1 Wahrnehmung und Erfahrung
Jedes Lebewesen macht einzelne Wahrnehmungen. Und es macht im Laufe der Zeit verschiedene Wahrnehmungen mit den gleichen „Dingen“. Der gleiche Stein kann einmal warm sein und einmal kalt, einmal nass und einmal trocken. Ein Baum grünt manchmal und blüht und manchmal trägt er Früchte und dann wieder ist er kahl und dürr, und trotzdem ist es der gleiche Baum. Solche Wahrnehmungen machen auch Menschen, aber eben nicht nur sie.
Jedes höher entwickelte Lebewesen wird seine Wahrnehmungen mit bestimmten Phänomenen seiner Umwelt nach und nach zu einer ganzen „Wahrnehmungs-Sammlung“ bündeln und verdichten. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit in seinem Zentralnervensystem „Eindrücke“ von Wahrnehmungen für einige Zeit zu speichern und anzusammeln. Solche „Wahrnehmungsbündel“, die sich jeweils auf eine bestimmte „Sache“ beziehen, nennen wir „Erfahrung“. Erfahrung hier verstanden als Ergebnis von einer Fülle von Wahrnehmungen, soweit sie sich auf die gleichen Dinge und Vorgänge unserer Umwelt beziehen (z. B. ihre Erfahrungen mit dem Phänomen „Feuer“ oder „Hunger“ oder „Schlaf“). Solche Erfahrungen machen selbstverständlich auch Tiere. Aber Menschen können mit ihren Erfahrungen auf ganz besondere Weise umgehen.
Alle Wahrnehmungen, die wir im Laufe der Zeit im Zusammenhang mit einem bestimmten Phänomen unserer Umwelt gemacht haben, verbinden und strukturieren sich zu unserer Erfahrung mit ihm und solche Erfahrungen können sehr unterschiedlich ausfallen. Eine Gruppe von Frühmenschen, die bei der Jagd von einem Steppenfeuer eingeschlossen wurde und dabei viele ihrer Kinder und ihrer Alten und auch einige ihrer geschicktesten Jäger verlor, hat einen anderen Erfahrungshintergrund mit dem Phänomen „Feuer“ als eine andere, die einen vom Blitz entzündeten Baum gefunden und es gelernt hatte, die Glut zu nähren und zu hüten, weil sie viele Speisen leichter verdaulich machte und weil die Flammen nachts wilde Tiere von ihrem Lager fernhielten. Diese unterschiedlichen Erfahrungen bedeuten allerdings nicht, dass da unterschiedliche Wirklichkeiten vorliegen müssen. Wir nehmen nur (bedingt durch unsere verschiedenen persönlichen Vor-Erfahrungen, Einstellungen und Sichtweisen) verschiedene Aspekte der gleichen Wirklichkeit wahr und ordnen sie auch verschieden in die Gesamtheit unserer Umwelt-Erfahrungen ein.
Solche selbst gelernten „Erfahrungen”, finden wir schon bei hochentwickelten Tieren. Ein Hund z. B. hört im Haus, wie draußen die Autotür seines „Herren” zufällt; und ohne das Auto oder den Herren selbst sehen zu können, weiß er, dass nun sein Herr nach Hause kommt, rennt zur Haustür und fängt an, freudig zu bellen (weil sein „Herrchen“ abends immer was Leckeres für ihn mitbringt). Diese Reaktion ist dem Hund nicht instinkthaft angeboren, sondern Ergebnis eines Lernprozesses, durch den er eine bestimmte Umwelt-Situation oder einen bestimmten Vorgang anhand einer bestimmten, sich ähnlich wiederholenden Wahrnehmung erkennen kann.
„Erfahrung“ ist also schon eine Zusammenfassung einer Vielzahl von Wahrnehmungen bezüglich eines bestimmten Phänomens der Umwelt mit ihrer persönlichen und emotionalen Bedeutung für ein Lebewesen. Unsere Umwelt–Kenntnis setzt sich zusammen aus den Einzelheiten unserer Umwelt-Wahrnehmungen. Unsere „Umwelt-Erfahrung“ aber wird gebildet und verändert im Verlauf der jeweils aktuellen und persönlichen Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen in unserer Umwelt, nun aber mit der persönlichen Betroffenheit und Beeinflussung durch diese Wahrnehmungen und durch die Bündelung solcher Erfahrungen, die sich jeweils auf die gleiche „Sache“ beziehen.
Solche Erfahrungsbündel mit Bedeutungsgehalt und Handlungsoptionen sind eine wichtige Hilfe, wenn es darum geht, in seiner Umwelt sinnvoll und zielgerichtet zu handeln und in bestimmten, oft auch kritischen Situationen schnelle Entscheidungen zu treffen. Sie strukturieren die Welt der Einzelwahrnehmungen, indem sie diese zu komplexen und dynamischen Erfahrungs-Zusammenhängen ordnen. Solche Zusammenhänge enthalten zwei bedeutende Schwerpunkte:
Erfahrungen mit komplexen Umwelt-Situationen und
Erfahrungen mit dynamischen Umwelt-Veränderungen
2) Erfahrungen mit komplexen Umwelt-Situationen
Hier geht es zunächst um die Wahrnehmung und Unterscheidung von komplexen Umweltsituationen, die mit positiven oder negativen, angenehmen oder schmerzlichen Erfahrungen verbunden sind (z. B. Die Umweltsituation „Winter mit viel Schnee“ mit allen dazu gehörenden Einschränkungen und Gefahren für einen Feldhasen), Erfahrungen, die eine Zeit lang im Gedächtnis behalten und in vergleichbaren Situationen (im nächsten Winter) wieder aktiviert werden können und die dann, zusammen mit instinktiven Verhaltensmustern, ein angepasstes Verhalten ermöglichen.
Kehren wir noch einmal zu den „Menschen in der Höhle am Bach“ zurück, von denen schon im ersten Beitrag die Rede war.
Für sie waren die Kenntnisse von ihrer Umwelt nicht nur eine Ansammlung von einzelnen Fakten, sondern sie erweiterten und verknüpften sich zu ganzen Umwelt-Szenarien, die jede ihre eigenen Bedeutungen und Herausforderungen beinhalteten und für die man jeweils besondere Vorgehensweisen und die Zusammenarbeit aller brauchte. Z. B. das Umwelt-Szenarium „Herbst mit viel Früchten und Samen“ oder „Winter mit viel Schnee und Kälte“, oder „gemeinsame Jagd eines Bären“ oder „Geburt eines Kindes“ oder „Tod eines Sippenangehörigen“.
Ihre Wahrnehmung in solchen komplexen Umweltsituationen verdichteten sich jeweils zu einem ganzen Erfahrungsbündel, das sich mit der Zeit durch sich verändernde, ergänzende, aber manchmal auch widersprüchliche Wahrnehmungen zu einem ganzen Erfahrungs-Komplex mit sachlicher und emotionaler Bedeutsamkeit verband.
Erst durch die Verknüpfung verschiedener solcher Umweltsituationen, die sich im Laufe der Zeit verändern und die die Menschen vor immer neue Herausforderungen stellen, konnten sich Menschen dauerhaft behaupten und sich auch in neue, unbekannte Gebiete wagen.
3) Erfahrungen mit dynamischen Umwelt-Veränderungen
Hier möchte ich wieder an die Erzählung von den Menschen in der Höhle am Bach (siehe oben) anknüpfen:
Der Frühling
Wie sehr hatten sie alle darauf gewartet! Nun endlich begann das Eis auf dem Bach zu tauen, die Schneedecke zeigte schon Lücken in der Ebene am See.
Es war ein langer und harter Winter gewesen. Die Vorräte an getrockneten Früchten, Pilzen und haltbaren Samen, die sie im Herbst gesammelt und im hinteren, dunklen und kühlen Teil der Höhle aufbewahrt hatten, war längst aufgebraucht. Sie lebten nun vor allem von dem, was die Männer von der Jagd nach Hause brachten. Aber die mussten nun immer weitere Streifzüge machen, um noch jagbare Tiere zu finden. Manchmal fanden die Frauen noch essbare Wurzeln und Reste von Blattgemüse, die sie aus dem Schnee gruben. Der Hunger war schon seit zwei Vollmonden ständiger Begleiter der Menschen in der Höhle am Bach.
Nun aber war das Ärgste überstanden. Erst gestern hatte eine Gruppe Frauen gar nicht so weit entfernt einen großen Baum am Bach gefunden der schon erste zarte Knospen getrieben hatte und sie hatten mehrere Beutel voll davon gepflückt. Diese Knospen konnte man auf einer heißen Steinplatte über dem Feuer rösten und sie waren dann wohlschmeckend und bekömmlich, so dass sie sogar die kleineren Kinder essen konnten. Das war ein unerwartetes Fest! Denn die Menschen wussten aus Erfahrung: Der zu Ende gehende Winter war die kritischte Zeit des Jahres, weil die Vorräte aufgebraucht waren und die Jagd immer spärlichere Ergebnisse brachte.
Dann aber brach der Frühling mit Macht herein. Ein warmer Wind ließ das Eis schmelzen und den Schnee tauen. Überall am Bach und an der Sonnenseite des Berghangs trieben frische Pflanzen heraus. Und am Ufer des Sees konnte man schon kleine Muscheln finden. Es war eine Lust zu leben! Und die Kinder und sogar die jüngeren der Erwachsenen begannen zu spielen und herumzutollen. Aber die Älteren trieben sie immer wieder an, Essbares zu suchen und neue Vorräte anzulegen, denn sie wussten aus Erfahrung: Das war noch nicht der Sommer, es würden noch genug kalte und entbehrungsreiche Tage kommen …
Erfahrungen mit komplexen Umwelt-Situationen und dynamischen Umwelt-Veränderungen entstehen nicht durch einmalige Erlebnisse, sondern durch immer wiederholte Wahrnehmungen von Situationen und Veränderungen im Laufe der Zeit. Erst die Wiederholungen, die einerseits frühere Erfahrungen bestätigten, gleichzeitig aber immer auch gewisse Veränderungen hervorbrachten, trieb weitergehende Lerneffekte voran. Das ist auch heute noch so. Es entsteht ein Kreislauf der Erkenntnis, in dem unser Erkennen und Verstehen immer mehr erweitert und vertieft wird (siehe den folgenden Beitrag „Der Kreislauf der Erkenntnis“).
Wir können davon ausgehen, dass die Wahrnehmung des Menschen sich ähnlich entwickelt hat wie bei anderen Erscheinungsformen des Lebens auch: Die Menschen nahmen (wie die meisten Tiere) Helligkeit und Dunkelheit wahr, Wärme und Kälte, Mangel und Überfluss … Aber sie hatten irgendwann auch aus der Wiederholung immer gleicher Vorgänge gelernt, dass die Phase der Helligkeit vom Stand der Sonne abhing und dann konnten sie schon, wenn es noch hell war, erkennen, dass es bald dunkel werden würde, weil sich die Sonne dem Horizont näherte. So lernten sie nach und nach, den gegenwärtigen Stand der Gegebenheiten gedanklich in die Zukunft hinein verlängern und bestimmte immer wiederkehrende Entwicklungen voraussehen.
Das können viele Tierarten auch. Ihre Instinktausstattung, die jeweils an eine ganz bestimmte Umwelt angepasst ist, ermöglicht ihnen z. B., jahreszeitliche Veränderungen vorwegzunehmen: Zugvögel fliegen in wärmere Gegenden, andere Tiere legen sich einen Wintervorrat an Nahrung an usw.
Bei den Menschen war diese Anpassung aber nicht auf evolutionäre Entwicklungs-Prozesse angewiesen, die viele Jahrtausende in Anspruch nehmen, sondern basierte auf individuellen und sozialen Lernprozessen, die sehr rasche Umstellungen ermöglichten. So konnte sich unsere Gruppe von Jägern schon vor Anbruch der Dunkelheit rechtzeitig auf den Weg machen, wenn sie weit entfernt von ihrem Lagerplatz auf Beutezug waren, sodass sie, noch bevor es Nacht wurde, die schützende Höhle oder Hütte wieder erreichte. Solche zeitliche Vorwegnahme von immer wiederkehrenden Abläufen gibt es auch bei Tieren; aber die Menschen konnten sich relativ rasch auf immer neue und sich verändernde Umweltbedingungen einstellen.
Wenn man aus der Erfahrung weiß, dass nach dem Winter wieder der Frühling und der Sommer kommen wird (und an welchen Merkmalen man das schon im voraus erkennen kann), oder dass nach der Trockenzeit wieder der Regen kommt, dann kann man sich darauf einrichten, kann Vorräte sammeln, Brunnen graben … Freilich sind auch Tiere optimal an bestimme Klimazonen angepasst. Aber eben nur an bestimmte Klimazonen. Ein Eisbär wird in der afrikanischen Savanne nicht überleben; ein Löwe in der Eiswelt der Polargebiete auch nicht. Der Mensch aber konnte schon vor Jahrtausenden sowohl die eine wie die andere Klimazone erobern und besiedeln. Das hatte natürlich auch technische Voraussetzungen, etwa die Beherrschung des Feuers. Entscheidend aber war die gedankliche Vorwegnahme von Entwicklungen und periodischen Veränderungen, durch die man Trocken- oder Kälteperioden vorsorgend überstehen konnte. So sammelten die Frauen des Familienklans Vorräte, die sie in der Höhle aufbewahrten und entwickelten nach und nach Verfahren, auch verderbliche Nahrung (etwa durch Räuchern über dem Feuer) für längere Zeit haltbar zu machen.
Erfahrungen sind die Voraussetzung für „Erkenntnis“. Aber wie sollen wir uns das vorstellen, dass aus einzelnen Wahrnehmungen komplexe Erfahrungen werden und aus Erfahrungen so etwas wie eine „Erkenntnis“, die Wahrnehmungen und Erfahrungen in einen Gesamtzusammenhang einordnet? Im folgenden Beitrag „Der Kreislauf der Erkenntnis“ werden die nächsten Schritte dorthin beschrieben.
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Bodo Fiebig „Umweltwahrnehmung“ Version 2020-5
© 2020, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
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