Die Geschichte der Völker ist nicht einfach nur eine Folge historischer Zufälligkeiten und auch nicht nur Ergebnis der Machenschaften ihrer verantwortlichen Machthaber oder ungesteuerter gruppendynamischer Prozesse. Es scheint vielmehr so, als ob eine von außen nicht durchschaubare „Logik“ die Vorgänge steuert. Ich will dies zunächst an einem Beispiel erkennbar machen, das uns in Deutschland besonders nahe liegt und dessen Bilder uns noch vor Augen sind.
Die Älteren unter uns erinnern sich noch lebhaft an den 9. November 1989. Das zerfallende DDR-Regime gab dem Druck der Bevölkerung nach und gewährte „Reisefreiheit“. Hunderttausende stürmten noch in der Nacht die Mauer in Berlin. Das war das Ende der DDR und der Beginn der Wiedervereinigung Deutschlands.
Nur in wenigen Kommentaren jener wahrhaft aufregenden Tage war zu lesen, dass der 9. November schon vorher für Deutschland ein besonderer Tag war: Am 9. November 1918 wurde nach dem verlorenen 1. Weltkrieg in Berlin die Republik ausgerufen. Zum ersten Male entstand in Deutschland ein demokratisches Staatswesen. Genau 5 Jahre danach, am 9. November 1923 versuchte Adolf Hitler mit einem Putsch in München die Macht in Deutschland an sich zu reißen. Genau 15 Jahre nach dem Hitler-Putsch, 20 Jahre nach der Geburt der Demokratie in Deutschland, am 9. November 1938, inszenierten die Nazis die sogenannte „Reichskristallnacht“ und gaben damit das Startzeichen zur Vernichtung von 6 Millionen Juden in Deutschland und Europa. Und am 9. November 1989 (diesmal gewiss von niemandem so geplant), fiel die Mauer in Berlin.
Wenige Wochen bevor die Mauer zerbrach, im September 1989, fiel eine Entscheidung, die die Ereignisse in Berlin erst möglich machte: Die Regierung von Ungarn beschloss, die Grenzen für DDR-Bürger zu öffnen und sie in den Westen ausreisen zu lassen. Der „Trabi“ wurde zum „Auto des Jahres“, mit dem Tausende in die Freiheit fuhren. Dieses Loch im „Eisernen Vorhang“ trug entscheidend zur Destabilisierung des SED-Regimes bei. Genau 50 Jahre davor, im September 1939 begann Hitler mit dem Überfall auf Polen den zweiten Weltkrieg.
Der Krieg Hitlers endete im Mai 1945 mit der totalen Niederlage und weitgehenden Zerstörung Deutschlands. 10 Jahre davor, 1935, hatten die Nazis die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ verkündigt, in denen die Juden für rassisch minderwertig erklärt wurden, eine bedeutsame Station auf dem Leidensweg der Juden im „3. Reich“, die nun von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und in ihren Lebensmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt wurden.
3 Jahre nach der Niederlage Hitler-Deutschlands im Mai 1945, also im Mai 1948, wurde der Staat Israel entsprechend dem Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 29. Nov. 1947 gegründet. Der Druck der Verfolgung der Juden durch die Nazis hatte wesentlich zur Überzeugung der Juden beigetragen, dass sie nur in einem eigenen Staat frei und sicher leben könnten. Allerdings wurde der neugegründete Staat Israel noch am Gründungstag von den arabischen Nachbarstaaten angegriffen und es dauerte bis in das Jahr 1949, bis es klar wurde, dass Israel diesen Angriff überleben und als Staat existieren würde. Im Sommer 1949 wurden die Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten abgeschlossen, die den Krieg vorerst beendeten und die Existenz Israels bestätigten. Im gleichen Jahr 1949 wurden die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gegründet. So traten 3 Staaten fast gleichzeitig in die Geschichte: Die BRD, die DDR und Israel. Die Täter und die Opfer des Holocaust bekamen gleichzeitig 40 Jahre Zeit, ihren Staat aufzubauen.
Einer der beiden deutschen Staaten erkannte den Staat Israel völkerrechtlich an, nahm diplomatische Beziehungen auf und unterstützte den Staat Israel im Rahmen der sogenannten „Wiedergutmachung“. Der andere deutsche Staat tat dies nicht. Der Staat, der Israel nicht anerkannt hatte und nicht unterstützt hatte, war 40 Jahre nach der Gründung der beiden deutschen Staaten, 1989, politisch und wirtschaftlich gescheitert und zerbrach trotz des lückenlosen Abwehrsystems der „Staatssicherheit“.
Wir erkennen schon an diesen wenigen historischen Fakten, wie eng Gegenwart und Vergangenheit, und auch Weltgeschichte und Heilsgeschichte miteinander verknüpft sind. Das Schicksal Deutschlands in unserem Jahrhundert scheint auf seltsame und verborgene Weise mit unserem Verhalten gegenüber dem Judentum zusammenzuhängen: Am Jahrestag des Judenpogroms, 50 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und der DDR, als niemand es erwartete oder für möglich hielt, zerbrach Gott selbst die Grenze zwischen den beiden Teilen Deutschlands und gab den Weg frei für eine friedliche Entwicklung im vereinten Deutschland. Das deutsche Volk bekam als Ganzes die historisch und heilsgeschichtlich einmalige und so nicht wiederkehrende Chance, sich vom Unrecht und Ungeist der Vergangenheit loszusagen. Die Frage ist nur: Wie hat es diese Chance genutzt und wie wird es sie in Zukunft nutzen?
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Bodo Fiebig „Der Schicksalstag der Deutschen“ Version 2018 – 7
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