Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Wirklichkeit und Wahrheit

Beitrag 5: Reale und virtuelle Welt (Bodo Fiebig8. Mai 2018)

Was ist das eigentlich für ein Ding, was ich da in der Hand halte? Es verbindet mich mit der Welt, aber ich weiß nicht, ob die Welt, mit der es mich verbindet, überhaupt existiert. Sind die Orte und Ereignisse, von denen ich Texte und Bilder empfange, real oder nur elektronisch gesteuerte Phantasie? Ich bin verbunden mit mehr als 300 „Freunden“, aber sind das wirklich meine Freunde? Oder werden der „Freund“ oder die „Freundin“, denen ich etwas Vertrauliches zuschicke, mich morgen damit bloßstellen vor der Weltöffentlichkeit des Internet? Ich chatte mit einem Unbekannten irgendwo im Universum, aber ist der wirklich ein Junge aus Hannover, wie er mir schreibt, zwei Jahre älter als ich, Schüler der 8. Klasse im Gymnasium, der sich für mich und mein Leben interessiert, oder ist er vielleicht ein pädophiles Monster, das massenweise (möglichst freizügige) Bilder sammelt von Mädchen wie mich und sie dann an Gleichgesinnte verkauft? Wie passt die „virtuelle Wirklichkeit“ des Internet, in der ich mich immer länger aufhalte, mit meiner „realen Welt“ zusammen, in der ich mich oft so isoliert und unverstanden fühle? Wer bin ich wirklich? Herrin in meiner virtuellen Welt oder ahnungslose Konsumentin von Werbung, Beeinflussung und Irreführung? Ich bin 12 Jahre alt und ich weiß alles; für alles und jedes gibt es einen Suchbegriff und tausend Antworten, aber wer sagt mir die eine Wahrheit? Oder gibt es das gar nicht mehr: „Wahrheit“? Tausend Bilder, tausend Filme, tausend Songs, tausend „Freunde“, tausend „Tweets“, tausend Meinungen, tausend Wahrheiten … und ich – allein.“

Dieses fiktive Selbstgespräch eines jungen Menschen spiegelt ein Dilemma unserer Zeit: Die Frage „Was ist Wahrheit und was ist Wirklichkeit“ bleibt ohne Antwort. So entsteht ein großes Misstrauen gegenüber allem, was wahr und wirklich zu sein scheint. Aber: Wie lebt man in einer Welt, in der jede „Wahrheit“ auch eine Lüge sein könnte und jede „Wirklichkeit“ etwas Erfundenes?

Es mag provozierend klingen, aber es ist wahr: Die Rede von der „virtuellen Wirklichkeit“ ist eine der großen „Fake-News“ unserer Gegenwart, eine Welt- und Menschheits-Lüge im 21. Jahrhundert! Es gibt sie schlichtweg nicht, diese zweigeteilte Wirklichkeit aus „realer Welt“ und „virtueller Welt“. Alle Inhalte, die in der sogenannten „virtuellen Welt“ in Erscheinung treten, sind von realen Menschen in der realen Welt erdachte und gemachte Realitäten. Sie existieren nur auf einer anderen Ebene unserer Wirklichkeit (siehe den Beitrag „verschiedene „Wirklichkeiten“). Auch die Bits und Bites einer Computer-Datei sind reale Gegebenheiten in unserer realen Welt, physikalisch fassbare Zustände auf der Festplatte, der CD, dem Stick … Sogar die Daten in der „Cloud“ sind nicht irgendwo in den Wolken, sondern ganz reale Inhalte auf großen Speichereinheiten in realen Rechenzentren, die reales Geld kosten und ungeheur viel Energie fressen.

Die Computer-Welt und das Internet sind kein virtueller Zauber, dessen Zaubersprüche nur die Zauberlehrlinge der „Big Five“ (Microsoft, Google, Apple, Facebook und Amazon) kennen, sondern sind reale Fakten in der wirklichen Welt. Freilich sind ihre Inhalte nicht auf Leinwand gemalt oder auf Papier gedruckt wie in früheren Jahrhunderten, sondern in einer digitalen Zeichensprache programmierte Bildfolgen, Tonfolgen, Anweisungen, Reaktionen … Nur, wenn das schon eine „virtuelle“ Parallelwelt ausmachen würde, dann wäre schon jedes auf Leinwand gemalte Bild, das nicht eine reale Landschaft abbildet, und jeder auf Papier gedruckte Roman, der eine erdachte Geschichte erzählt, schon eine „virtuelle Welt“. Aber bei Leinwand und Papier hat man noch den realen Bezug, weil man das Bild oder das Buch in die Hand nehmen kann. Man kann sogar die Pinselstriche des Malers noch sehen, aus denen sich das Bild zusammensetzt. Deshalb ordnet man Bild und Buch leichter der vertrauten Realität zu.

Bei einer programmierten Darstellung (z. B. bei einem Computerspiel) dagegen bekommt man den „Pinselstrich“ des Programmierers (die Zeichenfolge seines Programms) fast nie zu Gesicht, und wenn, dann würden nur ausgebildete und hochspezialisierte Fachleute sie „lesen“ können. Dieser „Erfahrungsabstand“ zwischen den Zeichen des Programmierers und der sichtbaren Darstellung auf einem Bildschirm lässt sich vom „Nutzer“ des Programms nur schwer überbrücken. Und so entsteht dann auch ein „gefühlter“ Abstand zwischen den Realitäten der eigenen alltäglichen Umwelt und den Darstellungen des Programms. Dieser Abstand wird noch bewusst vergrößert, indem man die „virtuellen Welten“ optisch möglichst realistisch gestaltet, aber von den Inhalten her möglichst phantastisch und realitätsfern (Z. B. bei Computerspielen). So bekommen die Phantasiegebilde einer geschäftstüchtigen Unterhaltungsindustrie nach und nach den Anschein einer eigenen elektronisch erzeugten Realität neben der dinglichen Realität unserer Umwelt. Es geschieht eine bewusste und von bestimmten Absichten gesteuerte „Entführung aus der Wirklichkeit“. Das will ich in einem Vergleich noch deutlicher darstellen:

Wer schon einmal bei dichtem Nebel mit dem Auto unterwegs war, kennt die Situation: Die reale Landschaft mit ihren realen Bergen und Ebenen, ihren Häusern und Bäumen, mit Tieren und Menschen ist fast nicht mehr erkennbar hinter der grauen Nebel-Wand, auf die unsere Autoscheinwerfer bizarre Licht-Erscheinungen malen. So ergeht es uns mit der realen und virtuellen Wirklichkeit im Zeitalter der digitalen Wirklichkeitstverschleierung und Wahrheitsvernebelung: Die reale Welt ist selbstverständlich noch da, mit all ihrer Vielfalt an Schönem und Schrecklichem. Aber zwischen diese Realität und unsere Wahrnehmung schiebt sich nun der Nebel künstlich erzeugter Scheinrealität. Es ist so, als würden die Scheinwerfer unseres Autos nicht nur weißes Licht auf die Nebelwand werfen, sondern eine vielfarbige mit großen Soundeffekten untermalte 3D-Darstellung eines emotional hoch aufgeladenen Geschehens voller Liebe und Hass, Schönheit und Erotik, Brutalität und Grausamkeit, überwältigenden Glück und abgrundtiefem Leid, das uns herausfordert, uns als „Retter der Welt“ zu bewähren. Gefangen von irrealen Bildern und Ereignissen fahren wir durch eine vernebelte reale Landschaft! Ein wirklicher Autofahrer wäre nun in einer hochgefährlichen Situation: Sein Auto fährt ja immer noch auf der realen Straße seines realen Lebens, die Bäume und Häuser hier entlang des Weges, dort die kaum noch wahrnehmbare steile Kurve und der Abgrund auf der anderen Seite, die sind ja alle noch da! Eigentlich bräuchte der Fahrer am Steuer seine ganze Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit, um das Auto gut und sicher da hindurch zu steuern, aber er starrt voll Faszination und emotionaler Erregung auf die farbenprächtige Projektion auf der Nebelwand. Wie lange wird das gut gehen?

Nein, es gibt keine virtuelle Wirklichkeit neben unserer realen Welt, sondern die sogenannte „virtuelle Welt“ ist ein von Menschen gemachter und von Menschen zu verantwortender Teil unserer einen Wirklichkeit. Alles, was uns die sogenannte „virtuelle Welt“ so unwirklich erscheinen lässt, ist von Menschen bewusst so gestaltet, um damit bessere Geschäfte machen zu können. Die heutigen technischen Möglichkeiten könnten genau so gut auch so genutzt werden, dass sie „kombatibel“ sind mit unseren realen Erfahrungen in unserer realen Umwelt, durchschaubar und bewusst handhabbar für jedermann, ja dass sie uns helfen, leichter und erfüllter zu leben als je zuvor, ohne dass uns dabei unsere Identität geraubt und unsere Persönlichkeit entwertet wird. Das ungeheure Potential des Internet und der elektronischen Datenverarbeitung und „künstlicher Intelligenz“ könnte auch so eingesetzt und gestaltet werden, dass es Menschen nicht bewusst „weltentfremdet“ und bezüglich ihrer Lebensgestaltung und Selbstverantwortung entmündigt. Aber diese „Weltentfremdung“ und Entmündigung werden ja bewusst gewollt, gestaltet, eingesetzt und genutzt um die Nutzer dieser Techniken als Geldquelle und Datenquelle (und insgesamt als Quelle globaler Macht) auszubeuten. (Ein „harmloses“ Beispiel dafür war das „Pokemon“ – Spiel, das Millionen von Teenagern begeisterte. Stellen wir uns vor: Hochrangige Mitarbeiter großer IT-Unternehmen brüten über der Frage: Wie kommen wir an das Geld und die Daten von Millionen Menschen? Wenn wir sie zwingen wollten, würden sie sich wehren. Ah – Das ist die Idee: Wir machen ein Spiel, einfach, aber faszinierend, das virtuelle Figuren in die reale Welt zu zaubern scheint. Jeder, der dieses Spiel mitspielen will, muss mit unserem Rechenzentrum verbunden sein, und uns ständig seine Daten über seinen Aufenthaltsort usw. zusenden. Die Menschen geben uns freiwillig ihre Daten für ein Spiel, das sie von uns kaufen müssen: Perfekt!)

Es ist die bloße Gier nach dem wirtschaftlichen Erfolg und Gewinn, verbunden mit dem Streben nach weltweiter Wirtschaftsmacht, die Unternehmer dazu antreibt, die „Nebelwand“ zu verdichten und die Projektion zu perfektionieren, die uns eine virtuelle Wirklichkeit vorgaukelt, auch wenn wir auf diese Weise auf einen realen Abgrund zusteuern. Es geht um Geld und Daten. Geld + Daten = Macht, das ist die „Weltformel“ des 21. Jahrhunderts, und die ist ganz gewiss nicht virtuell!

Für die großen IT-Weltkonzerne hat die Rede von der „virtuellen Realität“ große Vorteile: Die realen Geschäftspraktiken in der realen Wirtschaft sind zumindest in manchen Teilbereichen national und international gesetzlich geregelt. Man darf nicht alles tun, was man möchte. Also erfindet und gestaltet man eine „virtuelle Welt“, die noch frei ist von einschränkenden Regelungen und tut so, als wäre sein Unternehmen dort angesiedelt. So können Google, Facebook und Co. sich verhalten, als gehöre ihnen die Welt und als würden Gesetze und Vorschriften einzelner Staaten sie grundsätzlich nicht betreffen. Ihre Geschäfte finden ja (so möchten sie uns das einreden) in der „virtuellen Welt“ statt und deren Gesetze machen sie selbst! Ihnen und ihren verantwortlichen Managern muss man es deutlich sagen und wenn nötig, auch mit juristischen Mitteln handgreiflich erfahrbar machen: Nein, es gibt keine eigene und andere Wirklichkeit, die neben der realen Welt existiert und die für die Fragen von Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit und Ehrlichkeit, von richtig und falsch, gut und böse nicht zugänglich wäre. Die „virtuelle Welt“ ist real und reale Menschen sind dafür verantwortlich, was in ihr und durch sie geschieht. Wer meint, dass in der „virtuellen Welt“ die Gesetze der Demokratie und der Mitmenschlichkeit nicht gelten, ist auf dem besten Wege, die Gesetze der Demokratie und der Mitmenschlichkeit auch in der „realen Welt“ abzuschaffen.

Allerdings muss ich jetzt im folgenden und abschließenden Beitrag „Die doppelte Wirklichkeit“ darauf hinweisen, dass es doch so etwas wie eine „andere Realität“ gibt neben unserer materiellen Welt. Nur ist die nicht von den Programmierern der großen IT-Konzerne gemacht.

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Bodo Fiebig, Die doppelte Wirklichkeit, Version 4-2018

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