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Weltgeschichte (also der Fortgang der Entwicklungen und Ereignisse in den Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen und Völkern) und Heilsgeschichte (also der Fortgang des Handelns Gottes mit den Menschen entsprechend seiner Verheißungen) sind nicht identisch, aber sie haben viel miteinander zu tun und beeinflussen sich gegenseitig. Das soll an einigen Beispielen unserer Gegenwart und der Geschichte Deutschlands und Europas deutlich werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Beziehungen zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte
2 Zwei Beispiele deutscher und europäischer Schuldgeschichte
2.1 Der Holocaust in Deutschland
2.2 Kolonialisierung der Welt durch die europäischen Mächte
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1 Beziehungen zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte
Ich will dies zunächst an einem Beispiel erkennbar machen, das uns in Deutschland besonders nahe liegt und dessen Bilder uns noch vor Augen sind.
Die Älteren unter uns erinnern sich noch lebhaft an den 9. November 1989. Das zerfallende DDR-Regime gab dem Druck der Bevölkerung nach und gewährte „Reisefreiheit“. Hunderttausende stürmten noch in der Nacht die Mauer in Berlin. Das war das Ende der DDR und der Beginn der Wiedervereinigung Deutschlands.
Nur in wenigen Kommentaren jener wahrhaft aufregenden Tage war zu lesen, dass der 9. November schon vorher für Deutschland ein besonderer Tag war: Am 9. November 1918 wurde nach dem verlorenen 1. Weltkrieg in Berlin die Republik ausgerufen. Zum ersten Male entstand in Deutschland ein demokratisches Staatswesen. Genau 5 Jahre danach, am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler mit einem Putsch in München die Macht in Deutschland an sich zu reißen. Genau 15 Jahre nach dem Hitler-Putsch, 20 Jahre nach der Geburt der Demokratie in Deutschland, am 9. November 1938, inszenierten die Nazis die sogenannte „Reichskristallnacht“ und gaben damit das Startzeichen zur Vernichtung von 6 Millionen Juden in Deutschland und Europa. Und am 9. November 1989, genau 51 Jahre danach fiel die Mauer in Berlin.
Wenige Wochen bevor die Mauer zerbrach, im September 1989, fiel eine Entscheidung, die die Ereignisse in Berlin erst möglich machte: Die Regierung von Ungarn beschloss, die Grenzen für DDR-Bürger zu öffnen und sie in den Westen ausreisen zu lassen. Der „Trabi“ wurde zum „Auto des Jahres“, mit dem Tausende in die Freiheit fuhren. Dieses Loch im „Eisernen Vorhang“ trug entscheidend zur Destabilisierung des SED-Regimes bei. Genau 50 Jahre davor, im September 1939 begann Hitler mit dem Überfall auf Polen den zweiten Weltkrieg.
Der Krieg Hitlers endete im Mai 1945 mit der totalen Niederlage und weitgehenden Zerstörung Deutschlands. 10 Jahre davor, 1935, hatten die Nazis die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ verkündigt, in denen die Juden für rassisch minderwertig erklärt wurden, eine bedeutsame Station auf dem Leidensweg der Juden im „3. Reich“, die nun von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und in ihren Lebensmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt wurden.
3 Jahre nach der Niederlage Hitler-Deutschlands im Mai 1945, also im Mai 1948 wurde der Staat Israel entsprechend der Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 29. Nov. 1947 gegründet. Der Druck der Verfolgung der Juden durch die Nazis hatte wesentlich zur Überzeugung der Juden beigetragen, dass sie nur in einem eigenen Staat frei und sicher leben könnten. Allerdings wurde der neugegründete Staat Israel noch am Gründungstag von den arabischen Nachbarstaaten angegriffen und es dauerte bis in das Jahr 1949, bis es klar wurde, dass Israel diesen Angriff überleben und als Staat existieren würde. Im Sommer 1949 wurden die Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten abgeschlossen, die den Krieg vorerst beendeten und die Existenz Israels bestätigten. Im gleichen Jahr 1949 wurden die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gegründet. So traten 3 Staaten fast gleichzeitig in die Geschichte: Die BRD, die DDR und Israel. Die Täter und die Opfer des Holocaust bekamen gleichzeitig 40 Jahre Zeit, ihren Staat aufzubauen.
Einer der beiden deutschen Staaten erkannte den Staat Israel völkerrechtlich an, nahm diplomatische Beziehungen auf und unterstützte den Staat Israel im Rahmen der sogenannten „Wiedergutmachung“. Der andere deutsche Staat tat dies nicht. Der Staat, der Israel nicht anerkannt hatte und nicht unterstützt hatte, war 40 Jahre nach der Gründung der beiden deutschen Staaten, 1989, politisch und wirtschaftlich gescheitert und zerbrach trotz des lückenlosen Abwehrsystems der „Staatssicherheit“.
Wir erkennen schon an diesen wenigen historischen Fakten, wie eng Gegenwart und Vergangenheit, und auch Weltgeschichte und Heilsgeschichte miteinander verknüpft sind. Das Schicksal Deutschlands in unserem Jahrhundert scheint auf seltsame und verborgene Weise mit unserem Verhalten gegenüber dem Judentum zusammenzuhängen: Am Jahrestag des Judenpogroms, 50 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und der DDR, als niemand es erwartete oder für möglich hielt, zerbrach Gott selbst die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands und gab den Weg frei für eine friedliche Entwicklung im vereinten Deutschland. Das deutsche Volk bekam als Ganzes die historisch und heilsgeschichtlich einmalige und so nicht wiederkehrende Chance, sich vom Unrecht und Ungeist der Vergangenheit loszusagen. Die Frage ist nur: Wie hat es diese Chance genutzt und wie wird es sie in Zukunft nutzen?
Wie drängend diese Frage für Christen in Deutschland heute ist, möchte ich noch an einem weiteren geschichtlichen Datum deutlich machen: Genau 20 Jahre vor dem Ende der Monarchie in Deutschland (also 20 Jahre bevor im November 1918 nach dem verlorenen 1. Weltkrieg Wilhelm II. als Kaiser abdanken musste und nach Holland ins Exil ging) also im November 1898 kam es in Jerusalem zu einer denkwürdigen Begegnung.
Theodor Herzl, der Begründer des modernen Zionismus und unermüdliche Streiter für die Idee eines „Judenstaates“ in Palästina, in dem die in vielen Ländern bedrängten und verfolgten Juden Zuflucht finden könnten, hatte auf der Suche nach einer politischen Verwirklichung seines Anliegens große Hoffnungen auf den deutschen Kaiser gesetzt. Palästina war seit fast 400 Jahren Teil des Osmanischen Reiches und unterstand der Herrschaft des türkischen Sultan. Das Deutsche Reich hatte traditionell gute Beziehungen zur Türkei und Herzl hatte die Vorstellung entwickelt, es könnte in Palästina ein jüdisches Siedlungsgebiet als vertraglich gesichertes Protektorat unter dem Schutz des deutschen Kaisers entstehen. 1898 machte Wilhelm II. eine Reise nach Konstantinopel und Jerusalem. Es gelang Herzl während dieser Reise, zweimal eine Audienz beim Kaiser zu bekommen. Die erste Begegnung fand im Sultanspalast in Konstantinopel statt. Herzl trug sein Anliegen vor und Wilhelm II. ging sehr positiv darauf ein. Seine Antwort klang so, als sei alles schon beschlossen und abgemacht. Bei der zweiten Begegnung im kaiserlichen Zelt in Jerusalem war die Lage völlig verändert. Der Kaiser hatte offensichtlich das Interesse an dem Projekt verloren. Herzl und seine Delegation wurden mit unverbindlichen Bemerkungen abgespeist. Von dem angestrebten jüdischen Siedlungsgebiet unter deutschem Schutz war keine Rede mehr. Wilhelm II. zog mit großem Pomp in die Altstadt von Jerusalem ein (damit die kaiserliche Kutsche ungehindert hineinfahren konnte, musste sogar ein Stück der historischen Altstadtmauer beim Jaffa-Tor abgerissen werden). Die Hilfe für das bedrängte Judentum hatte er endgültig abgeschrieben. Fast auf den Tag genau 20 Jahre danach (im November 1918) unterschrieb er seine Abdankungsurkunde als deutscher Kaiser und nochmals genau 20 Jahre später (November 1938) brannten in Deutschland die Synagogen in der sogenannten „Reichskristallnacht“.
Nach der Enttäuschung durch den deutschen Kaiser wandte Herzl seine Aufmerksamkeit nach England, wo er mehr Verständnis fand. Er starb 1904, aber seine Ideen und die zionistische Bewegung, die er ins Leben gerufen hatte, existierten weiter. 1917 sicherte der britische Außenminister, Lord Balfour, den Juden eine „nationale jüdische Heimstätte in Palästina“ zu. Zu dieser Zeit befand sich das Britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Macht und Weltgeltung. Der britische General Allenby marschierte als Sieger in Jerusalem ein. Das Osmanische Reich zerbrach und Deutschland verlor den ersten Weltkrieg. Später änderte England seine Politik gegenüber den Juden und behinderte massiv und gewaltsam die jüdische Einwanderung nach Palästina. Im gleichen Zeitraum zerbröckelte das Britische Empire und England verlor seinen Status als Weltmacht. 1947, 30 Jahre nach der Balfour Deklaration musste England Palästina verlassen und die Vereinten Nationen beschlossen die Teilung Palästinas und ermöglichten so die Gründung des Staates Israel.
Nun kann man natürlich sagen, das sei alles Zufall und ohne Bedeutung. Man kann aber auch in all diesen Vorgängen die ordnende Hand Gottes erkennen, der verborgen hinter den vordergründigen weltgeschichtlichen Vorgängen die heilsgeschichtliche Entwicklung nach seinem Plan und seinen Verheißungen vorantreibt.
In dem heilsgeschichtlichen Plan, mit dem Gott selbst seine Verheißungen für das Volk Israel erfüllen wollte, und zwar nun speziell die Verheißung, dass er es sammeln und in sein Land zurückbringen werde, war bei der Frage, wer die weltgeschichtlichen Rahmenbedingungen dafür bereiten sollte, die Wahl Gottes offensichtlich zuerst auf Deutschland gefallen. Gott war bereit, dafür alle Wege zu ebnen und Deutschland reich zu segnen. Nach der Ablehnung durch den deutschen Kaiser (die auch eine Folge wachsender antisemitischer Strömungen und Stimmungen im ganzen Lande war) überließ Gott das deutsche Volk sich selbst und seinem eigensüchtigen Großmachtstreben. Die Folge war, dass es nacheinander zwei Weltkriege durchleiden und verlieren musste. Wir erkennen die ungeheure Verantwortung, die einzelnen Menschen oder ganzen Völkern in besonderen von Gott gegebenen Entscheidungsstunden zufällt, und wir sehen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie sich gegen den Plan und Willen Gottes entscheiden, und wir spüren etwas von der Dringlichkeit und Notwendigkeit, heute in unserer Gegenwart wahrzunehmen, was Gott tut und was er heute von uns erwartet.
Die Zusammenhänge reichen aber noch weiter zurück in die Vergangenheit: Am 20. Januar 1942, fand in Berlin die sogenannte „Wannseekonferenz“ statt, bei der die Spitzen des Nazi-Regimes die „Endlösung der Judenfrage“, also die endgültige Vernichtung des Judentums in Deutschland und Europa beschlossen. 400 Jahre vorher (1542) verfasste Martin Luther eine Schrift mit dem Titel: „Von den Juden und ihren Lügen“, als erste von einer Reihe antijüdischer Schriften. Luther war anfangs als junger Mann den Juden gegenüber sehr offen gewesen. Er hatte gehofft, dass durch die Veränderungen der Reformation die Juden in großer Zahl zum Christentum übertreten würden. Diese Erwartung wurde enttäuscht. Nun, als alter Mann, belegt er die Juden mit übelsten Beschimpfungen und er fordert: …dass man ihre Synagogen mit Feuer anstecke, …dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre, …dass man ihnen nehme ab ihre Betbüchlein und Talmudisten, …dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete zu lehren, …dass man bei Juden das freie Geleit ganz aufhebe, …dass man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod, Schließlich: dass man die Juden (die sich der Taufe widersetzten) …wie tolle Hunde aus dem Land treibe. Noch 1946, bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, berief sich Julius Streicher, der Herausgeber der berüchtigten Nazi-Zeitschrift „Der Stürmer“ und Einpeitscher der Judenhetze, auf Luther.
Im Jahre 1492, 50 Jahre vor den judenfeindlichen Äußerungen Luthers hatten in einem anderen Land, in Spanien, das damals eine führende Macht Europas war, zwei bedeutsame Ereignisse stattgefunden. Uns ist diese Jahreszahl geläufig als Beginn der Neuzeit: Kolumbus suchte den Seeweg nach Indien und entdeckte Amerika. Im gleichen Jahr 1492 unterzeichnete das spanische Königspaar Ferdinand und Isabella das „Generaledikt über die Ausweisung der Juden aus Aragonien und Kastilien“. Sie setzten den Juden, die schon seit mehr als 1000 Jahren im Lande lebten, eine Frist von wenigen Monaten; bis dahin mussten sie unter Zurücklassung aller ihrer Habe das Land verlassen haben. Schon vorher war in Spanien die „Heilige Inquisition“ eingeführt worden. Sie wandte sich hauptsächlich gegen ehemalige Juden, die unter Zwang die christliche Taufe angenommen hatten und nun verdächtigt wurden, heimlich ihrem alten Glauben anzuhängen. Man nannte sie „Marranos“ (Schweine). Unter Anwendung furchtbarer, unmenschlicher Foltermethoden wurden diesen „Marranos“, Männern und Frauen, Alten und Jungen, die unglaublichsten Geständnisse abgepresst. Anschließend wurden sie zum Tode verurteilt. Jahrzehntelang loderten die Scheiterhaufen, auf denen man die Verurteilten lebendig verbrannte. Erst im Jahre 1834, etwa 350 Jahre nach ihrer Einführung wurde die Inquisition in Spanien offiziell wieder abgeschafft. Alle diese Prozesse wurden im Namen Christi und im Namen der katholischen Kirche geführt. Kirchliche Beamte und fromme Mönche führten die Verhandlungen und beaufsichtigten die Folterungen. Etwa 160 000 Juden, die standhaft bei ihrem Glauben geblieben waren, verließen unter menschenunwürdigen Umständen das Land. Am 2. August 1492 lief die Frist für die Ausweisung der Juden aus Spanien ab, danach war Spanien „judenrein“. An genau diesem 2. August 1492 ging Kolumbus mit seiner Mannschaft an Bord der 3 Schiffe, die sie westwärts nach Indien bringen sollten. Am 3. August machten sie die Leinen los für eine Fahrt, die die Welt verändern sollte.
25 Jahre nach diesen Ereignissen begann die Reformation (1517 war der Thesenanschlag Luthers) und nochmals 25 Jahre später (1542) hatte der Antijudaismus auch die Reformation erreicht (Luther schrieb seine antijüdischen Schriften.)
Manchmal hat man den Eindruck, die Geschichte der Völker und besonders die deutsche Geschichte wäre vor allem eine Unheilsgeschichte, eine Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen und Untaten. Wie sollte man darin noch das heilsgeschichtliche Handeln Gottes erkennen können? Aber das Erstaunliche ist ja eben, dass Gott selbst die schlimmsten Untaten der Menschen noch benutzen kann, um seinen Plan zu verwirklichen und seine Verheißungen wahr zu machen. So musste selbst das unfassbare Geschehen des Holocaust noch dazu dienen, die Sammlung des Judentums in Israel voranzutreiben. Aber wieviel Unheil wäre den Juden in Europa, aber auch dem deutschen Volk selbst erspart geblieben, wenn sein Beitrag zur Sammlung der Juden in Israel dem göttlichen Plan der Hilfe für die bedrängten Juden gefolgt wäre und nicht dem teuflischen Plan der Vernichtung des Judentums. Es gibt ja in der deutschen Geschichte unseres Jahrhunderts auch Beispiele, an denen erkennbar wird, wie segensreich es sich auswirkt, wenn verantwortliche Politiker in unserem Land Entscheidungen treffen, die dem Willen Gottes entsprechen: 1952, zehn Jahre nach der Wannseekonferenz, begann die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer Entschädigungsleistungen im Rahmen der sogenannten „Wiedergutmachung“ an Israel zu zahlen. Am 12. Mai 1965, fast auf den Tag genau 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges vereinbarten die Bundesrepublik Deutschland und Israel die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Diese beiden Daten markieren auch den Zeitraum, in dem sich das sogenannte deutsche „Wirtschaftswunder“ vollzog. Aus dem nach dem Krieg völlig zerstörten und verarmten Land wurde eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt.
Wozu soll so ein geschichtlicher Rückblick dienen? Wir wissen aus der Seelsorge ebenso wie aus der Psychologie, dass unvergebene Schuld im Leben eines Menschen oft über lange Zeit im Verborgenen weiterwirkt, ehe sie dann – oft in einer Umbruch- oder Krisensituation des Lebens – wieder auftaucht und zerstörerische Kräfte entfaltet. Die von außen sichtbaren Zeichen solcher Zerstörungskräfte im Innern sind oft: Zerstörung von Beziehungen, Gewalttätigkeit, Sucht, Kriminalität, Neurosen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Selbstmord … Dies gilt nicht nur für die individuelle Schuld im Leben einzelner Menschen, sondern in ähnlicher Weise auch für die kollektive Schuld in der Geschichte ganzer Völker.
Das Böse, das einmal gesät worden ist, vergeht nicht einfach im Laufe der Geschichte. Man sagt zwar, die Zeit heilt alle Wunden, aber dies ist meist nur ein äußerer Heilungsprozess. Die giftigen Rückstände des einmal getanen Bösen (oder auch nur gedachten, gesagten oder geschriebenen Bösen) bleiben und können durch nichts wieder aus der Welt geschafft werden als durch den Vorgang des Bekennens, der Umkehr und Vergebung. Solches Gift kann über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg im „Volkskörper“ verborgen weiterwirken und irgendwann – meist in einer Umbruch- oder Krisensituation der Gesellschaft – kommt es hoch und macht sich gewaltsam Bahn. Hinterher fragt man sich: Wie war das möglich, dass in einer angeblich hochstehenden Kulturnation Menschen zu solchen Gräueltaten fähig waren? Wie war das möglich, dass ein ganzes Volk solchen Rattenfängern mit einer so primitiven Gewaltideologie gefolgt ist? (Siehe dazu den Themenbeitrag „Hitlers Kampf“ im Bereich „kontroverse Diskussion“.) Ich meine, dass auch der „historische Unglücksfall“ der Nazizeit in Wahrheit kein Zufall und kein Unglücksfall war, sondern ein Aufbrechen angesammelter Zerstörungspotenziale durch unbekannte und unvergebene Schuld in der Geschichte unseres Volkes. Vor allem, wenn man davon liest, in welchem Maße Hitler und die ganze Nazi-Bewegung von pseudoreligiösen und heidnisch motivierten Vorstellungen geleitet waren und wie sehr sie von okkult-dämonischen Mächten und Praktiken bestimmt waren, dann sucht man die Wurzeln der damaligen Ereignisse nicht mehr nur in den vordergründigen geschichtlichen und politischen Abläufen, sondern erkennt tiefergehende Zusammenhänge.
Ich will nun an zwei Beispielen ein winziges Stück unserer Schuldgeschichte als Deutsche und Europäer sichtbar machen; es sind dies Ereignisse, die noch bis heute weiterwirken und unter uns ein unerkanntes und unerlöstes Gefahrenpotenzial darstellen.
1) die oben erwähnte Wannseekonferenz am 20. Januar 1942
2) die ebenfalls schon erwähnte Reise des Kolumbus in die Neue Welt am 3. August 1492.
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2 Zwei Beispiele deutscher und europäischer Schuldgeschichte
Die beiden Jahreszahlen 1942 und 1492 sind nicht nur äußerlich so ähnlich. Sie markieren einen bedeutungsvollen Teil deutscher und europäischer Schuldgeschichte. Hier liegen unerlöste und unbekannte Zerstörungspotenziale, die bis in unsere Gegenwart und bis in unser persönliches Leben hineinreichen. Unbekannt sind sie in zweierlei Bedeutung dieses Wortes: Erstens wissen die wenigsten etwas davon, sie sind also in dieser Weise unbekannt und: Die Kirchen und Völker haben sie noch immer nicht deutlich genug als Schuldenlast ihrer Geschichte erkannt und bekannt und um Vergebung gebeten. Sie sind also auch noch un-bekannt im Sinne von „eine Schuld bekennen“.
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2.1 Der Holocaust in Deutschland
Das uns als Deutschen zeitlich und existenziell näher liegende Datum ist der 20. Januar 1942. Damals kamen in einer Villa am Wannsee in Berlin 15 hochrangige Vertreter des Nazi-Regimes zusammen. Sie wollten über die „Endlösung der Judenfrage“ beraten (eigentlich war diese war ja schon im vollen Gange, es ging nur noch um eine letzte Anstrengung, um den Plan zu vervollkommnen und zu verwirklichen). Wenn man das Protokoll dieser Konferenz liest, ist man erstaunt, mit welcher Geschäftsmäßigkeit und Routine da über den Tod von Millionen Menschen entschieden wurde. Von Hass und Emotionen ist da keine Spur. Da wird ganz nüchtern aufgezählt, aus welchen eroberten Ländern man die Menschen in die Vernichtungslager schaffen will. Das reichte von Norwegen im Norden bis zur Türkei im Süden, von Spanien im Westen bis nach Russland in Osten. 11 Millionen jüdische Menschen lebten in diesen Ländern und in all diesen Ländern sollte nicht ein einziger jüdischer Mensch am Leben bleiben; so wurde das damals beschlossen. Und man überlegte, wie man das am besten und am schnellsten und vor allem auch am billigsten bewerkstelligen könnte. Sehr sachlich und nüchtern ist dieses Protokoll, in bestem Amtsdeutsch. Für die Männer dort bei dieser Konferenz am Wannsee war es nur ein technisches Problem und ein Verwaltungsproblem, wie man 11 Millionen Menschen in den Tod schicken konnte. Sie selbst wollten sich dabei die Hände nicht schmutzig machen.
Und dann machte man sich daran, die Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Überall in Europa wurden jüdische Menschen aus den Häusern gejagt, zu Sammelplätzen getrieben, in Viehwagons gepfercht, zu den Vernichtungslagern gebracht, vergast, verbrannt. In Polen und Russland (es war ja schon während des Krieges) machte man sich oft noch weniger Mühe: Ein Dorf oder eine kleine Stadt wurde umstellt, die jüdischen Bewohner (die oft schon Monate oder Jahre immer stärkerer Entrechtung, Ausplünderung und Misshandlung hinter sich hatten) wurden aus den Häusern getrieben; Männer, Frauen, Kinder, alle in einem langen Elendszug ein paar Kilometer vom Ort entfernt auf freies Feld geführt. Dort bekamen sie Schaufeln in die Hand und mussten unter Bewachung durch Maschinengewehre lange, tiefe Gräben ausheben. Dann mussten sie sich an den Rand des Grabens stellen und sie wurden erschossen, sodass sie in den Graben fielen. Einige, ganz wenige unter Hunderttausenden entkamen diesen Massakern, weil sie nicht tödlich getroffen, sondern nur verletzt waren und sie unter den Leichenbergen ausharrten, bis es Nacht wurde und sie aus der Grube klettern konnten. Sie berichteten später, was sie erlebt hatten. Oder: In Kowno, einer Stadt in Litauen, beispielsweise, ließ man die zusammengetriebenen Juden der Stadt von freigelassenen Zuchthäuslern mit Eisenrohren erschlagen. Die SS stand lachend außen herum, schaute zu, machte Fotos (die Bilder sind erhalten geblieben), und passte auf, dass niemand entkommen konnte, so sparte man wertvolle Munition. 5 bis 6 Millionen Menschen, etwa die Hälfte der geplanten 11 Millionen kamen so um. Dann war der Krieg zu Ende, bevor die Mörder ihr Werk zu Ende bringen konnten.
Viele sagen, das ist nun mehr als 70 Jahre her, das ist eine lange Zeit; man sollte endlich aufhören, davon zu reden. Ja, das ist wahr, 70 Jahre sind eine lange Zeit. Und doch: Ist das Vergangene wirklich ganz vergangen? Man hätte es meinen können, wenn nicht plötzlich in unserer Gegenwart wieder Fremdenhass und Gewalttätigkeit gegen Ausländer aufgetaucht wären. Wir erinnern uns an die Bilder von Demonstrationen gegen Ausländer, von randalierenden und Brandbomben werfenden „besorgten Bürgern“ vor Asylantenwohnheimen – und an die gutbürgerlichen Zuschauer, die Beifall klatschten.
Man hätte meinen können, die unselige Vergangenheit wäre endgültig überwunden, wenn nicht bei verschiedenen Wahlen rechtsradikale und fremdenfeindliche Parteien plötzlich wieder zweistellige Ergebnisse erzielt hätten.
Auch der Antisemitismus ist wieder da: Die alten Parolen von den Juden, die an allem Schuld sind, werden wieder geschrieben, gebrüllt und geglaubt. Anderswo versteckt man seinen Antijudaismus hinter einer „freundschaftlichen“ Kritik an der Politik Israels (… das wird man unter Freunden doch noch sagen dürfen!) interessiert sich aber gar nicht für die tatsächlichen Vorgänge, sondern plappert nur antiisraelische Phrasen nach.
Als 1933 viele Deutsche Adolf Hitler begeistert folgten, konnten sie noch nicht wissen, was in letzter Konsequenz daraus werden würde: Der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Zerstörung Deutschlands und Europas. Die heutigen Neo-Nazis dagegen bejahen und verherrlichen diese politische Richtung im vollen Wissen um das, was damals daraus wurde! (Auch wenn sie es krampfhaft zu leugnen versuchen, sie wissen es ja doch.) Dieses Aufbrechen nationalistischer Emotionen und Gewalttaten ist deshalb heute viel erschreckender und schuldbeladener als damals (Siehe den Themenbeitrag „Hitlers Kampf“).
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2.2 Die Kolonialisierung der Welt durch die Mächte Europas
Ich möchte noch ein zweites Beispiel für eine Schuldverstrickung in der Vergangenheit, die bis in unsere Gegenwart wirksam ist, anführen: Vor mehr als einem halben Jahrtausend, genau am 3. August 1492 fuhr Christoph Kolumbus mit seinen drei Schiffen nach Westen, um den Seeweg nach Indien zu finden. Am 12. Oktober 1492 landeten die drei Schiffe an einer Insel. Kolumbus nannte sie San Salvador. Sie fanden Eingeborene, die ihnen ehrfürchtig und ohne Argwohn entgegenkamen. Kolumbus, der bis zu seinem Lebensende der Meinung war, er hätte Indien erreicht, nannte sie Indianer.
Mit Kolumbus und nach ihm kamen goldgierige, gewalttätige, skrupellose Eroberer. Und es begann die Eroberung und Unterwerfung der Welt durch die Länder Europas.
Es ging wie ein Rausch durch Europa. Es begann ein Wettrennen zwischen den europäischen Mächten: Wer entdeckt und erobert am schnellsten die größten und reichsten Länder? Rücksichtslos wurde die überlegene Waffentechnik Europas eingesetzt: Nirgendwo auf der Welt sonst gab es Kanonen und Gewehre. Die überfallenen und eroberten Völker Afrikas, Amerikas und Asiens hatte keine Chance sich auf Dauer zu wehren.
Die Eroberung und Christianisierung der „Neuen Welt“ geschah fast überall unter dem Vorzeichen des Völkermords. Von den 200000 bis 300000 Einwohnern von Haiti, die im Jahre 1492, als Kolumbus sie entdeckte, dort lebten, waren 30 Jahre später nur noch ein paar tausend am Leben.
Die Antriebsfeder für die Eroberung der Welt war die Gier nach Gold und Sklaven, nach Land und Macht. Und das Schlimmste dabei ist: All das geschah auch im Zeichen des Christentums. Es waren christliche Herrscher und christliche Völker, die ihre Kanonen und Gewehre ausschickten, die Welt zu erobern. Und die Missionierung der Heidenvölker war eben doch oft nur Aushängeschild und Vorwand für gewaltsame Eroberung.
Dabei hätte von Gott her das Jahr 1492 eine ganz andere Bedeutung haben sollen: Gott hatte dem Kontinent, der sich bis dahin dem Evangelium am weitesten geöffnet hatte (Europa), eine Tür aufgetan, damit von da aus das Licht des Evangeliums nun auch in alle Welt getragen werden konnte. Aber was die Geschichte der Missionierung der Völker der Erde durch das heilbringende Wort Gottes und die Überzeugungskraft der Liebe werden sollte, wurde in Wahrheit die unheilbringende Geschichte der Eroberung und Ausbeutung der Welt durch die Macht der Kanonen. Das Unfassbare dabei ist: Gott ließ selbst darin noch die Ausbreitung des Evangeliums geschehen, indem er die Hingabe und Opferbereitschaft der Wenigen, die sich wirklich für das Evangelium und für die Menschen in den neu entdeckten Ländern einsetzten, höher bewertete, als die Untaten der Vielen.
Nun kann man sagen: Was soll das? Will man uns jetzt auch noch für Ereignisse verantwortlich machen, die vor vor mehr als einem halben Jahrtausend, geschehen sind? Nein, es geht hier gar nicht darum, heute jemanden verantwortlich zu machen für Ereignisse, die längst vergangen sind. Es geht darum, dass auch diese Dinge noch unter die lösende, befreiende Macht der Vergebung kommen, denn sie sind in ihren Auswirkungen noch unter uns gegenwärtig.
Erinnern wir uns, was schon weiter oben gesagt wurde: Keine Schuld vergeht spurlos und folgenlos in der Geschichte, wenn sie nicht durch Bekenntnis, Umkehr und Vergebung gelöst und abgearbeitet wird. Nur so können die sozialen Giftstoffe, die solche Schuld im „Volkskörper“ hinterlässt, abgebaut und ausgeschwemmt werden. Dies ist offensichtlich in unserem Volk und in den Völkern Europas nicht in ausreichendem Maße geschehen. Das bedeutet aber, dass die Zerstörungspotentiale und die geistvergiftende Wirkung jener Ereignisse noch unter uns sind und jederzeit wieder aktiv werden können.
Weiter oben wurden die Erdteile aufgezählt, die damals gewaltsam zu europäischen Kolonien wurden: Afrika, Südamerika und Südasien. Es sind genau dieselben Erdteile, die heute zu den Armenhäusern der Erde zählen. Wir nennen sie die „Dritte Welt“. Ihre Armut ist nicht Zufall oder Folge eigener Faulheit. Sie ist zu einem großen Teil Folge der jahrhundertelangen Ausbeutung in der Kolonialzeit. Noch heute, nachdem sie ja offiziell freie selbständige Staaten geworden sind, sind diese Länder doch wirtschaftlich, finanziell und politisch von den reichen Industrienationen abhängig. Die Vergangenheit ist noch nicht vergangen; sie ist noch immer gegenwärtig und sie bedeutet für mehr als die Hälfte der Menschheit immer noch Armut, Hunger und Not (siehe den Themenbeitrag „Globalisierung“, Abschnitt 1.1 „Kolonialisierung als Motor der Globalisierung“).
Auch diese Schuld der Völker Europas ist noch weitgehend un-bekannt geblieben. Aber sie ist nicht unwirksam geblieben. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass die Länder Europas in diesen ganzen 5 Jahrhunderten in eine ununterbrochene Folge von Kriegen verstrickt waren. Ich meine: Dies ist nicht zuletzt auch eine Folge der Vergiftung des europäischen Geistes durch die unvergebene Schuld in der Zeit der Unterwerfung und Ausbeutung der Welt. Man kann eben nicht gleichzeitig nach außen Gewalt üben und nach innen in Frieden leben. Erst seit nach dem 2. Weltkrieg, als Europa seine Kolonien frei geben musste und die Zeit der gewaltsamen Vorherrschaft Europas über die Welt zu Ende ging, hat (West)-Europa zum ersten Male schon 7 Jahrzehnte lang Frieden.
Nach jahrzehntelanger Erstarrung der Weltgeschichte im Ost-West-Gegensatz sind innerhalb von wenigen Jahren Veränderungen geschehen, die man in Jahrzehnten nicht für möglich hielt. Schauplatz dieser wahrhaft weltverändernden Umwälzungen sind besonders Deutschland und Europa nach dem Ende des „Kalten Krieges“. Die Teilung Deutschlands und Europas wurde beendet. Mehr Freiheit ist möglich geworden; aber es sind auch neue Unsicherheiten und Gefahren entstanden. (Beispiele sind die instabile Lage in manchen Balkanländern oder in den Kaukasus-Staaten und die Situation in der Ostukraine). Gott hat durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas große Möglichkeiten aufgetan. Unsere gegenwärtige Zeit ist ein besonderes Gnadengeschenk Gottes für Deutschland und Europa. Aber sie ist unverkennbar auch die Zeit einer besonderen Versuchung.
Überall ist die Entwicklung offen, zum Guten wie zum Bösen hin. Unsere Gegenwart ist nicht nur heilsgeschichtlich, sondern auch historisch eine besondere Zeit.
Es scheint mir, als ob unsere unmittelbare Gegenwart besonders für unser deutsches Volk eine Zeit der Entscheidung wäre, in der sich Weichenstellungen ergeben, die noch auf Jahrzehnte den Weg unseres Volkes bestimmen werden. So wie das Jahr 1989 eine politische Wende brachte, die in unserem Land und weltweit vieles veränderte, so kann es auch im geistlichen Bereich Zeiten geben, wo sich innerhalb weniger Monate Entscheidungen zusammendrängen, deren Auswirkungen noch weit in die Zukunft reichen.
Welche Herausforderung enthält diese Entwicklung für die Völker und Kirchen Europas, insbesondere aber für Christen in Deutschland? Ich will sie in zwei Sätzen zusammenfassen:
Als Christen in Deutschland sind wir besonders herausgefordert, die Sammlung Israels in seinem von Gott verheißenen Lande zu unterstützen.
Als europäische Christen haben wir heute unsere besondere Verantwortung gegenüber den Menschen (und besonders gegenüber den Christen) in den ehemals kolonialisierten Ländern der Welt wahrzunehmen.
Ob wir diese Herausforderung annehmen oder ablehnen, wird mit darüber entscheiden, ob die Weltgeschichte der kommenden Jahre und Jahrzehnte auch für uns eher eine Heilsgeschichte oder eine Unheilsgeschichte wird.
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