Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Wirklichkeit und Wahrheit

Beitrag 2: Die Macht der Lüge (Bodo Fiebig8. Mai 2018)

Jede Information, ob in Form von Sprache, von Eindrücken, von Ereignissen, von Ursache-Folge-Wirkungen usw. prägt unser Empfinden und unser Bewusstsein mit, wenn es um die Fragen geht „wie ist diese Welt beschaffen, wie finde ich mich in ihr vor und welches Handeln ist jetzt richtig und angemessen?“ Das bedeutet aber: Die Lüge ist nicht nur einfach eine sachliche Falschinformation. Sie bewirkt etwas. Sie bewirkt unter anderem auch eine Fehlprägung unseres Weltbewusstseins (im Kleinen wie im Großen).

Jede bewusste Lüge ist auch eine bewusste Fehlsteuerung unserer Umweltwahrnehmung und bewirkt eine Verfälschung dessen, was im Beitrag „Weltwahrnehmung und Weltverständnis“ unsere „Weltverinnerlichung“ genannt wird. Solche Verfälschungen bewirken, dass sich unser Verständnis der Welt nach und nach immer weiter von den Realitäten dieser Welt entfernt. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn es sich dabei um vereinzelte Nebensächlichkeiten handeln würde; im wörtlichen Sinne „tragisch“ kann das aber dann werden, wenn es sich um ein ganzes System von gesteuerten Falschinformationen und Fehldeutungen handelt, die unser Denken und Verhalten im Sinne einer umfassenden Strategie oder Ideologie beeinflussen sollen. So ist es in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Ländern der Erde in gewaltigem Umfang geschehen und mit furchtbaren Folgen. Keine Diktatur der Welt kann ohne die Macht der Lüge existieren. Das gilt auch für die Meinungsdiktaturen, die gegenwärtig auch in den demokratisch verfassten Ländern immer weiter um sich greifen. Einige davon werde ich in diesem Beitrag noch ansprechen.

Dabei geht es den Lügenverbreitern nicht einfach nur um falsche Informationen. Es geht darum, die dem Menschen grundsätzlich gegebene Fähigkeit, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden und sich für die Wahrheit und gegen die Lüge zu entscheiden zu übertölpeln und so die bewusst eingesetzte Lüge als selbstverständliche Wahrheit erscheinen zu lassen. Und es geht dabei (wie immer) um Reichtum und Macht und um die Lust, andere so zu manipulieren, dass man sie für die eigenen Zwecke einsetzen und missbrauchen kann. Drei Bereiche solcher Übertölpelung durch Wahrheitsverfälschung will ich hier anführen:

1Die Verdächtigung des Positiven

2) Verfälschung der Sprache

3) Überwältigung der Wahrheit

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2 Die Verdächtigung des Positiven 

Hier geht es, jedenfalls auf dem ersten Blick, gar nicht um bewusste Lügen. Was hier gemeint ist, könnte man als „unbeachtete Kehrseite der Werbung“ bezeichnen. Werbung ist zunächst einmal und ursprünglich einfach Information. Ein Unternehmen hat ein neues Produkt entwickelt und informiert potenzielle Kunden über das neue Produkt und seine Eigenschaften. Solche Art von Werbung ist nicht zu kritisieren und hat mit Beeinflussung gar nichts zu tun, aber sie ist selten geworden.

Beeinflussung durch Werbung geschieht fast immer durch Aussagen, die gar nicht das Produkt selbst ansprechen. Fast immer sind den Werbeinformationen Botschaften beigemischt, die mit den tatsächlichen Eigenschaften des beworbenen Produkts gar nichts zu tun haben. Wie sollten denn auch die Bilder einer attraktiv aufgemachten jungen Frau über die Fahreigenschaften eines Autos informieren? Das wollen und sollen sie auch gar nicht. Sie wollen und sollen bewirken, dass der potenzielle Käufer (das sind bei Autos meistens Männer) die positiven Emotionen, welche die Bilder von der jungen Frau bei ihm wecken, auf das Auto überträgt, so dass dieses eine emotionale Attraktivität erhält, die ursprünglich der jungen Werbe-Frau galt. Oder: Das Sehnsuchtsbild von sonnigen, blühenden Wiesen in einer atemberaubend schönen Alpenlandschaft lässt uns im Supermarkt zu einer bestimmten Käsesorte greifen, auch wenn die Milch dafür von Kühen stammt, die in riesigen Ställen mit vollautomatischen Fütterungs- und Melkanlagen stehen und die das Licht des Tages nie gesehen haben.

„Nun ja“, könnte man sagen, „solche Werbung ist zwar nicht ganz ehrlich, aber sie schadet ja schließlich niemandem. Die meisten Leute sehen halt gern Bilder von schönen und erotisch attraktiven Menschen, oder Bilder von herrlichen Alpenlandschaften und stimmungsvollen Sonnenuntergängen am Palmenstrand, oder Bilder von glücklichen Paaren und von harmonischen Familien mit lachenden Kindern“. Na, und?

Das ist aber sehr naiv gedacht. Doch, solche Bilder richten Schaden an, unermesslichen Schaden, aber ganz anders als wir meinen. Die modernen Menschen, die ständig von einer Überfülle solcher Werbung umgeben sind, sind ja nicht dumm, jedenfalls nicht so dumm wie manche Werbefachleute meinen. Obwohl die Werbebilder und -Szenen bewusst nicht auf den Verstand der Menschen zielen, sondern auf ihre Gefühle, so wissen sie es doch: „Das ist ja nur Werbung, das ist doch alles nicht wahr, falscher Schein, verlogene Verführung“. Und so entsteht im Laufe der Zeit bei vielen, unbemerkt und ungewollt, in ihrer Umweltwahrnehmung eine Verknüpfung (wie ein „Link“ im Computer-Programm) zwischen der (emotionalen) Empfindung „gut und schön“ und der (sachlichen) Einschätzung „falsch und verlogen“.

Die Bilder von schönen und erotisch attraktiven Menschen, die Bilder von herrlichen Alpenlandschaften mit klarer Luft und weitem Blick oder von stimmungsvollen, friedlichen Sonnenuntergängen am Palmenstrand, die Bilder von glücklichen Paaren in unbeschwerter Zweisamkeit oder von harmonischen Familien mit lachenden Kindern, die sind ja nicht zufällig ausgewählt. Da haben die Werbepsychologen ganze Arbeit geleistet. Die Werbebilder beschreiben in beeindruckender Kürze das, wonach sich die meisten Menschen sehnen, weil sie es bei sich selbst vermissen.

Wenn aber nun das, wonach sich die Menschen sehnen, in ihrem Denken (bewusst oder unbewusst) mit dem Einschätzung „unecht“ verknüpft ist, als etwas, das uns beeinflussen will, etwas zu kaufen, was wir vielleicht gar nicht brauchen, wenn alles, was Menschen als gut und schön empfinden und gerne haben möchten, gleichzeitig (bewusst oder unbewusst) mit dem Urteil „falsch und verlogen“ verbunden ist, dann entsteht eine gesellschaftliche Gesamtatmosphäre des Misstrauens gegen alles, was irgendwie positiv zu sein scheint. Und dann bekommt alles, was negativ erscheint, was gewalttätig und hässlich daherkommt, den Stempel, „unschön, aber wenigstens ehrlich“.

Und das gilt nicht nur für Werbung im engeren Sinn (also da wo es darum geht, jemanden zu motivieren, eine bestimmte Ware zu kaufen), sondern z. B. auch für die Werbung von politischen Parteien in der Zeit vor der Wahl, oder für die Selbstvermarktung von „Promis“ in den einschlägigen Blättern, Sendungen und Foren und unterdessen auch oft für die Selbstdarstellung von ganz normalen Menschen in den sozialen Medien.

Die Werbung mit ihren missbrauchten Sehnsuchtsbildern trägt wesentlich zu einer solchen negativen Einstellung zu allem Positiven bei. Wir sind es so sehr gewöhnt, hinter jeder schönen Fassade versteckte Unwahrheit, ja etwas verborgen Böses zu vermuten, dass der Begriff „schöne Fassade“ selbst schon zu einem Begriff für etwas versteckt Boshaftes geworden ist. Und wir kommen gar nicht mehr auf die Idee, nachzuschauen, ob es denn wirklich so ist. Dass hinter einer „schönen Fassade“ (das meine ich jetzt nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftlich) auch ein schöner Innenraum sein könnte, mit Menschen, die da gern und harmonisch zusammen wohnen, das scheint uns (vor allem im Bereich Kunst und Kultur) völlig undenkbar.

Die Macht der Lüge in Form der Beeinflussung durch Werbung hat alles Gute unter den Generalverdacht gestellt, in Wahrheit etwas Verlogenes und verborgen Böses zu sein und sie kann in ganzen Gesellschaften eine Atmosphäre des Misstrauens gegen alles positiv Menschliche erzeugen. Die Folge ist: Das Misstrauen gegen das vermeintlich Gute wird nach und nach und je länger je mehr zum offenen Tor für das tatsächlich Böse. Nach dem Motto: Also mir ist das ehrlich Böse immer noch lieber als das verlogen Gute“ (ohne zu prüfen, ob das Gute denn wirklich immer verlogen und das Böse denn wirklich ehrlich ist). Prüfen wir uns doch einmal selbst, wie weit sich diese negative Abwehrhaltung gegenüber allem, was irgendwie gut, schön und menschenfreundlich erscheint, bei uns selbst schon festgesetzt hat.

Ein sehr deutliches Beispiel für die Verdächtigung des augenscheinlich Guten als etwas Verlogenes und verborgen Böses ist das Verhältnis vieler moderner und intellektueller Menschen zu den Kirchen. Der immer schneller gallopierende Ansehensverlust der Kirchen hat seine Haupt-Ursache nicht darin, dass die Kirchen nicht modern genug auftreten, nicht darin, dass in den Kirchen altmodische Ansichten vertreten oder langweilige Gottesdienste gefeiert werden, auch nicht in den Fällen von tatsächlichen und schlimmen Fehlverhalten und Missbrauch durch einzelne Kirchen-Vertreter.

Nein, aber Menschen, in deren Weltverständnis sich diese Verknüpfung von „schön und gut“ einerseits und „falsch und verlogen“ andererseits festgesetzt hat (alles, was schön und gut aussieht, ist in Wirklichkeit falsch und verlogen), sehen die Kirchen von außen und sie sehen: Da gehen Menschen freundlich, vielleicht sogar liebevoll miteinander um, da gibt es Menschen, die sich um andere kümmern, wenn sie in Not sind, die leben in Gemeinschaften, so wie sie diese Beobachter es sich eigentlich für sich selbst auch wünschen und dann können sie gar nicht anders als auch da mehr oder weniger bewusst diese Verknüpfung nachzuvollziehen: Falsch, verlogen und in Wirklichkeit voll heimlicher Bosheit. Alles nur schöne Fassade! Und dahinter?? Und dann kommen große und sehr geschickt gemachte „Kunst-Werke“, Romane und Filme, (z. B. Umberto Eco „Der Name der Rose“ – schriftstellerisch großartig gemacht), die ihnen genau das bestätigen: Ja, die Kirche ist in Wirklichkeit im Innern voller Intrigen und Gemeinheit, voller Machtgier, Gewalt und Mord. Da können viele Menschen gar nicht anders, als auch diesen Reflex nachzuvollziehen: „Unschön, aber wenigstens ehrlich!“ Auch wenn die dargestellten Inhalte solcher Romane und Filme mit der historischen Wirklichkeit der Kirche nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Das Urteil steht fest. (Und diese Feststellung ist unabhängig davon, dass es auch in den Kirchen wirklich Böses gegeben hat und manchmal immer noch gibt.)

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2) Die Verfälschung der Sprache

In George Orwells Roman „1984“ (erschienen 1948) ist schon alles vorgezeichnet, was mit „Verfälschung der Sprache“ gemeint ist, auch, wie eine verfälschte Sprache funktioniert, was sie leisten kann und soll: Die Sprache wird so verändert („Neusprech“), dass sie dem Denken bereits seine Richtung und seine Inhalte vorgibt und unerwünschtes Denken weitgehend unmöglich macht. Im „Ministerium für Wahrheit“ („Miniwahr“) wird die Wahrheit umgeschrieben und alles gelöscht, was an sie erinnern könnte und im „Ministerium für Liebe“ („Minilieb“) werden die Abweichler so lange einer Gehirnwäsche unterzogen und gefoltert, bis sie gar nicht mehr fähig sind, einen Gedanken zu denken, der nicht dem System entspricht („Gedankenverbrechen“). 1946 bis 1948, als Orwell seinen Roman schrieb, hatte er die Diktaturen unter Stalin in der Sowjetunion und unter Hitler in Deutschland vor Augen. In beiden wurde die Verfälschung der Sprache in großem Umfang Teil des politischen Systems.

In Deutschland nannten die Nazis z. B. ihr Programm zur brutalen Ermordung von Hunderttausenden behinderten Menschen „Euthanasie“ (schöner Tod). Den Abtransport der Juden in die Vernichtungslager nannte man „Umsiedlung“, ihre Ermordung hieß „Sonderbehandlung“. Das ganze Programm zur Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen hieß „Endlösung“ eines schwierigen Problems (der „Judenfrage“).

Auch heute gibt es solche Sprachverfälschung. So nennt man z. B. in vielen Ländern mit totalitären Strukturen jeden, der eine unliebsame Meinung vertritt oder jeden, der sich sonst irgendwie unangepasst verhält „Terroristen“. Und „Terroristen“ muss man eben „mit allen Mitteln“ bekämpfen! Man muss unliebsame Abweichler (z. B. Journalisten) mit unerwünschten Meinungen nur einfach „Terroristen“ nennen und ihre Meinungen „Terrorpropaganda“, dann darf man sie ohne Gerichtsurteil gefangennehmen, sie foltern und töten.

Auch in demokratischen Gesellschaften gibt es Bezeichnungen, die jeden, den man damit belegt, sofort zum Kriminellen macht. Ein Beispiel dafür ist das Wort „Phobie“ (eine Phobie ist eigentlich eine psychische Erkrankung im Sinne einer „unangemessenen Angstreaktion mit körperlichen Symptomen“). Unterdessen hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch diese Bedeutung völlig gewandelt und der Begriff wird als unzulässige, ja strafbare Diskriminierung verstanden (Homophobie, Islamophobie usw.). Und so kann man jeden, der eine abweichende und gesellschaftlich unerwünschte Meinung vertritt, kriminalisieren, indem man ihm „Phobie“ vorwirft.

Die Sprache prägt unsere Vorstellungswelt, unsere Einstellungen und Handlungsimpulse mehr als irgendetwas anders. Deshalb kann man mit einer verfälschten und verfälschenden Sprache das Denken und Handeln von Menschen mehr beeinflussen als durch irgend etwas sonst.

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3) Die Überwältigung der Wahrheit

Ich will diesen Abschnitt mit einem Satz aus dem oben genannten Roman George Orwells „1984“ beginnen: Wenn alle die von der Partei verbreitete Lüge glaubten, und alle verfügbaren Dokumente sie gleichlautend wiedergeben, dann ginge die Lüge in die Geschichte ein und würde Wahrheit“. Eine diktatorische Macht muss ihre Lügen gar nicht mit Gewalt durchsetzen. Es ist viel effektiver, die Wahrheit unter der Menge der Lügen einfach zu ersticken und verschwinden zu lassen. Wenn die immer gleichen Lügen von allen Seiten auf die Menschen einströmen, so dass diese Lügen sich gegenseitig immer wieder bestätigen und verstärken, dann werden sie irgendwann als „Wahrheit“ geglaubt. Überall da, wo Menschen und nach absoluter Macht streben (oder da, wo herrschende Diaktaturen ihre Macht festigen wollen), da wird solche „Überwältigung der Wahrheit“ durch ein allgegenwärtiges System von Lügen zur „staatstragenden“ Selbstverständlichkeit.

Heute ist es mit den Mitteln der modernen Kommunikationstechnik möglich, Nachrichten (und das heißt eben auch: Nachrichten-Lügen und bewusste Fehlinformationen) mit einem „Klick“ millionenfach zu verbreiten, schnell, billig und effektiv. Und diese Möglichkeit wird in großer Breite genutzt: Von Geheimdiensten und deren Beauftragten, von Konzernen und deren Werbeabteilungen und Lobbyisten, von Parteien und deren Wahlkampfteams, von NGOs mit verschiedensten Motivationen und Zielen, von Interessenverbänden, Verschwörungs-Gläubigen, Netzwerken, „Think-Tanks“ (der Begriff ist ja vielschichtig: Experten-Pool als „Denkfabrik“ oder „Denk-Panzer“ unter dessen Gewalt die Wahrheit zermalmt wird? usw.  Die „Macht der Lüge“ ist in unserer Gegenwart größer, als wir uns das vorstellen können. Sie beeinflusst, verändert und bestimmt unsere „Weltsicht“ und unser Verständnis der gegenwärtigen Verhältnisse und Vorgänge mehr als wir ahnen. Solche „Wahrheitsverfälschung“ kann sich zu einem zusammenfassenden „Welterklärungsmodell“ verdichten in Ideologien oder Verschwörungstheorien, die das Weltbild und Selbstverständnis ihrer „Gläubigen“ auf eine einzige Leitidee einengen und festlegen. Solche Wahrheitsverfälschung gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in Bereichen wie Wissen und Forschung, in Kunst und Kultur, Unterricht und Bildung, Sicherheit und Recht, im Bereich der Ideale und Idole usw. Aber: Kann aus verfälschen „Wahrheiten“ auch eine verfälschte „neue Wirklichkeit“ entstehen?

4 Neue Wirklichkeit?

Der Streit um die Wirklichkeit ist im vollen Gange (siehe dazu auch das Thema „Wirklichkeit und Wahrheit“). Kann aus „alternativen Fakten“ eine „alternative Wirklichkeit“ entstehen, wenn eine Mehrheit daran glaubt? Können wir zwischen einer „wahren“ oder „unwahren“ Wirklichkeit unterscheiden oder verschwimmt alles im Ungewissen? Kann es überhaupt so etwas wie eine „wahre Wirklichkeit“ geben oder hängt die „Wahrheit“ der „Wirklichkeit“ davon ab, was wir wahrnehmen und als Wahrheit annehmen („annehmen“ im Sinne von „vermuten“ oder „akzeptieren“)?

Das mit der „Wirklichkeit“ ist ja gar nicht so einfach. „Deine blauen Augen“, sagt der Vererbungsbiologe „kommen in den Erbanlagen unserer Bevölkerung relativ selten vor.“ „Deine blauen Augen“ sagt der verliebte junge Mann zu seiner Freundin „sind wie ein Spiegel deiner Seele“. „Deine blauen Augen“, sagt der Boxer zu seinem unterlegenen Gegner „tun mir Leid, aber ich konnte mir die Chance nicht entgehen lassen und musste hart zuschlagen“. Eine Aussage über „blaue Augen“ kann in verschiedenen Denksystemen (hier sachlich-wissenschaftsorientiert, bzw. emotional-beziehungsorientiert, bzw. sportlich-erfolgsorientiert) sehr verschiedene Aspekte der Wirklichkeit ansprechen. Unsere Sprache bekommt erst in einem spezifischen Sprachumfeld seine „eigentliche“ (d. h. die von den Sprechenden gemeinte) Bedeutung.

Auch Wissenschaft ist nicht voraussetzungslos. Auch sie gewinnt ihre Erkenntnisse immer in einem bestimmten Denksystem, dem je ein bestimmtes Weltverständnis und Selbstverständnis zugrunde liegt (siehe unten als Beispiel das „wissenschaftliche“ und das „biblische“ Denksystem). Und nur in dem jeweils gültigen Denksystem haben wissenschaftliche Aussagen ihren „eigentlich gemeinten“ Sinn (z. B. Aussagen über das Verhältnis von Erde und Sonne im kopernikanischen oder im ptolemäischen Denksystem).

Man sagt oft, man müsse sich eben immer an wissenschaftlich festgestellte Fakten halten. Aber, auch das ist gar nicht so leicht: Auch „Fakten“ (genauer: Aussagen über Fakten) gelten immer nur innerhalb solcher Denksysteme und können in einem anderen System eine ganz andere Färbung und Bedeutung bekommen (was bedeuten z. B. Daten, die vom Robert-Koch-Institut zur Corona-Pandemie veröffentlicht werden in einem Denksystem, das alle offiziell veröffentlichen Fakten grundsätzlich für Lügen hält?). Das heißt: Mit Fakten kann man nur Menschen überzeugen, deren Denkgrundlagen und Kategorien im gleichen System verankert sind. Wer in einem Denksystem verhaftet ist, innerhalb dessen er überzeugt ist, dass „geheime Mächte“ die Erde beherrschen und alles, was öffentlich dargestellt wird, in Wirklichkeit nur bewusst gestreute Lügen sind, der wird auch durch „wissenschaftliche Fakten“ nicht umzustimmen sein. (siehe dazu auch Im Bereich „Herausforderungen der Gegenwart, zum Thema „Gefährliche Entwicklungen“ den Beitrag „Der Kampf um die Wahrheit“)

Die Tatsache, dass man nur dann sinnvoll miteinander kommunizieren kann, wenn man im gleichen Denksystem denkt und redet, ist auch im Bereich des Glaubens von großer Bedeutung. Christen leben, denken und kommunizieren oft (und oft ohne sich dessen bewusst zu sein) gleichzeitig in zwei verschiedenen Denksystemen: In einem wissenschaftlichen und einem religiösen. Und sie können, trotz sich teilweise widersprechenden Grundüberzeugungen der beiden Systeme, meist problemlos von einem ins andere System „umsteigen“. Ich will hier diese beiden Systeme ansprechen (sehr kurz und deshalb auch inhaltlich verkürzt – ausführlicher wird auf diese und ähnliche Fragen eingegangen in den Themen der Bereiche „Grundfragen des Lebens“,Grundfragen des Glaubens“ und „Grundlagen der Gesellschaft“).

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Wissenschaftliches Denksystem:

a) In einem Anfangsereignis („Urknall“) entstand durch die Wirk-Kräfte der Natur das Universum aus Materie und Energie in Raum und Zeit und entwickelt sich seitdem weiter entsprechend den in der Natur enthaltenen Naturkonstanten und Naturgesetzen.

b) Durch die Entstehung einer ersten lebens- und vermehrungsfähigen Zelle (sozusagen der biologische „Urknall“) begann die Entwicklung des Lebens und brachte (durch zufällige Mutationen, und dann Selektion der jeweils „fittesten“) die ganze Fülle des Lebens hervor.

c) Weder die Entstehung und Entwicklung des Universums noch die des Lebens haben irgendeinen Sinn oder irgendein Ziel.

(So einige Grundüberzeugungen vieler Naturwissenschaftler; es gibt auch Wissenschaftler, die das Eine oder Andere anders sehen.)

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Biblisches Denksystem:

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. So heißt der erste Satz der Bibel. Und in diesem einen Satz ist ein völlig anderes Denksystem begründet (wobei „Himmel“ hier nicht eine Art „Paralleluniversum“ meint, weit weg von uns, sondern eine Realität, die uns auch im Irdischen ganz nahe kommen kann; und „Erde“ meint hier nicht nur unseren Planeten in unserem Sonnensystem, sondern die ganze materielle Schöpfung des Universums). Das bedingt folgende Grundüberzeugungen:

a) Die (unbelebte und belebte) Natur ist nicht etwas zufällig Gewordenes, sondern etwas bewusst Geschaffenes, geschaffen von einer personalen Potenz, die wir „Gott“ nennen, den Gott, der sich in seinem Wort, in der Person Jesu, und in der Geschichte Israels und der Völker geoffenbart hat.

b) Unser Universum ist der materielle Teil einer himmlisch-irdischen (spirituell-materiellen) Doppel-Schöpfung aus „Himmel und Erde“, wobei beide Schöpfungsteile nicht unverbunden nebeneinander existieren, sondern sich gegenseitig durchdringen und beeinflussen, wobei die zuerst genannte Himmels-Schöpfung als „Ort“ unverhüllter Gottes-Gegenwart die ursprünglichere Realität ist, welche die daraus hervorgehende „irdisch-materielle“ Schöpfung des Universums bedingt und umfängt.

c) Alles Sein und Leben hat einen Anfang. (Da sind sich Wissenschaft und Glaube gegenwärtig einig, früher galt in der Wissenschaft das Universum als „ewig existierend“, ohne Anfang und Ende). Das Sein und das Leben haben aber, biblisch gesehen, nicht nur einen Anfang und ein Ende, sondern in allem eine Ausrichtung auf ein Ziel hin: Eine Existenz in zeitloser Gegenwärtigkeit im Nah-Bereich der Liebe Gottes.

Christen sind es gewöhnt, je nach Situation zwischen diesen beiden Denksystemen hin und her zu wechseln. Und das muss nicht intellektuell unredlich sein: Denksysteme müssen sich nicht gänzlich ausschließen. Sie können sich auch (zumindest in Teilbereichen) gegenseitig akzeptieren, überschneiden und ergänzen.

Trotzdem: Wenn wir z. B. eine reale Situation wie die gegenwärtige Corona-Pandemie aus der wissenschaftlichen Perspektive betrachten, kommen wir wahrscheinlich zu ganz anderen „Erkenntnissen“, als wenn wir sie aus biblischer Sicht anschauen. Wobei auch hier beide Sichtweisen sich gegenseitig ergänzen können (z. B. etwa so): „Wir haben zu Gott-vergessen gelebt und nun erinnert uns diese Pandemie daran, dass wir eben doch nicht alles ‚im Griff‘ haben und so leben und planen können, als ob das Leben endlos wäre und es Gott nicht gäbe.“ So könnte man nun als Christ ernsthaft und konsequent die (wissenschaftlich begründeten) Corona-Regeln beachten und gleichzeitig wieder bewusster das eigene Leben auf Gott und seine Verheißungen hin ausrichten.

Für unsere Gegenwart und Zukunft wäre es wichtig, dass die wissenschaftliche und die biblische Sicht und Denkweise versöhnt werden als zwei sehr verschiedene Denk-Folien, die aber, übereinandergelegt, unsere Welt im Vollsinn abbilden. Dabei gibt es aber auf beiden Seiten auch scheinbar unversöhnbare Denkmuster. Allerdings: Wenn man sich die genauer anschaut, sieht man, dass diese Unversöhnlichkeiten im jeweiligen Denksystem oft gar nicht unbedingt notwendig sind und deshalb überwunden werden könnten. Das ist auch eines der Anliegen für die Themenbearbeitungen auf „lebenundfrieden.de“. (Siehe dazu das Thema „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“ im Bereich „Grundfragen des Glaubens“).

Es gibt auch Denksysteme, die sich gegenseitig weitgehend ausschließen, z. B. biblischer Glaube und manche Ideologien, die im 20. Jahrhundert weltweit Machtpositionen errungen hatten (z. B. rassistischer Nationalismus oder bewusst atheistischer Kommunismus oder egomanischer Liberalismus).

Gegenwärtig gibt es konkurrierende Denksysteme, die weder aus der Wissenschaft noch aus einer Religion kommen, aber mit Auseinandersetzungen, die vergleichbar hart und unversöhnlich sind wie in früheren Jahrhunderten die Auseinandersetzung zwischen dem biblischen und dem wissenschaftlichen Weltbild: Menschen mit einem Denksystem, in welchem sie ihr Leben und ihre Lieben von dunklen Mächten bedroht sehen, und in dem sie „jetzt endlich“ zu verstehen meinen, „was wirklich gespielt wird“. Menschen, die von „Experten“ überzeugt sind, die sie für die „wirklich Wissenden“ halten und die ihnen die Augen geöffnet haben für die furchtbaren Gefahren, die im Geheimen lauern. Menschen, die sich jetzt gerufen wissen, das Äußerste zu wagen, um das Schlimmste zu verhindern. Die dahinter stehenden „Verschwörungs-Theorien“ existieren in einem eigenen Denk-System und deshalb werden ihre Anhänger mit wissenschaftlichen Fakten kaum zu überzeugen sein. Denn diese „Fakten“ wären ja für sie nur der Beweis, wie perfide die „Bösen“ ihre Pläne nach allen Seiten absichern, indem sie sogar Wissenschaftler „kaufen“, damit die ihre Lügen bestätigen.

Hier könnte es nur helfen, wenn solche Menschen wieder eine intellektuelles und spirituelles, wissenschaftliches und biblisches Weltverständnis zurückgewinnen, das es ihnen erlaubt, wieder unvoreingenommener mit den Zuständen und Veränderungen in ihrer „Welt“ umzugehen. Und wir erkennen, wie wichtig es ist, dass Wissenschaft und Glaube nicht berührungslos nebeneinander existieren, sondern sich gegenseitig ergänzen können. Und das sichtbar zu machen, könnte für Christen durchaus ein „missionarischer“ Auftrag sein.

Die „Umdeutung der Lüge zur allseits geglaubten Wahrheit“ und die Neubildung von „Wirklichkeit“, die sich zum Teil aus bewussten Unwahrheiten zusammensetzt, geschehen heute überraschenderweise auch zu einem guten Teil im Namen von „Aufklärung“ und „Modernismus“ durch Menschen, die sich selbst als „intellektuelle Elite“ sehen. Ihre Philosophie und ihr Programm heißen „Relativismus und Konstruktivismus“. Davon wird im folgenden Beitrag die Rede sein.

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„Die Macht der Lüge“,  Bodo Fiebig, 2018

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