zur unumstößlichen Wahrheit geworden sind (hier können nur einige wenige Beispiele genannt werden): „Es gab nie in der Geschichte einen jüdischen Staat auf dem Gebiet des heutigen Israel und nie einen jüdischen Tempel in Jerusalem. Der Holocaust ist eine jüdische Erfindung, um die Völker der Welt unter Druck zu setzen und die Notwendigkeit eines jüdischen Staates zu begründen. Die Juden haben uns das Land weggenommen, das uns seit Jahrhunderten gehörte. Wir allein (die Palästinenser) sind die Opfer des Konflikts und ihr allein (die jüdischen Israelis) seid die Täter …“ Jeder dieser Sätze ist (objektiv und historisch gesehen) eine Lüge, die aber subjektiv von der überwältigenden Mehrheit der Palästinenser als die einzig wahre Wahrheit geglaubt wird.

Fatal ist es nun, wenn von außen kluge und einflussreiche Politiker, Journalisten, auch Vertreter von Kirchen usw. kommen und sagen „Nun, wir sehen, es gibt zwei unterschiedliche Wahrheiten bei euch. Die Gerechtigkeit verlangt, dass wir beide Wahrheiten gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen. Die Frage nach einer objektiven historischen Wahrheit ist irrelevant und bringt uns nicht weiter.“ Das klingt sehr weise, ausgewogen und abgeklärt. Wenn aber auf diese Weise die Lüge gleichberechtigt neben die Wahrheit gestellt wird und (Propaganda-) Lügen zur Grundlage von Gesprächen und Verträgen werden, so ist deren Scheitern vorprogrammiert.

Ein Beispiel: Im Herbst 2016 hat die UNESCO (unter dem Druck einer arabisch-freundlichen Mehrheit in diesem Gremium) eine Resolution veröffentlicht, die mit aller Autorität einer Organisation der Vereinten Nationen behauptet, dass es keinerlei historische Beziehungen gibt zwischen dem Tempelberg (Haram Al-Sharif) in Jerusalem und dem Judentum. Die vielen archäologischen Funde, die das Gegenteil beweisen, spielen keine Rolle. Was Wahrheit ist, bestimmen die Meinungsmacher. Die bessere Propaganda entscheidet darüber, was „wahr“ ist und geglaubt wird.

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2.2. Die relativierte Wirklichkeit

Postfaktisch“ nennt das „Wort des Jahres 2016“ unsere Gegenwart. Diejenigen, die dieses Wort wählten, wollen damit andeuten, dass die Fakten, die Realitäten, die Wirklichkeit in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion immer unwichtiger werden. Was zählt, ist die Stimmung, die man mit einer „Nachricht“ machen kann, egal, ob sie wahr ist oder frei erfunden. Und da sind die „Fake-News“, die raffiniert erfundenen und bewusst eingesetzten Nachrichtenlügen eindeutig im Vorteil. Echte faktenbasierte Nachrichten sind fast immer vielschichtig, mehrdeutig, interpretationsbedürftig, also ein wenig mühsam zu verstehen und einzuordnen. Erfundene Neuigkeiten dagegen sind einschichtig, eindeutig, suggestiv, und auf einen bestimmten Effekt ausgerichtet. Sie können so aufgestylt und zurechtfrisiert werden, dass sie genau den Nerv treffen und genau die Stimmung bestärken, für die eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen empfänglich ist. Und die erleben es nun als Bestätigung, ja geradezu als Befreiung, jetzt ihre eigenen unausgegorenen Emotionen in einfache und leicht verständliche Worte gefasst als veröffentlichte „Wahrheit“ zu erleben.

Indem man falsche „Wahrheiten“ erfindet und so darbietet, dass sie als echte Wahrheiten aufgenommen und geglaubt werden, versucht man nach und nach eine neue „Wirklichkeit“ zu erzeugen (Wirklichkeit hier verstanden als Summe der Wahrheiten, die bezüglich einer bestimmten Sache oder eines bestimmten Vorgangs geglaubt werden). Eine auf falschen (neuerdingds „alternativ“ genannten) „Wahrheiten“ aufgebaute falsche „Wirklichkeit“ zwingt jedoch die Menschen, die in dieser verfälschten Wirklichkeit leben, zu Handlungsweisen, die mit den Realitäten dieser Welt nichts mehr zu tun haben, die aber den Interessen, dem Aufbau oder dem Erhalt bestimmten Machtsysteme bzw. dem Machtgewinn bestimmter Machthaber dienen. Millionen von Menschen leben in einer Scheinwelt von Falschinformationen und Verschwörungstheorien, von Scheinwirklichkeiten und ideologischer Verblendung, die ihr Handeln bestimmen. Der Relativismus ist vom Gedankenspiel zum Machtinstrument geworden! Die Möglichkeiten, vertrauliche Daten (im Internet) illegal abzugreifen und falsche Informationen weltweit zu verbreiten, werden ja nicht nur von Kriminellen genutzt, sondern unterdessen auch, und immer intensiver, von bestimmten Machthabern und ihren Geheimdiensten.

Demokratisch geführte Gemeinwesen sind besonders anfällig für solche Angriffe aus dem Hinterhalt, denn im Rahmen einer allgemeinen Meinungsfreiheit können selbst die Lüge, der Hass und die Bosheit sich ungehindert Gehör verschaffen. So kann man in einer verfälschten Wirklichkeit mit gesteuerten Fehlinformationen gesellschaftliche Bewegungen in Gang setzen, politische Wahlen beeinflussen und ein Klima des Misstrauens erzeugen.

Kriege werden heute grundsätzlich an zwei Fronten geführt, einer realen Front, an der real gekämpft, geblutet und gestorben wird und einer Propaganda-Front, wo die realen Ereignisse gedeutet und umgedeutet werden, übermalt und verfälscht, wo die realen Schlachten propagandistisch ausgeschlachtet werden, um die jeweiligen Gegner als monströse und gewissenlose Kindermörder darzustellen und die eigenen Kämpfer als die edlen Verteidiger der Unschuldigen und Verfolgten.

Die Vordenker des Relativismus und Konstruktivismus haben den Boden dafür bereitet, dass der Same der Lüge und der Manipulation aufgehen und sich weltumfassend ausbreiten konnte. Propaganda-Lügen gab es schon immer, aber die Welt-Sicht des Relativismus, vereint mit den technischen Möglichkeiten der modernen Kommunikationsmittel haben ein Weltklima geschaffen, in dem jede Wahrheit mit Misstrauen betrachtet wird und jede Lüge als gleichwertige Gegen-Wahrheit (neuerdings „alternative Fakten“ genannt). Bevor dieser Same in unserer Gegenwart auch politische Wirksamkeit entfalten konnte, wurde er jahrzehntelang auf dem Feld der sozialen Beziehungen gezüchtet und erprobt. Das oben genannte Beispiel mit dem von der Wahrheit losgelösten Scheidungsrecht beschreibt nur einen ersten Impuls in diese Richtung. Unterdessen sind fast alle sozialen Realitäten und Beziehungen „relativiert“: Dass z. B. ich ein Mann bin (und kein geschlechtsunbestimmtes Gender-Wesen), das soll ab jetzt keine Realität mehr sein, sondern nur noch eine Ansichtssache, die sich aber jederzeit ändern kann, schlimmstenfalls auch gegen meinen Willen (siehe das Thema „Das Gender-Konstrukt“).

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2.3 Die relativierte Ethik

Jeder Mensch in jeder Kultur hat den Eindruck, dass diese Welt, so wie ist, nicht durchgängig so ist, wie sie sein sollte, sondern ethisch ungenügend, verbesserungsbedürftig hinsichtlich der Mitmenschlichkeit im Miteinander der Menschen. Manches ist manchmal wunderschön, aber vieles sollte anders sein. Menschen haben in sich nicht nur ein Bild von der Welt wie sie ist (siehe Abschnitt 1.1 „Weltwahrnehmung und Weltverständnis“), sondern auch, wie sie sein sollte (siehe den Beitrag „sein und sollen“). Die Welt, wie sie sein sollte, hat überall bei allen Menschen, in allen Kulturen ähnliche Grundzüge: Ohne Schmerz und Leid, ohne Sterben und Tod, ohne Mangel und Hunger, ohne Neid und Betrug, ohne Gewalt und Krieg … Das bedeutet leider nicht, dass alle Menschen bereit wären, selbst entsprechend zu leben und anderen Menschen entsprechend zu begegnen. Trotzdem gibt es diese Sehnsucht nach der „guten“ Welt. Und es gibt Menschen, die nach ihren Möglichkeiten und trotz aller menschlichen Schwächen und Fehler versuchen, das Gute zu tun.

Sie ernten den Spott der Relativisten: Naive „Weltverbesserer“ seien sie, „Gutmenschen“ ohne Verstand. Sie verstünden eben nicht, dass es so etwas wie richtig oder falsch, gut oder böse gar nicht geben kann, weil es keine Maßstäbe gäbe, an denen man das festmachen könne. Dieser Spott ist billig; es kostet ja keinerlei Anstrengung, allem Geschehen freien Lauf zu lassen, solange man selbst auf der Seite der Gesunden, Starken und Erfolgreichen ist. Ich aber wünschte mir, es gäbe mehr „Weltverbesserer“, die nach ihren Möglichkeiten an irgendeiner konkreten Stelle versuchen, diese reale Welt wenigstens ein wenig besser zu machen (Gott sei Dank gibt es viel mehr davon, als es uns die Meinungsmacher einreden wollen). Weltverschlechterer (wie die Relativisten und viele, viele andere) gibt es genug. Ich wünschte mir auch, es gäbe noch ein paar mehr „Gutmenschen“, die versuchen, in ihrem alltäglichen Leben etwas Gutes zu verwirklichen. Schlechtmenschen, die, wo sie nur können, ihren Mitmenschen das Leben schwer machen, gibt es viel zu viele.

Ethik (wir könnten auch sagen: „Mitmenschlichkeit“) ist keine Theorie im luftleeren Raum, sie ist immer an wirkliches Handeln im wirklichen Leben gebunden. Wenn es aber keine Wahrheit gibt, gibt es auch keine Maßstäbe für unser Tun und lassen. Wer will die Täter tadeln, wenn doch die Leiden der Opfer vielleicht nur Einbildung sind? Ja, gewiss, es gibt in Einzelfällen auch falsche Anschuldigungen und erfundenes Leid. Aber dem gegenüber gibt es viele Millionen von Menschen, die leiden jetzt, während Sie diese Zeilen lesen, unter Unrecht und Gewalt, die ihnen von anderen Menschen angetan werden. Wer wird ihnen zu Hilfe kommen, wenn eine allgegenwärtige Propaganda den Menschen in ihrem Land einredet, dass das doch alles (vom Säugling bis zum Greis) „Terroristen“ sind? Und Terroristen muss man doch bekämpfen – mit allen Mitteln! Es sind ja nicht wenige Länder, in denen jetzt in unserer Gegenwart genau so geredet und gehandelt wird. Gleichzeitig gibt es auch die wirklichen Terroristen, die sich als harmlose Mitbürger ausgeben, um ihre Gewalttaten ungestört vorbereiten zu können. Und es gibt (zum Beispiel) bei uns und in bestimmten Weltgegenden Millionen von Menschen, die meinen, wenn sie den Holocaust leugnen, dann hat er auch nie stattgefunden.

Mit der Wahrheit und der Wirklichkeit stirbt auch die Mitmenschlichkeit. Was sollte denn unter den Menschen als Maßstab für mitmenschliches Verhalten gelten, wenn es keine (echte) Wahrheit und keine (objektive) Wirklichkeit mehr gäbe? Um des Leben jedes einzelnen Menschen willen und um des Überlebens der Menschheit willen, muss es einen Minimalkonsens geben, welches Verhalten als richtig und hilfreich (also gut) anzusehen ist und welches als falsch und schädlich (also böse) gelten muss. Ohne Wahrheit gibt es keine Ethik und ohne Ethik gibt es keine Menschlichkeit; nur die Unmenschlichkeit und das Recht des Stärkeren, die Gewalt und die Diktatur, die kommen ohne Wahrheit und Ethik aus.

Die Vertreter des Relativismus sehen sich selbst gern als intellektuelle Speerspitze der Moderne. Sie „übersehen“ dabei bewusst oder unbewusst, dass es ohne objektive Tatsachen, ohne allgemeingültige Wahrheiten und ohne eine allgemein verpflichtende Ethik auch kein Recht gäbe, das Menschen vor Unrecht in Schutz neh­men könnte (siehe den Themenbeitrag „Recht und Unrecht“) und dass damit jedem friedlichen Miteinander von Menschen die Grundlagen entzogen würden. Die Speerspitze der Relativisten zielt auf das Herz der Menschlichkeit.

Die Bibel kennt keinen Relativismus: Sie kennt richtig und falsch, sie nennt Gutes gut und Böses böse: „Du sollst“ und „du sollst nicht“. Und sie fordert die Menschen auf, sich zu entscheiden, für das Gute und gegen das Böse. Sprüche 8, 13: Die Furcht des Herrn bedeutet, Böses zu hassen (Das Wort, das hier für „Furcht“ steht, bedeutet in der Beziehung zu Gott nicht Angst, sondern Achtung und Ehrfurcht; das Wort, dass hier mit „hassen” übersetzt wird, meint nicht Wut und Gewalttätigkeit, sondern entschiedene Ablehnung mit leidenschaftlichem Engagement). So macht es auch Gott und so sieht das Gottesbild aus, das uns die Bibel vor Augen malt: Ein Gott, der liebt und hasst. Im Neuen Testament finden wir einen ganz ähnlichen Satz (Röm 12,9): Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Wir sehen: Wir sollen wie Gott lieben und hassen.

Aber darf denn Gott hassen; ist er nicht der „Liebe Gott“? Nein, diesen „Lieben Gott“, den gibt es nicht, jedenfalls nicht in der Bibel. Das ist ein selbstgemachtes Zerrbild Gottes. Gott liebt und hasst; aber was liebt er und was hasst er? Gott liebt die Menschen, alle Menschen, alle, ohne Ausnahme, auch die, die Böses getan haben; er liebt sie mit der ganzen Kraft seines göttlichen Herzens und Gott hasst das Böse, alles Böse, mit aller Gewalt seines göttlichen Zorns, und das ist kein Widerspruch, denn es ist die Kraft seiner Liebe zu den Menschen, mit der Gott das Böse hasst, und zwar deshalb hasst, weil es die Menschen, die er selbst um der Liebe willen geschaffen hat, in ihrem eigentlichen Menschsein in Frage stellt, und weil es alle positive Beziehungen, alles Gute und Hilfreiche und Schöne zwischen den Menschen zerstört. Gott liebt Menschen, alle Menschen, aber er hasst Einstellungen, Vorhaben und Handlungsweisen, die Menschen Schaden zufügen und wehtun und das Miteinander von Menschen zerstören wollen. Wie sollte Gott das Böse nicht hassen, angesichts einer Welt voll Ungerechtigkeit und Gemeinheit, Raub und Betrug, Unterdrückung und Ausbeutung, Gewalt und Krieg, Folter und Mord?

Gott liebt die Menschen, alle Menschen, und er liebt alles Gute und er hasst das Böse und er fordert uns auf, es auch so zu halten: Die Menschen und das Gute lieben und das Böse (auch das Böse in uns selbst) entschieden abzulehnen. Wer sagt, so etwas wie gut und böse kann es nicht geben, weil es so etwas wie Wahrheit und Wirklichkeit nicht gibt, ist ein Feind aller Menschlichkeit.

Wir Christen in Europa haben uns ein sehr wohltemperiertes, auf Ausgleich und Gleichmaß bedachtes Christsein angewöhnt. Wir hassen nicht und wir lieben selten. Entschiedenheit ist, wenn es um den Glauben geht, fast schon etwas Ungehöriges. Wir haben den Glauben zum besinnlichen Postkartenspruch degradiert. Gott aber hasst das Böse, leidenschaftlich, hasst es, weil er die Menschen leidenschaftlich liebt, besonders die, die in den Fesseln des Bösen gefangen sind – als Täter oder als Opfer. Vielleicht hassen wir das Böse so wenig, weil wir die Menschen zu wenig lieben?

Jesus sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“. Jesus sagt nicht „Geht nur, wohin ihr wollt, tut, was euch Spaß macht, ich gehe jeden Weg mit.“ Er sagt: „Mein Weg ist der Weg der Wahrheit und nur der führt zum Leben“.

Noch einmal (weil hier so leicht Missverständnisse entstehen können): Wir sind nicht aufgefordert, irgendwelche Menschen aus irgendeinem Grund „Böse“ nennen, sie ablehnen und zu bekämpfen. Wir dürfen bei all dem nie aus den Augen verlieren: Es gibt keinen Menschen, der „von Natur aus“ gut oder böse wäre (siehe die Beiträge zum Thema „gut und böse“), aber es gibt böse Ideen, Absichten, Vorhaben und Taten. Und es gibt erst recht keine Menschengruppen (Klassen, Völker, Rassen, Kulturgemeinschaften, Religionsgemeinschaften usw.) deren Mitglieder schon allein deshalb abzulehnen wären, weil sie dieser Gemeinschaft angehören. Jeder Mensch ist grundsätzlich zum Guten bestimmt und zum Bösen fähig und jeder tut manchmal auch Böses, obwohl er die Möglichkeit hätte, sich für das Gute zu entscheiden. Es geht also nicht darum, die Menschen abzulehnen, die Böses tun, wohl aber das Böse abzulehnen, das sie tun oder veranlassen. Wir glauben als Christen, dass Gott alle Menschen geschaffen und gewollt hat, und dass er allen Menschen die Möglichkeit gibt, sich für das Gute und gegen das Böse zu entscheiden. Das bedeutet: Wir sollen die Lüge hassen und die Verlogenheit, nicht den Lügner, denn der könnte sich ja ändern, wir sollen den Betrug hassen und alle betrügerischen Einstellungen und Handlungen, nicht den Betrüger, denn der könnte ja aufhören mit seinem betrügerischen Tun, wir sollen den Mord hassen und jede Mordgesinnung (auch wenn sie nur von „Schreibtischtätern“ verbreitet wird, die selbst nie eine Waffe in die Hand nehmen), nicht den Mörder (auch wenn ein Staat die Lügner, Betrüger und Mörder bestrafen muss, um weiteren Lug, Betrug und Mord zu verhindern). Und man muss die bösen Bestrebungen bekämpfen, die unter Ausnutzung aller legalen Möglichkeiten in der Gemeinschaft ein Klima das Hasses und der Feindschaft erzeugen, um das Böse für ihre Zwecke zu nutzen und ebenso die Bestrebungen, die Wahrheit und Wirklichkeit zu verschleiern, um Menschen zu verunsichern und sie so leichter für ihre Zwecke missbrauchen zu können.

Im folgenden Beitrag „verschiedene Realitäten“ wird deshalb etwas genauer hingeschaut, was „Wirklichkeit“ (Realität) eigentlich ist, und in welchen Formen sie uns begegnet, damit wir besser gewappnet sind, um den schlauen Verführern nicht auf den Leim zu gehen.

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© 2017 Bodo Fiebig Relativismus und Konstruktivismus“,  Version 2017-8

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