Der erste Beitrag zum Thema „Weltgeschichte und Heilsgeschichte“ mit dem Titel „Der Schicksalstag der Deutschen“ endet mit dem Satz: „Das deutsche Volk bekam als Ganzes die historisch und heilsgeschichtlich einmalige und so nicht wiederkehrende Chance, sich vom Unrecht und Ungeist der Vergangenheit loszusagen. Die Frage ist nur: Wie hat es diese Chance genutzt und wie wird es sie in Zukunft nutzen?“ Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir noch ein gutes Stück weiter in die Tiefen der Geschichte vordringen, um entscheidende Zusammenhänge zu erkennen.
Diese Zusammenhänge möchte ich noch an einem weiteren geschichtlichen Datum deutlich machen: Genau 20 Jahre vor dem Ende der Monarchie in Deutschland (also 20 Jahre bevor im November 1918 nach dem verlorenen 1. Weltkrieg Wilhelm II. als Kaiser abdanken musste und nach Holland ins Exil ging) also im November 1898 kam es in Jerusalem zu einer denkwürdigen Begegnung.
Theodor Herzl, der Begründer des modernen Zionismus und unermüdliche Streiter für die Idee eines „Judenstaates“ in Palästina, in dem die in vielen Ländern bedrängten und verfolgten Juden Zuflucht finden könnten, hatte auf der Suche nach einer politischen Verwirklichung seines Anliegens große Hoffnungen auf den deutschen Kaiser gesetzt. Palästina war seit fast 400 Jahren Teil des Osmanischen Reiches und unterstand der Herrschaft des türkischen Sultan. Das Deutsche Reich hatte traditionell gute Beziehungen zur Türkei und Herzl hatte die Vorstellung entwickelt, es könnte in Palästina ein jüdisches Siedlungsgebiet als vertraglich gesichertes Protektorat unter dem Schutz des deutschen Kaisers entstehen. 1898 machte Wilhelm II. eine Reise nach Konstantinopel und Jerusalem. Es gelang Herzl während dieser Reise, zweimal eine Audienz beim Kaiser zu bekommen. Die erste Begegnung fand im Sultanspalast in Konstantinopel statt. Herzl trug sein Anliegen vor und Wilhelm II. ging sehr positiv darauf ein. Seine Antwort klang so, als sei alles schon beschlossen und abgemacht. Bei der zweiten Begegnung im kaiserlichen Zelt in Jerusalem war die Lage völlig verändert. Der Kaiser hatte offensichtlich das Interesse an dem Projekt verloren. Herzl und seine Delegation wurden mit unverbindlichen Bemerkungen abgespeist. Von dem angestrebten jüdischen Siedlungsgebiet unter deutschem Schutz war keine Rede mehr. Wilhelm II. zog mit großem Pomp in die Altstadt von Jerusalem ein (damit die kaiserliche Kutsche ungehindert hineinfahren konnte, musste sogar ein Stück der historischen Altstadtmauer beim Jaffa-Tor abgerissen werden). Die Hilfe für das bedrängte Judentum hatte er endgültig abgeschrieben. Fast auf den Tag genau 20 Jahre danach (im November 1918) unterschrieb er seine Abdankungsurkunde als deutscher Kaiser und nochmals genau 20 Jahre später (November 1938) brannten in Deutschland die Synagogen in der sogenannten „Reichskristallnacht“.
Nach der Enttäuschung durch den deutschen Kaiser wandte Herzl seine Aufmerksamkeit nach England, wo er mehr Verständnis fand. Er starb 1904, aber seine Ideen und die zionistische Bewegung, die er ins Leben gerufen hatte, existierten weiter. 1917 sicherte der britische Außenminister, Lord Balfour, den Juden eine „nationale jüdische Heimstätte in Palästina“ zu. Zu dieser Zeit befand sich das Britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Macht und Weltgeltung. Der britische General Allenby marschierte als Sieger in Jerusalem ein. Das Osmanische Reich zerbrach und Deutschland verlor den ersten Weltkrieg. Später änderte England seine Politik gegenüber den Juden und behinderte massiv und gewaltsam die jüdische Einwanderung nach Palästina. Im gleichen Zeitraum zerbröckelte das Britische Empire und England verlor seinen Status als Weltmacht. 1947, 30 Jahre nach der Balfour Deklaration musste England Palästina verlassen und die Vereinten Nationen beschlossen die Teilung Palästinas und ermöglichten so die Gründung des Staates Israel.
Nun kann man natürlich sagen, das sei alles Zufall und ohne Bedeutung. Man kann aber auch in all diesen Vorgängen die ordnende Hand Gottes erkennen, der verborgen hinter den vordergründigen weltgeschichtlichen Vorgängen die heilsgeschichtliche Entwicklung nach seinem Plan und seinen Verheißungen vorantreibt.
In dem heilsgeschichtlichen Plan, mit dem Gott selbst seine Verheißungen für das Volk Israel erfüllen wollte, und zwar nun speziell die Verheißung, dass er es sammeln und in sein Land zurückbringen werde, war bei der Frage, wer die weltgeschichtlichen Rahmenbedingungen dafür bereiten sollte, die Wahl Gottes offensichtlich zuerst auf Deutschland gefallen. Gott war bereit, dafür alle Wege zu ebnen und Deutschland reich zu segnen. Nach der Ablehnung durch den deutschen Kaiser (die auch eine Folge wachsender antisemitischer Strömungen und Stimmungen im ganzen Lande war) überließ Gott das deutsche Volk sich selbst und seinem eigensüchtigen Großmachtstreben. Die Folge war, dass es nacheinander zwei Weltkriege durchleiden und verlieren musste. Wir erkennen die ungeheure Verantwortung, die einzelnen Menschen oder ganzen Völkern in besonderen von Gott gegebenen Entscheidungsstunden zufällt, und wir sehen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie sich gegen den Plan und Willen Gottes entscheiden, und wir spüren etwas von der Dringlichkeit und Notwendigkeit, heute in unserer Gegenwart wahrzunehmen, was Gott tut und was er heute von uns erwartet.
Die Zusammenhänge reichen aber noch weiter zurück in die Vergangenheit: Am 20. Januar 1942, fand in Berlin die sogenannte „Wannseekonferenz“ statt, bei der die Spitzen des Nazi-Regimes die „Endlösung der Judenfrage“, also die endgültige Vernichtung des Judentums in Deutschland und Europa beschlossen. Genau 400 Jahre vorher (1542) verfasste Martin Luther eine Schrift mit dem Titel: „Von den Juden und ihren Lügen“, als erste von einer Reihe antijüdischer Schriften. Luther war anfangs als junger Mann den Juden gegenüber sehr offen gewesen. Er hatte gehofft, dass durch die Veränderungen der Reformation die Juden in großer Zahl zum Christentum übertreten würden. Diese Erwartung wurde enttäuscht. Nun, als alter Mann, belegt er die Juden mit übelsten Beschimpfungen und er fordert: …dass man ihre Synagogen mit Feuer anstecke, …dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre, …dass man ihnen nehme ab ihre Betbüchlein und Talmudisten, …dass man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete zu lehren, …dass man bei Juden das freie Geleit ganz aufhebe, …dass man ihnen den Wucher verbiete und nehme ihnen alle Barschaft und Kleinod, Schließlich: dass man die Juden (die sich der Taufe widersetzten) …wie tolle Hunde aus dem Land treibe. Noch 1946, bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, berief sich Julius Streicher, der Herausgeber der berüchtigten Nazi-Zeitschrift „Der Stürmer“ und Einpeitscher der Judenhetze, auf Luther.
Im Jahre 1492, 50 Jahre vor den judenfeindlichen Äußerungen Luthers hatten in einem anderen Land, in Spanien, das damals eine führende Macht Europas war, zwei bedeutsame Ereignisse stattgefunden. Uns ist diese Jahreszahl geläufig als Beginn der Neuzeit: Kolumbus suchte den Seeweg nach Indien und entdeckte Amerika. Im gleichen Jahr 1492 unterzeichnete das spanische Königspaar Ferdinand und Isabella das „Generaledikt über die Ausweisung der Juden aus Aragonien und Kastilien“. Sie setzten den Juden, die schon seit mehr als 1000 Jahren im Lande lebten, eine Frist von wenigen Monaten; bis dahin mussten sie unter Zurücklassung aller ihrer Habe das Land verlassen haben. Schon vorher war in Spanien die „Heilige Inquisition“ eingeführt worden. Sie wandte sich hauptsächlich gegen ehemalige Juden, die unter Zwang die christliche Taufe angenommen hatten und nun verdächtigt wurden, heimlich ihrem alten Glauben anzuhängen. Man nannte sie „Marranos“ (Schweine). Unter Anwendung furchtbarer, unmenschlicher Foltermethoden wurden diesen „Marranos“, Männern und Frauen, Alten und Jungen, die unglaublichsten Geständnisse abgepresst. Anschließend wurden sie zum Tode verurteilt. Jahrzehntelang loderten die Scheiterhaufen, auf denen man die Verurteilten lebendig verbrannte. Erst im Jahre 1834, etwa 350 Jahre nach ihrer Einführung wurde die Inquisition in Spanien offiziell wieder abgeschafft. Alle diese Prozesse wurden im Namen Christi und im Namen der katholischen Kirche geführt. Kirchliche Beamte und fromme Mönche führten die Verhandlungen und beaufsichtigten die Folterungen. Etwa 160 000 Juden, die standhaft bei ihrem Glauben geblieben waren, verließen unter menschenunwürdigen Umständen das Land. Am 2. August 1492 lief die Frist für die Ausweisung der Juden aus Spanien ab, danach war Spanien „judenrein“. An genau diesem 2. August 1492 ging Kolumbus mit seiner Mannschaft an Bord der 3 Schiffe, die sie westwärts nach Indien bringen sollten. Am 3. August machten sie die Leinen los für eine Fahrt, die die Welt verändern sollte.
25 Jahre nach diesen Ereignissen begann die Reformation (1517 war der Thesenanschlag Luthers) und nochmals 25 Jahre später (1542) hatte der Antijudaismus auch die Reformation erreicht (Luther schrieb seine antijüdischen Schriften.)
Manchmal hat man den Eindruck, die Geschichte der Völker und besonders die deutsche Geschichte wäre vor allem eine Unheilsgeschichte, eine Aneinanderreihung von Fehlentscheidungen und Untaten. Wie sollte man darin noch das heilsgeschichtliche Handeln Gottes erkennen können? Aber das Erstaunliche ist ja eben, dass Gott selbst die schlimmsten Untaten der Menschen noch benutzen kann, um seinen Plan zu verwirklichen und seine Verheißungen wahr zu machen. So musste selbst das unfassbare Geschehen des Holocaust noch dazu dienen, die Sammlung des Judentums in Israel voranzutreiben (siehe dazu auch das Thema „Glauben nach dem Holocaust?“ im Bereich „mitgehen – miteinander unterwegs“). Aber wieviel Unheil wäre den Juden in Europa, aber auch dem deutschen Volk selbst erspart geblieben, wenn sein Beitrag zur Sammlung der Juden in Israel dem göttlichen Plan der Hilfe für die bedrängten Juden gefolgt wäre und nicht dem teuflischen Plan der Vernichtung des Judentums. Es gibt ja in der deutschen Geschichte unseres Jahrhunderts auch Beispiele, an denen erkennbar wird, wie segensreich es sich auswirkt, wenn verantwortliche Politiker in unserem Land Entscheidungen treffen, die dem Willen Gottes entsprechen: 1952, zehn Jahre nach der Wannseekonferenz, begann die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer Entschädigungsleistungen im Rahmen der sogenannten „Wiedergutmachung“ an Israel zu zahlen. Am 12. Mai 1965, fast auf den Tag genau 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, vereinbarten die Bundesrepublik Deutschland und Israel die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Diese beiden Daten markieren auch den Zeitraum, in dem sich das sogenannte deutsche „Wirtschaftswunder“ vollzog. Aus dem nach dem Krieg völlig zerstörten und verarmten Land wurde eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt.
Wozu soll so ein geschichtlicher Rückblick dienen? Nein, das ist nicht nur Gedankenspielerei, sondern hat konkrete und handfeste Hintergründe: Wir wissen aus der Seelsorge ebenso wie aus der Psychologie, dass unvergebene Schuld im Leben eines Menschen oft über lange Zeit im Verborgenen weiterwirkt, ehe sie dann – oft in einer Umbruch- oder Krisensituation des Lebens – wieder auftaucht und zerstörerische Kräfte entfaltet. Die von außen sichtbaren Zeichen solcher Zerstörungskräfte im Innern sind oft: Zerstörung von Beziehungen, Gewalttätigkeit, Sucht, Kriminalität, Neurosen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Selbstmord … Dies gilt nicht nur für die individuelle Schuld im Leben einzelner Menschen, sondern in ähnlicher Weise auch für die kollektive Schuld in der Geschichte ganzer Völker.
Das Böse, das einmal gesät worden ist, vergeht nicht einfach im Laufe der Geschichte. Man sagt zwar, die Zeit heilt alle Wunden, aber dies ist meist nur ein äußerer Heilungsprozess. Die giftigen Rückstände des einmal getanen Bösen (oder auch nur gedachten, gesagten oder geschriebenen Bösen) bleiben und können durch nichts wieder aus der Welt geschafft werden als durch den Vorgang des Bekennens, der Umkehr und Vergebung. Solches Gift kann über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg im „Volkskörper“ verborgen weiterwirken und irgendwann – meist in einer Umbruch- oder Krisensituation der Gesellschaft – kommt es hoch und macht sich gewaltsam Bahn. Hinterher fragt man sich: Wie war das möglich, dass in einer angeblich hochstehenden Kulturnation Menschen zu solchen Gräueltaten fähig waren? Wie war das möglich, dass ein ganzes Volk solchen Rattenfängern mit einer so primitiven Gewaltideologie gefolgt ist? (Siehe dazu den Themenbeitrag „Hitlers Kampf“ im Bereich „kontroverse Diskussion“.) Ich meine, dass auch der „historische Unglücksfall“ der Nazizeit in Wahrheit kein Zufall und kein Unglücksfall war, sondern ein Aufbrechen angesammelter Zerstörungspotenziale durch unbekannte und unvergebene Schuld in der Geschichte unseres Volkes. Vor allem, wenn man davon liest, in welchem Maße Hitler und die ganze Nazi-Bewegung von pseudoreligiösen und heidnisch motivierten Vorstellungen geleitet waren und wie sehr sie von einer pseudo-darwinistischen Gewaltideologie beherrscht waren, dann sucht man die Wurzeln der damaligen Ereignisse nicht mehr nur in den vordergründigen geschichtlichen und politischen Abläufen, sondern erkennt tiefergehende Zusammenhänge.
Ich will nun an zwei Beispielen ein winziges Stück unserer Schuldgeschichte als Deutsche und Europäer sichtbar machen; es sind dies Ereignisse, die noch bis heute weiterwirken und unter uns ein unerkanntes und unerlöstes Gefahrenpotenzial darstellen.
1) die oben erwähnte Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 (siehe den folgenden Beitrag „Der Holocaust“)
2) die ebenfalls schon erwähnte Reise des Kolumbus in die Neue Welt am 3. August 1492. (siehe den letzten Beitrag „Die Kolonialisierung der Erde“)
.
Bodo Fiebig „In den Tiefen der Geschichte“ Version 2018 – 7
© 2018, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
Vervielfältigung, auch auszugsweise, Übersetzung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und jede Form von kommerzieller Verwertung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers