1 Begriffsbildung
Beginnen wir wieder mit einer kleinen Erzählung:
Eines Tages wurden einige der Frauen aus dem Klan der Höhlenbewohner, die mit einer ganzen Schar kleiner Kinder beim Beerensuchen waren, von einem heftigen Regenschauer überrascht. Unter einem großen Baum suchten sie Schutz. Da es Sommer war und der Regen warm, sprangen die kleineren Kinder, die sowieso nichts anhatten, im Regen herum, versuchten die Tropfen mit der hohlen Hand aufzufangen und das Rauschen des Regens nachzuahmen: „Sss – sss – sss“.
Ein paar Tage später spielten die Kinder am Bach, spritzten sich gegenseitig nass, quietschten vor Vergnügen und warfen Hände voll Wasser in die Luft, sodass er wie ein Regen auf die Erde zurückfiel. „Sss – sss – sss“ machten sie dabei. Die Frauen, die ihnen zusahen, lachten über diesen selbst gemachten „Regen“. Als dann die etwas größeren Kinder mit den Männern zum Fischen an den See gehen durften, war das nicht nur zum Spaß. Sie mussten lange ganz still sitzen, um die Fische nicht zu vertreiben und den Männern zusehen, wie sie bis zu den Hüften im Wasser stehend regungslos warteten, bis ein großer Fisch in die Nähe kam, den sie mit ihren langen, dünnen Fisch-Speeren aufspießen konnten. Als dann die Fischjagd vorbei war, tollten sie um so übermütiger im See, lachten und kreischten, ließen das Wasser über sich „regnen“ und machten „Sss – sss – sss“ dazu. Auch die Männer lachten über den selbst gemachten „Regen“ der Kinder.
Niemand hatte es bemerkt oder gar bewusst so gewollt. Aber seit diesem Sommer wurde das Wasser immer so „genannt“. Ob es als Regen vom Himmel fiel, ob es sprudelnd und plätschernd über die Steine im Bach floss, ob es still und unbewegt in See stand, diese klare, kühle Nass war „Sss“. Und wenn ein Kind oder auch ein Erwachsener krank in der Höhle lag und Durst hatte, dann sagte der Kranke „Sss – sss“ und dann brachte ihm einer der Erwachsenen frisches Wasser vom Bach in einem Eimer von gegerbter Tierhaut. Die Menschen konnten also etwas, was sie vom Innern der Höhle aus gar nicht sehen konnten, sprachlich so vergegenwärtigen, dass sie darüber kommunizieren konnten: „Ich brauche Wasser“. Das veränderte ihre Sicht auf ihre Umwelt grundlegend.
Mit Hilfe der Sprache konnte man nun Dinge und Vorgänge, die zeitlich oder räumlich weit entfernt lagen, für die jeweiligen „Gesprächsteilnehmer” vergegenwärtigen. Indem man eine Person, einen Gegenstand oder einen Vorgang „beim Namen nannte”, wurden sie für alle Gesprächsteilnehmer, die diese Person, diesen Gegenstand, diesen Vorgang kannten, präsent. Das „Wort” wurde zum Repräsentanten der Wirklichkeit. Alle Beteiligten wussten nun, wovon die Rede war, auch wenn der „Gesprächsgegenstand” faktisch nicht „persönlich” anwesend war. Sprache ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung eines Denkens in zunehmender Abstraktion. Die entstehenden Sprachen ermöglichten es den Menschen räumlich oder zeitlich Entferntes zu vergegenwärtigen und sich über das Vergegenwärtigte auszutauschen, obwohl es ja in Wirklichkeit gar nicht „da“ war. Jede Art abstrahierenden Denkens setzt Sprache voraus.
Solche Vergegenwärtigung von Gemeintem durch Sprache kann allerdings nur gelingen, wenn alle Beteiligten die gleiche Sprache verwenden. Dabei muss es gar nicht immer um ganze „Sprachsysteme“ gehen (also etwa deutsch oder italienisch). Verwirrung kann auch entstehen, wenn Gesprächspartner innerhalb der gleichen Sprache einzelnen Begriffen verschiedene Bedeutungen geben. Zum Beispiel beim Begriff „Liebe“: Die einen meinen damit den Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit oder ohne emotionale Beteiligung, für andere beinhaltet dieser Begriffe eine selbstlose Zuwendung und Hilfeleistung für einen Bedürftigen … Deshalb ist es z. B. in wissenschaftlichen Abhandlungen üblich, die verwendeten Begriffe möglichst genau zu definieren, damit alle Beteiligten wissen, was jeweils damit gemeint ist.
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Die allmähliche Herausbildung einer Sprache über viele Generationen und Jahrhunderte hinweg hatte noch weitergehende Folgen: Für die Menschen in dieser Gruppe erschloss sich nach und nach die Umwelt nun in ganz neuer Weise: Sie sahen den großen Baum, der am Ufer des Baches vor ihrer Wohnhöhle stand, nicht mehr nur als diesen einzelnen Baum, der im Sommer Schatten bot, sondern sie erkannten in ihm ein Exemplar der Kategorie „Baum“, von denen es viele gab, ganz verschieden gestaltet, aber doch alle mit den wesentlichen Merkmalen eines Baumes ausgestattet: Stamm und Wurzeln, Äste und Blätter. Wenn sie einen Baum „Baum“ nannten, dann hatten die Menschen Tausende von Einzelerscheinungen in einem Begriff zusammengefasst. Und so stand nun der Begriff „Baum“ (oder „Berg“, oder „Wasser“ oder „Tier, das man jagen kann und das gutes Fleisch liefert“) auch für eine deutlich vereinfachte Kommunikation zur Verfügung. Die Menschen unterschieden nun „Erde“ von „Stein“, auch wenn die Erde mal braun und mal rot, mal nass und matschig, mal trocken und staubig war, und der Stein mal hell und mal dunkel, mal glatt und mal kantig. Sie hatten erkannt, dass es nicht nur viele einzelne Dinge gab, sondern dass man jeweils bestimmte Dinge anhand gemeinsamer Merkmale in Gruppen zusammenfassen konnte. Und das veränderte das Weltverständnis der Menschheit.
Gewiss war es ein großer Moment in der Entwicklung der Menschen, als einer von ihnen zum ersten Mal einen Baum mit einer Lautfolge bezeichnete, die er auch auf andere Bäume anwendete und Erde und Stein mit unterschiedlichen „Namen” nannte, im Wissen, dass Erde und Stein ganz verschiedene Eigenschaften haben können, aber eben doch auch gemeinsame Merkmale, durch die man sie der einen oder anderen Kategorie zuordnen konnte. Und noch größer und bedeutsamer war der Augenblick, als zum ersten Mal ein Mensch einen Laut-Ausdruck verwendete für etwas, was man gar nicht direkt sehen, sondern nur an seinen Auswirkungen erkennen konnte: die Luft zum Beispiel, die man nach raschem Lauf spürbar einatmete, die einem als Wind ins Gesicht blies und die als Sturm selbst starke Bäume entwurzelte.
So lernten solche Gruppen von Menschen nicht nur die verwirrende Vielfalt der Dinge selbst wahrzunehmen, sondern auch, sie in ein einfaches Schema von Kategorien einzuordnen, das ihnen half, vieles rascher zu erkennen und besser zu verstehen. Voraussetzung dafür war die gleichzeitige Entwicklung von Erkenntnisprozessen (z. B. von der Erkenntnis, dass es viele verschiedene Pflanzen gibt, dass aber einige davon einem gemeinsamen Grundschema zugehören: Wurzel – Stamm – Äste – Blätter) und entsprechenden sprachlichen Zuordnungen (z. B. „Baum“ oder englisch „tree“ oder französisch „arbre“ usw.).
Nur durch die sprachliche Fixierung von Wahrnehmungen in Begriffen, die für alle Beteiligten die gleiche Bedeutung hatten, konnte die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Kategorien festgehalten und für menschliches Verständnis und zwischenmenschliche Kommunikation verfügbar gemacht werden. Die Bildung von Begriffen, die nicht nur einzelne Gegenstände, sondern eine ganze Kategorie von Dingen bezeichneten, erleichterte nicht nur die Wahrnehmung der schier unendlichen Vielzahl von Einzelerscheinungen, sondern ermöglichte und erleichterte auch die Kommunikation über sie.
Das gilt nicht nur für die frühen Entwicklungen der Sprache und des Denkens, sondern auch für ganz moderne Vorgänge. Niemand, auch kein Wissenschaftler, hat je ein Proton „gesehen“ oder ein Elektron. Und trotzdem können die Wissenschaftler die (indirekten) Ergebnisse ihrer Beobachtungen und Berechnungen in zusammenhängenden und begründenden Vorstellungen zusammenfassen und zwar deshalb, weil sie für die einzelnen Phänomene und ihre Zusammenhänge sprachliche Begriffe bildeten und verknüpften. So entstanden Sprach-Bilder von „Atomen“ und „Atomkernen“ und „Elektronen-Schalen“ (die man dann auch visuell auf Schautafeln farbig und anschaulich darstellen kann), obwohl alle Beteiligten wissen: So, wie sie da aufgemalt sind, so sehen „Atome“ mit ihren „Schalen“ und „Kernen“ ganz gewiss nicht aus (wenn man sie denn direkt sichtbar machen könnte). Aber die Begriffe und die Anschauungen, die wir damit verbinden, die erlauben uns, mit den Phänomenen umzugehen, sie zu berechnen und sie für unsere Zwecke verfügbar zu machen.
Indem man den Baum „Baum“ nannte, konnte man tausend Einzelerscheinungen seiner Umwelt in einem einzigen Begriff zusammenfassen und man unterschied gleichzeitig das, was man „Baum“ nannte, von tausend anderen Erscheinungen im Wald, die eben nicht „Baum“ waren (sondern z. B. „Reh“ oder „Blume“ oder „Vogel“). Ja, man konnte sogar völlig neue Kategorien finden, die in der Natur gar nicht vorhanden waren: Wenn man z. B. ein Wort fand für „jagbares Tier“ oder „essbare Pflanze“, dann hatte man Kategorien entwickelt, die nicht in den Dingen selbst begründet waren, z. B. in ihrer biologischen Eigenart, sondern die ausschließlich in der Bedeutung begründet waren, die man selbst den Dingen beimaß.
Dabei machten die Menschen von der Höhle am Bach noch keinen Unterschied zwischen den konkreten Bäumen und dem Begriff „Baum“, den sie für alle Bäume anwendeten. Alle Bäume hießen „Baum“, auch der große Baum am Bach vor ihrer Höhle. Nur bei einer Art von Bäumen machte sie eine Ausnahme: Diese Art von Bäumen trug im Herbst essbare und wohlschmeckende Früchte, die sie „Mi“ nannten; solche Bäume nannten sie „Mi-Baum“.
Bei den Menschen allerdings gab es schon individuelle Namen. Bei den Erwachsenen jedenfalls, bei den Kindern war das nicht üblich. Sie hießen alle „Kind“, allenfalls mit einem Zusatz wie bei jenem Mädchen, dass im Winter geboren worden war und nur mühsam über ihre ersten Lebensmonate gebracht werden konnte. Sie hieß „Schnee-Kind“. Sonst unterschied man nur allgemein zwischen Jungen („Mann-Kind“) und Mädchen („Frau-Kind“). Erst wenn die Heranwachsenden geschlechtsreif wurden, bekamen sie in einer großen Zeremonie, an der alle Gruppenmitglieder teilnahmen und bei der sie in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen wurden, einen eigenen Namen.
Durch die Zuordnung von individuellen Namen und allgemeinen Begriffen zu den konkreten Erscheinungen der Natur und der menschlichen Gemeinschaft konnte man nun viel gezielter und verständlicher miteinander kommunizieren. Und so entstanden auch durch immer weitergehende sprachliche Kommunikation auch immer intensivere Beziehungen zwischen den Gruppenangehörigen (die soziale Kommunikation der Menschen durch Sprache ist zwar nicht so körperbetont wie das gegenseitige Lausen der Affen, aber doch vielfältiger und differenzierter.)
Die gemeinsame Erfahrungsgrundlage ermöglichte den Mitgliedern einer frühen Horde von Menschen auch eine Art von Kommunikation, durch die sie Erfahrungen austauschen und mit der ganzen Gruppe teilen konnten. Hatte z. B. eine der Frauen aus einer Gruppe, die essbare Pflanzen sammelte, die Erfahrung gemacht, dass der Verzehr einer bestimmten Pflanzen-Art heftige Bauchschmerzen verursachte, so konnte sie die anderen durch einen furchterregenden Abwehrlaut davor warnen, die gleiche Pflanze zu essen. Wenn dann trotzdem irgendwann ein anderes Mitglied der Gruppe die gleiche Erfahrung machte, so wurde das Urteil bestätigt und gefestigt: „Diese Pflanze ist nicht gut zu essen.“ So entstand im Austausch individueller Erfahrungen ein gemeinsames Wissen, das, versprachlicht und im Gedächtnis bewahrt, noch jahrelang zur Verfügung stand, ja das sogar an die nächste Generation weitergegeben werden konnte.
Später, als die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten schon weiter ausdifferenziert waren, konnte dieses Wissen erweitert und vertieft werden. Nun gab es die „weisen Frauen“, die nicht nur viele Pflanzen kannten, sondern die auch wussten, wie man sie zubereiten musste, damit sie nahrhaft und bekömmlich waren, die auch wussten, welche Pflanzenteile zu einem Brei zerstampft oder zu einem Tee gekocht bei bestimmten Krankheiten oder Verletzungen Linderung brachten. Vielleicht gab es auch einen „Rat der weisen Männer“, der die Geschicke des Stammes in den Gefährdungen durch Wetter und Jahreszeiten, durch Kämpfe und Hungersnöte führte. Bei diesen Männern umfasste das besondere Wissen vielleicht spezielle Techniken beim Bau und bei der Befestigung der Wohnstätte, erprobte Verfahren bei der Bewältigung von Kälte, Dürre oder Überschwemmung, bewährte Vorgehensweisen und erfolgversprechende Strategien bei der Jagd nach bestimmten Tieren, erprobte Taktiken beim Kampf gegen zahlenmäßig überlegene Feinde … Solche „Wissenden“ hatten hohes Ansehen in der Gemeinschaft und sie gaben ihr Wissen sorgsam an die nächste Generation weiter. Vielleicht ergaben sich auch schon Gelegenheiten, wo die „Weisen“ verschiedener Familienklans zusammenkamen und ihr Wissen austauschten, sodass nun die Erfahrungen einer viel größeren Anzahl von Menschen gebündelt und anwendbar wurden. Das Welt-Wissen der Menschheit konnte nur deshalb über Jahrtausende aufgebaut und vermehrt werden, weil es versprachlicht zur Verfügung stand. Sonst wäre es beschränkt geblieben auf das, was man durch vormachen und nachmachen weitergeben kann.
So wurden Einzelerfahrungen, deren subjektive Einordnung, emotionale Berührung und praktische Bewertung zunächst noch sehr unterschiedlich ausfallen konnten, im Austausch und Vergleich ähnlicher Erfahrungen einer Vielzahl von Menschen nach und nach immer mehr objektiviert. Es entstand ein Bild von der Welt, ihren Gegenständen und Kategorien, ihren Ereignissen und Entwicklungen, das zumindest in der jeweiligen Gruppe zur gültigen „Welt–Anschauung“ wurde. Das war sicher noch kein sprachlich ausformuliertes Denk-System mit differenzierten Deutungsmustern und Bewertungen, aber doch schon ein gemeinsames Netzwerk von Begriffen und Verknüpfungen für unterschiedliche Erfahrungen, die für den Einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaft von Bedeutung waren und das innerhalb der Gruppe ein gemeinsames Verstehen und Handeln ermöglichte.
2 Entwicklung des Denkens und Sprechens
Im Folgenden werden einige Schritte der Sprachbildung als grobe Übersicht genannt:
- Nennung einzelner Personen oder Dinge mit einer Lautfolge als deren „Namen“ (z. B. unsere Höhle heißt „Hoju“).
- Vergegenwärtigung von Dingen, die zeitlich oder räumlich entfernt sind durch nennen ihrer „Namen“. So konnte eine Gruppe von Jägern, die mehr als eine Stunde schnellen Laufes von ihrer Wohnhöhle entfernt waren, sich darüber verständigen, dass es nun Zeit sei zu ihrer Höhle zurückzukehren, weil es bald dunkel werden würde, indem ihr Anführer das Namen-Wort „Hoju“ für ihre Höhle aussprach und die anderen zustimmend nickten.
- Zusammenfassung von einzelnen Phänomenen der Umwelt (von denen es sehr viele gab, die aber jeweils durch gemeinsame Merkmale als zusammengehörig erkannt werden konnten) durch Begriffs-Bildung (Baum, Wasser, Berg, Mann, Frau, Kind …).
- Sprachliche Negierung: Die Fähigkeit, etwas beim Namen zu nennen, was nicht da ist. (In der Trockenheit: „Kein Regen“ oder in friedlichen Zeiten „keine Feinde“ oder in Mangel-Zeiten „kein Fleisch“). Dieses „nicht“ oder „kein“ konnte anfangs auch durch eine verneinende Geste verbunden mit dem „Namen-Wort“ ausgedrückt werden. Aber es war doch eine völlig neue Stufe in der Entwicklung des Denkens und Sprechens, etwas zu benennen, was nicht vorhanden ist.
- Bildung von Begriffen für die Eigenschaften von Dingen (groß oder klein, leicht oder schwer, stark oder schwach, essbar oder giftig …) und die Verbindung von Gegenständen mit Eigenschaften: Baum – groß, Stein – schwer …
- Bildung von Begriffen für Vorgänge oder Tätigkeiten (laufen, springen, schwimmen, fliegen, schreien …) und die Verbindung von „Dingen“ mit Tätigkeiten: Männer – jagen, Kinder – spielen, Vögel – fliegen …
- Bildung von Ablauf-Reihen: Erst und dann und dann … (Erst sammeln wir Wurzeln und Pilze, dann waschen wir sie im Bach, dann trocknen wir sie in der Sonne.)
- Herstellung von wenn-dann-Beziehungen. Wenn die Sonne untergeht, dann gehen wir zurück zur Höhle. Wenn Vögel in Scharen wegfliegen, dann wird es bald Winter.
- Damit zusammenhängend: Verlängern von gegenwärtigen Situationen oder Entwicklungen in die Zukunft hinein: „Es ziehen Wolken auf, bald wird es regnen“ oder „Wir haben nichts mehr zu essen. Morgen werden wir zu einem mehrtägigen Jagdzug aufbrechen“.
- Herstellung von weil-deshalb-Beziehungen: „Weil das Kind diese Beeren gegessen hat, deshalb hat es jetzt Bauchweh.“ Oder: „Weil wir im Herbst nicht genug Vorräte angelegt haben, deshalb müssen wir jetzt hungern.“ Das Erkennen und Aussprechen von weil-deshalb-Beziehungen ist ein ganz wichtiger Vorgang, denn dadurch wird es möglich, lebenswichtige Folgerungen abzuleiten: „Kinder dürfen diese Beeren nicht essen.“ Oder: „Im nächsten Herbst müssen wir mehr Vorräte anlegen.“
- Bildung von Begriffen für Realitäten, die keine sichtbaren oder anfassbaren Gegenstände sind, z. B. für „Nacht“ oder „Kälte“ oder „Traurigkeit“ oder „Gestern“ oder „Übermorgen“.
- Bildung von Sammelbegriffen für eine ganze Fülle von verschiedenen Erscheinungen, die in einem einzigen Wort zusammengefasst werden, z. B. „Sommer“ (mit all seinen Erscheinungsweisen und Erlebnissen) oder „Winter“ oder „Frieden“ …
- Ausdrücken von hypothetischen Erwägungen: Was wäre, wenn? „Was wäre, wenn wir aus einigen Baumstämmen eine Brücke über den Bach bauen? Dann könnten wir doch in der kühleren Jahreszeit trockenen Fußes auf die andere Seite gelangen“.
- Erzählen von zeitlich zurückliegenden Ereignissen (die Männer kommen von der Jagd zurück und berichten von ihren Erlebnissen und zeigen ihre Beute vor).
- Erzählen von inneren Erfahrungen: Von Träumen, Ängsten, Hoffnungen …
- Erzählen von Sinn-Geschichten, die besonders eindrucksvolle Erfahrungen in einen Bedeutungszusammenhang zu stellen versuchen („Es hat schon so lange nicht geregnet. Ich denke, die Sonne ist uns böse, deshalb verdorrt sie unser Land und hält den Regen ab; was haben wir falsch gemacht?“).
3 Gemeinsame Entwicklung von Sprache und Denken
Die Sprache und das Denken der Menschen entwickelten sich in gegenseitigen Wechselwirkungen: Die Entwicklung des Denkens ermöglichte und förderte die Entwicklung einer Sprache und die Entwicklung der Sprache erweiterte und strukturierte die Entwicklung des Denkens. Nicht in erster Linie anatomische Veränderungen (die Entwicklung des Zungenbeins und des Kehlkopfs beim Menschen, die freilich für eine differenzierte Lautbildung nötig waren), sondern die gegenseitige Befruchtung von Denken und Sprechen führte zur Herausbildung des Menschen als sprachfähiges Wesen.
Die denkende Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Umwelt führte zu immer neuen und differenzierteren sprachlichen Ausdrucksformen. Und die Entwicklung immer neuer sprachlicher Ausdrucksformen förderten und strukturierten immer weitergehende Formen des Denkens. Das „denkende Sprechen“ und das „sprechende Denken“ treiben den „Wirbel-Sturm der Erkenntnis“ zu immer schnelleren Umdrehungen. Dazu kommt noch als notwendige Grundlage solchen Denkens und Sprechens etwas, was wir „Die Verinnerlichung der Außenwelt“ nennen könnten (siehe den folgenden Beitrag).
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Bodo Fiebig „ Denken und Sprechen“ Version 2020-5
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