Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Recht und Unrecht

Beitrag 2: Göttliches Gebot? (Bodo Fiebig17. März 2018)

Wir könnten das bisher (im Beitrag 1) Dargestellte etwa so zusammenfassen: Jede Art von Rechtsempfinden basiert auf Erfahrungen von Menschen mit den positiven oder negativen Folgen von Handlungen Einzelner im Rahmen ihrer Gemeinschaft: Was dem Miteinander der Gemeinschaft im Innern und der Stärke der Gemeinschaft nach außen nützt, das ist „gut“ und was dem Miteinander und der Stärke der Gemeinschaft schadet, ist „böse“.

Allerdings, so überzeugend so eine Aussage auf dem ersten Blick aussieht, so deutlich zeigt sie doch beim näheren Hinsehen ihre Schwächen: Wenn das Rechtsempfinden der Menschen ausschließlich auf so einer gruppenegoistischen, auf die Vorteile der eigenen Gemeinschaft gerichteten Grundlage aufbauen würde, dann könnten dabei niemals Rechtsgrundsätze entstehen, die auch dem Fremden, dem Andersartigen, dem Schwachen, Alten, Kranken, Behinderten (also scheinbar „Nutzlosen”) ein Lebensrecht in der eigenen Gruppe zugestehen würden. Wir wären dann bei einem primitiven Sozialdarwinismus stehen geblieben, wie er etwa im Nationalsozialismus vertreten wurde: Ethische Überlegungen dürfen beim Kampf der Völker und Rassen keine Rolle spielen! Das Starke gewinnt und das Schwache muss untergehen!

Das Rechtsempfinden der Menschheit ist aber (und das kann man an der Geschichte der Menschheit deutlich erkennbar ablesen) nicht dort stehen geblieben! Es gibt (und das nicht erst in modernen Rechtssystemen, sondern schon seit Jahrtausenden) in manchen Völkern Normen und Regelungen, die auch Fremden und Hilfsbedürftigen Schutz und Unterstützung gewähren. Schon im Alten Testament der Bibel, vor 2500 bis 3000 Jahren, wurden Regelungen festgelegt, die dem Schutz der Fremden dienen, z. B. bei den grundlegenden „10 Geboten“ (2. Mose 20,10) Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd (eigentlich heißt es: Sklave und Sklavin), auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Arbeits-Schutz-Rechte für alle(!) in einer archaischen Gesellschaft vor Jahrtausenden! Und das alles in einer kulturellen Umgebung, in der Sklaven und Fremdlinge zur beliebigen Ausbeutung zur Verfügung standen. Wie aber sollen denn solche Rechtsvorstellungen, die über die Grenzen und den Vorteil der eigenen Gemeinschaft hinausreichen, entstanden sein? Ein evolutionistischer Ansatz jedenfalls, der den „Kampf ums Dasein” zum Hauptantrieb jeder Lebensäußerung macht, bietet dafür keine Erklärungsmöglichkeit, denn Rücksicht gegenüber den „Anderen“ bedeutet ja immer Verminderung der eigenen Lebens-Chancen beim „Fressen und Gefressenwerden“. (siehe das Thema Die Ethik des Atheistismus). Wir werden im Folgenden dieser Frage noch weiter nachgehen.

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1 Menschenrecht durch Gotteserfahrung?

Kann es so etwas wie ein „allgemeines Menschenrecht“ überhaupt geben? Achtet nicht jeder Staat eifersüchtig darauf, seine eigenen Rechtssatzungen ohne Einmischung von außen selbst zu bestimmen? Woher sollte denn eine „Ethik der Mitmenschlichkeit“ kommen, die alle Menschen und alles Leben einschließt, woher sollte sie ihre Maßstäbe nehmen? Nennt nicht der Eine gut, was der andere als böse empfindet? Misst nicht jeder, was gut oder böse sei am eigenen Vorteil? Wie konnten überhaupt gemeinsame ethische Einstellungen entstehen (siehe das Thema „Adam, wer bist du?“ Beitrag „Die ethische Revolution des Lebens“).

Wir haben gesehen: Es gibt kein Natur-Recht, das vor und über allem von Menschen gemachten Gesetzen gültig wäre. Aber es gibt Erfahrungen, dass sich bestimmten Verhaltensweisen für die Gemeinschaft (Familie, Sippe, Stamm, Volk), für ihr Miteinander im Innern und für die Auseinandersetzung mit den „nicht Dazugehörenden” draußen positiv oder negativ auswirken. Solche Erfahrungen sind es, die in Jahrhunderten unsere Vorstellungen von „gut und böse” geprägt haben. Erst viel später wurden dann Gesetze formuliert, die dafür sorgen sollen, dass Verhaltensweisen, die in der Gruppe als „gut” angesehen sind, bestärkt werden und andere, die als „böse” gelten zurückgedrängt werden (ausgenommen sind hier solche Erfahrungen, die einfach als Walten blinder bzw. unzugänglicher Naturkräfte gedeutet wurden: Ein Sturm, ein Gewitter, die Kälte des Winters und die Trockenheit des Sommers galten nicht als „gut” oder „böse” im Sinne eines ethisch verantwortlichen Verhaltens.) Ohne Erfahrungen gibt es kein Recht und ohne Recht keine Menschlichkeit.

Die Annahme eines „Naturrechts”, das unabhängig von allen kulturbedingten Gegebenheiten allen Menschen angeboren sei, ist eine Illusion. Es gibt kein „Recht“ vor der Kultur. Die Ausformung von Rechtsnormen ist ja gerade ein wesentlicher Bestandteil jeder kulturellen Entwicklung. Jede Festlegung des Verhaltens, die über die instinktgebundenen Verhaltensmuster hinausgeht, ist von Menschen gemacht und die Grundeinstellungen der Rechtsnormen folgen nicht einem „naturgegebenen” Rechtsverständnis, sondern den vorherrschenden Menschenbildern und sozialen Gegebenheiten ihres Kulturkreises und ihrer Zeitepoche.

Das bedeutet aber: Eigentlich dürfte es eine Ethik, die über den eigenen persönlichen oder kollektiven Vorteil hinausgeht, gar nicht geben, die Gesetze der Evolution, die Mechanismen von Mutation und Selektion verbieten das! Wie sollten denn in einer Welt, die vom „Kampf ums Dasein“ bestimmt wird, Regelungen entstehen, die das Lebensrecht des Schwachen, Unterlegenen, Hilfsbedürftigen, Fremden, des Menschen jenseits der Grenzen der eigenen Familie und Sippe schützen und stärken? Und doch sind solche „grenzüberschreitenden“ ethischen Grundsätze entstanden, sonst gäbe sie es bis heute nicht.

Vielleicht kann uns die biblische Geschichte vom „Baum der Erkenntnis von gut und böse“ (siehe Beitrag 1 „Der Ursprung des Rechts“) auch hier ein Stück weiterhelfen. Was bedeutet es, dass Gott selbst diesen „Baum der Erkenntnis” in die „Adamah des Menschseins” gepflanzt hat? Wie sollen wir uns diese „Einpflanzung“ einer gottgewollten Erkenntnis von gut und böse vorstellen? Wir werden sehen, dass hier nicht irgendein mystisches Ereignis gemeint ist, sondern ganz irdisch erfahrbare Vorgänge, die aber, vom Geist Gottes geleitet, Göttliches im Nährboden des Menschseins zum Wachsen bringen können.

Wie konnte es zu der Herausbildung einer Ethik kommen, welche die Gesetzmäßigkeiten der Evolution und des „Kampfes ums Dasein“ zu überwinden vermochte? Möglich wäre so etwas allenfalls, wenn es konkrete Erfahrungen gäbe, die nicht Folge menschlichen Verhalten wären und die auch nicht als bloße Naturereignisse gewertet werden könnten, die aber trotzdem bestimmte Vorstellungen von „gutem Tun” gegenüber allen Menschen auslösen könnten und verstärken würden. Möglich wäre so etwas, wenn es Erfahrungen gäbe, welche bestätigen, dass nicht-egoistisches Handeln „gut“ sein kann, auch wenn es dem Handelnden selbst keine persönlichen Vorteile einbringt. Dann, wenn es solche Erfahrungen gäbe, ganz konkret und handfest im alltäglichen Leben, dann könnten daraus tatsächlich Grundzüge einer über-kulturellen und über-zeitlichen Ethik erwachsen, die zur Grundlage einer Menschheitsethik und eines allgemeinen Menschenrechts werden könnte. Und solche Erfahrungen gab und gibt es tatsächlich in allen Kulturen und Zeitepochen.

Wenn wir dabei genauer hinsehen, merken wir: Rechtsvorstellungen, die grundsätzlich alle Menschen mit einbeziehen, und allen Menschen gleiche Rechte zugestehen, sind alle im Erfahrungsraum der Religionen entstanden. Als Beispiel dafür mögen die folgenden (jahrtausendealten!) Abschnitte aus der jüdisch-christlichen Bibel gelten:

3. Mose 19, 33: Wenn ein Fremder bei euch wohnt, in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremde gewesen in Ägypten. Ich bin der Herr, euer Gott.

Mt 5, 43-45: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen“*. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

     * Die Aufforderung den Feind zu hassen gibt es in der ganzen Bibel nicht. Dieser Satzteil stammt also aus außerbiblischen „Sprüchen“.

Aber kann denn Religion Maßstäbe für eine Ethik umfassender Mitmenschlichkeit aus dem Nichts herbeizaubern? Nein, natürlich nicht. Wenn Religion nur eine menschliche Kulturleistung wäre, bliebe auch sie im Spiegellabyrinth des Egoismus gefangen. Gehen wir also der Frage nach, woher die Grundsätze einer Ethik grenzüberschreitender Mitmenschlichkeit (aus der sich dann auch Grundsätze eines allgemeinen Menschenrechts ableiten ließen) kommen, denn es gibt sie ja offensichtlich, auch wenn sie nicht überall angewendet werden.

Machen wir uns das noch einmal bewusst: Die Entstehung von grenzüberschreitenden, alle Menschen umfassenden Rechtsvorstellungen ist aus den „normalen” Erfahrungen menschlichen Miteinanders nicht zu erklären. Die könnten nur ein Recht begründen, das sich am individuellen und kollektiven Vorteil orientiert: Gut ist, was mir persönlich und uns als Gemeinschaft nützt, so verlangt es das Gesetz der Evolution. Wenn trotzdem im Laufe der Menschheitsgeschichte Rechtsgrundsätze entstanden sind, die alle Menschen im Blick haben (auch die fremden, die nicht zu uns gehören und sogar die, die uns feindlich gegenüber stehen), so müssen sie auf Erfahrungen zurückzuführen sein, die nicht vom Kampf ums Dasein und vom Ringen um Vorherrschaft und Macht geprägt sind. Das heißt, es muss einen Erfahrungshorizont geben, der nicht vom allgemeinen Ringen um Selbstbehauptung und Selbsterhöhung bestimmt wird und auch nicht von egozentrischen menschlichen Antrieben und Zielen. Und so einen Erfahrungshorizont gibt es tatsächlich im Menschsein aller Jahrtausende und aller Kulturen: Menschen haben nicht nur Erfahrungen mit den Folgen menschlichen Handelns gemacht, sondern auch Erfahrungen mit dem Handeln Gottes, durch welches das Leben der Gemeinschaft in allen Bedrängnissen und Gefahren der natürlichen Umwelt dennoch erhalten blieb und durch das es Impulse empfing, die auf eine Menschlichkeit jenseits aller Egoismen hinweisen.

Zwar scheint es auf den ersten Blick so, als ob jene Macht, die alles geschaffen hat, den Kräften der Natur (und die schließen notwendigerweise auch Leid und Tod mit ein – siehe das Thema „Die Frage nach dem Leid“) bewusst freien Lauf lässt, in Wahrheit aber ist sie es, die dafür sorgt, dass Menschen und menschliche Gemeinschaften mitten im „Kampf ums Dasein” und inmitten von Leid und Tod leben können und manchmal auch Freude und Glück erfahren (siehe den ThemenbeitragWeltreligionen und biblischer Glaube,Beitrag 2 „Grundlagen des Glaubens“.

Solche Gotteserfahrungen sind zum Beispiel: Erfahrung der Versorgung mit allem Notwendigen trotz der Mühsal, der Natur das Lebensnotwendige abzuringen, Erfahrungen von Schutz und Geborgenheit inmitten eines unerbittlichen Kampfes ums Dasein, Erfahrung der Natur als nährenden und schützenden Lebensraum trotz aller Gefährdung durch ihre unkontrollierbaren Bedrohungen und Gewalten, Erfahrung von Ordnung und Zuverlässigkeit in der Natur (dass auch nach der finstersten Nacht die Sonne wieder aufgeht, dass nach jedem Winter wieder ein Frühling kommt, dass nach jeder Trockenzeit wieder der lebenspendende Regen fällt …), Erfahrungen von Erneuerung des Lebens inmitten der Allgegenwart von Vergänglichkeit und Tod, Erfahrungen von unerwarteter Bewahrung und Errettung in Situationen mit aktueller und existenzieller Gefährdung, Erfahrungen von Zugehörigkeit, Nähe und Zuwendung in der Gemeinschaft trotz des Selbstbehauptungswillens jedes Einzelnen, aber auch von Geborgenheit und Schutz, wenn alle menschlichen Beziehungen zerbrochen sind, Erfahrungen von Freude mitten im Schmerz, von Gelingen mitten im Versagen, Erfahrungen von unerwarteter Heilung aus schwerer Krankheit, froh machender Befreiung aus lähmender Angst, Erfahrungen von Hoffnung nach tiefer Verzweiflung, von tragendem Trost in Tragik und Trauer

Diese ganz realen, im alltäglichen Leben aller Völker und Kulturen gegenwärtigen Gotteserfahrungen wurden zur gemeinsamen Grundlage einer in allen Völkern und Kulturen gegenwärtigen „Erkenntnis von gut und böse”. Von daher kommen auch alle positiven Anteile dessen, was wir das „Gewissen“ nennen. Damit wurden diese Gottes-Erfahrungen auch (freilich teilweise verfälscht durch viele Verwerfungen, Fehldeutungen und Missbrauch) zur gemeinsamen Grundlage eines Rechts, das nicht nur dem individuellen oder kollektiven Egoismen folgt. Meinen wir denn, Gott hätte nicht den Menschen schon Gutes getan, hätte ihnen nicht schon seine Liebe gezeigt, hätte ihnen nicht schon Erfahrungen von Schutz und Versorgung, von Sicherheit und Gerechtigkeit zuteil werden lassen, bevor sie noch in der Lage waren, ein Rechtssystem zu entwerfen? Nein, ganz gewiss: Gott war schon vom Anfang an lebenserhaltend und fürsorgend am Werk und die Menschen haben das schon in sehr frühen Stadien ihrer Entwicklung auch wahrgenommen.

Ob es den Atheisten unserer Tage gefällt oder nicht: Die Anstöße für eine Ethik und eines davon abgeleiteten Rechts, die über den eigenen (individuellen oder kollektiven) Vorteil und Nutzen hinausweisen, kamen alle aus religiösen Impulsen (auch wenn manche davon später von atheistischen Ideologien aufgegriffen und abgewandelt worden sind). Das „Gesetz“ des Atheismus (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus“, Abschnitt 3 Evolution oder Menschlichkeit?“), der davon ausgeht, dass alles Leben im „Kampf ums Dasein“ (durch Mutation und Selektion) entwickelt und geformt wurde, könnte nur eine „Ethik“ der (individuellen und kollektiven) Selbstbehauptung auf Kosten der jeweils „anderen“ hervorbringen, denn jeder Impuls, einem anderen, Schwächeren, beizustehen, würde ja die eigenen Überlebenschancen mindern. Es braucht, um die unerbittliche Schärfe des „Kampfes ums Dasein” zu überwinden (oder zumindest zu mildern) Erfahrungen, die nicht von den blinden Abläufen einer angeblich aus sich selbst entstandene Natur bewegt wird, sondern von dem liebenden Blick Gottes auf seine Schöpfung und von seinem fürsorglichen Handeln an den Menschen.

Gott hebt dabei die Naturgesetze (die er selbst geschaffen hat) normalerweise nicht auf, aber er nutzt die Variationsbreite ihrer Wirkungen und die Spielräume ihres Zusammenwirkens, um den Menschen seine helfende Gegenwart inmitten allen Mühens und Leidens doch erfahrbar zu machen. Zu den Grundtatsachen des Lebens und des Menschseins gehören eben nicht nur Erfahrungen von Konkurrenz, Kampf und Tod, sondern auch Erfahrungen von Bewahrung, Begleitung und Geborgenheit in der Gegen­wart einer lebenserhaltenden, lebensfördernden, wohltuenden Kraft. Und es sind eben diese Erfahrungen mit der Gegenwart, Zuwendung und Liebe Gottes, die zu einer Quelle normativer ethischer Kraft werden können und zu einem Rechtssystem umfassender Mitmenschlichkeit.

Wenn Menschen über lange Zeit immer wieder die Erfahrung machen, wie eine überlegene Macht eben diese Überlegenheit nicht ausnutzte, um ihnen, den Unterlegenen, zu schaden, sondern sich ihnen liebevoll zuwandte, um in der Not zu helfen, in der Schwäche zu stärken, in der Traurigkeit zu erfreuen … dann stellt das (ohne dass den Beteiligten der Zusammenhang bewusst werden muss) die Menschen vor die Herausforderung, nun selbst gegenüber anderen, die sich jetzt in ähnlichen Notlagen befinden, genau so selbstlos, hilfreich, tröstend und stärkend zu handeln.

Die Erfahrungen mit der Nähe und Kraft Gottes, die ihnen lebenspendend, helfend, wegweisend und sinngebend entgegenkam, hat zur Folge, dass sich Menschen nun selbst herausgefordert wissen, in der Gemeinschaft des Menschseins ebenso lebenserhaltend, hilfreich, wegbegleitend und sinnstiftend zu wirken. Die Grundlage von Rechtssatzungen, die darauf gerichtet sind, allen Menschen gleiche Menschen-Rechte zuzubilligen, sind Erfahrungen mit der Hilfe und Fürsorge Gottes, die allen Menschen gleichermaßen gilt und die jeweils eigene selbstverpflichtende Antwort der Menschen darauf. Wahre Mitmenschlichkeit ist Nachahmung der Menschenliebe Gottes (siehe das Thema „Die Ethik des Atheismus“, Beitrag „Die Quelle der Mensch­lichkeit“). Solches allgemeines „Menschenrecht” ist aber kein „Naturrecht”, sondern ist (wie alles andere Recht auch) abgeleitet aus ganz konkreten und handfesten Erfahrungen.

Jetzt verstehen wir die Geschichte vom Baum der Erkenntnis besser: Solange die „Erkenntnis von gut und böse“ nur von den Erfahrungen im Miteinander der Menschen gespeist wird, bleibt sie im Irrgarten des Egoismus gefangen und ihre „Frucht“ zu „essen“ bedeutet, das „Recht“ daran auszurichten, ob es mir und uns Vorteile bringt. Nur wenn wir unser Rechtsverständnis grundsätzlich an der „Erkenntnis von gut und böse“ ausrichten, die aus den Erfahrungen mit der Liebe Gottes kommen, nur dann können wir ein Recht formulieren, das für alle Menschen gleichermaßen „gut“ ist.

Die „Erkenntnis von gut und böse”, die sich aus der Erfahrung mit der Nähe und Fürsorge Gottes speist, ist unabdingbare Voraussetzung für eine grenzüberschreitende „Ethik der Mitmenschlichkeit” und für daraus abgeleitete Menschenrechte. Gott selbst hat den „Baum der Erkenntnis von gut und böse” gepflanzt. Er selbst hat den Menschen die Möglichkeit gegeben, zwischen gut und böse zu unterscheiden.

Wobei uns bewusst sein muss: Das Böse (unter den Menschen) geschieht oft von allein, es entspricht ja in vielem den natürlichen Verhaltensweisen eines Lebewesens, das von gut und böse nichts weiß. Ebenso müsste ein „natürliches” Rechtsempfinden immer den kollektiv-egoistischen Interessen einer begrenzten Gemeinschaft folgen. Das Gute, das auch den Fremden und Hilfsbedürftigen mit einbezieht, muss man erkennen und wollen. Ethisch bewusste Einstellungen und Verhaltensweisen sind immer bedroht und gefährdet. So wie sich das Leben in einer lebensfeindlichen Natur mühsam seine Lebensräume erobern muss, so muss sich das Gute in einer ethisch blinden Umwelt und in einer von egoistischen Antrieben beherrschten Menschheit mühsam, Schritt für Schritt, Handlungsräume des Miteinander und Füreinander erobern. Nur ein Recht, das aus der Erfahrung mit den Folgen menschlichen Handelns kommt und zugleich auch aus den Erfahrungen mit der liebevollen und fürsorgenden Nähe Gottes, kann der von Gott gewollten und allen Menschen zugedachten Menschenwürde aller Menschen Schritt für Schritt näher kommen. Diese allgemeine Menschenwürde ist schon auf den ersten Seiten der Bibel grundlegend beschrieben (1. Mose 1, 27): Und Gott schuf den Menschen (von ihrer gottgegebenen Berufung her gesehen alle Menschen) zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn …

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2 Gesetz oder Liebe?*

Jesus wird einmal nach dem „Grundgesetz“ der Bibel gefragt. Seine Antwort ist kurz aber eindeutig: Er entnimmt dem hebräischen Alten Testament zwei Sätze und fügt sie zum neutestamentlichen „Doppelgebot der Liebe“ zusammen (Mt 22, 35-39): Einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Beide von Jesus zitierten Textstellen im Alten Testament verwenden dabei das Wort AHaBaH, (Liebe) bzw. die Verbform davon. Wobei „lieben“ (AHaB) hier nicht in erster Linie einen gefühlsmäßigen Vorgang meint, sondern einen praktischen: Dem Nächsten Gutes tun, ihm helfen, wo er Hilfe braucht, ihn versorgen, fördern, unterstützen, pflegen, heilen … (vgl. Lk 10, 30-36 im Gleichnis vom barmherzigen Samariter), ihn aufnehmen, wenn er heimatlos ist, ihn mit allen Nötigen versorgen, wenn er in Not ist, ihn in Schutz nehmen, wenn er angegriffen wird, ihn besuchen, wenn er einsam, krank oder in Gefangenschaft ist (vgl. Mt 25, 31-46 im „Gleichnis von den Schafen und Böcken“).

Gott und den Nächsten Lieben, das nennt Jesus „das höchste und größte Gebot“. Aber, wie macht man das? Wie liebt man Gott? Und wie liebt man seine Mitmenschen in der konkreten Situation? Seien wir unbesorgt: Gott überfordert uns nicht. Er gibt (2. Mose 20, 3-17) zehn einfache Gebote (eigentlich „Weisungen“), von Gott selbst auf steinerne Tafeln geschrieben (siehe 2. Mose 24,12), in denen deutlich wird, wie schlicht und alltagsnah die Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen gemeint ist, die die Bibel da „gebietet“. Zunächst die ersten vier Gebote (nach biblischer Zählung; im kirchlichen Gebrauch hat man diese Zählung später verändert):

Ich bin der HERR (JaHWeH), dein Gott (…) Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Du sollst dir kein (Götter- oder Götzen)-Bildnis noch irgendein Gleichnis machen (….). Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! (…)

Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen (…).

Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun. (…) Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.

So, in dieser Weise, wie es diese vier Gebote beschreiben, so liebt man Gott, nicht nur mit Gedanken, Worten und Gefühlen; zwar mit Leidenschaft, ja, aber doch in ganz konkreten Handlungsweisen und Lebensformen.

In gleicher Weise leiten die Gebote 5 bis 10 an, wie man seinen Nächsten konkret im ganz normalen Alltag lieben soll:

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren (…).

Du sollst nicht töten.

Du sollst nicht ehebrechen.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

Diese Gebote sind nichts anderes, als eine erste Entfaltung dessen, was der Satz „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst“ konkret meinen kann. Wer seinen Nächsten wirklich liebt, der muss sich nicht anstrengen, um diese Gebote an ihm zu erfüllen, der wird ihn nicht missachten, schädigen oder gar töten wollen. Die Zehn Gebote beschreiben nicht die ganze Fülle der Möglichkeiten einer voll entfalteten Liebesbeziehung zwischen Gott und den Menschen und der Menschen untereinander; sie beschreiben nur das alleräußerste Minimum, das nötig ist, dass die Liebe leben und die Menschheit überleben kann.

Die Gebote Gottes sind nicht einfach nur Anordnungen, die menschliches Verhalten und menschliches Gemeinschaftsleben in eine bestimmte Richtung lenken sollen (das auch), sondern sie sind vor allem dazu da, die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass ein liebevolles Miteinander in menschlicher Gemeinschaft überhaupt erst möglich wird. Und sie werden täglich bestätigt von den Erfahrungen der Menschen mit der liebenden, schützenden Nähe Gottes.

Nur in einer Gesellschaft, wo nicht menschliche (und manchmal auch vergöttlichte) Machthaber die höchste Autorität haben, sondern der Gott, der alles geschaffen hat und der alle seine (Menschen-)Geschöpfe gleichermaßen liebt, nur da, wo auch ökonomische Zwänge die Menschen nicht total vereinnahmen dürfen, sondern einen Freiraum (jeden siebenten Tag) für spirituelle Besinnung gewähren müssen, nur da kann menschliche Gemeinschaft in Frieden und Freiheit gelingen.

Nur in einer Gesellschaft, in der sich die Generationen in Achtung und Zuneigung begegnen (Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren), wo niemand um sein Leben fürchten muss (Du sollst nicht töten), wo die eheliche Gemeinschaft geachtet wird (Du sollst nicht ehebrechen), wo die Eigentumsrechte aller gültig sind (Du sollst nicht stehlen), wo keiner den andern verleumdet und wo die Wahrheit hochgehalten wird (Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten), wo sachliche und zwischenmenschliche Beziehungen geschützt sind vor begehrlichen Bestrebungen anderer (Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel …) nur da kann im Miteinander (und auf dem Fundament der Liebe Gottes) ein Freiraum entstehen, in dem so etwas wie „Liebe“ unter den Menschen sich nach und nach herausbilden und wachsen kann. Gott selbst ist es, der durch seine Gebote der Liebe diesen Freiraum schafft. Da, wo diese Gebote in ihren Grundaussagen von der Mehrheit einer Gemeinschaft geachtet und eingehalten werden, da wird das „Doppelgebot der Liebe“ (Gott lieben und die Mitmenschen) zum tragenden Fundament der Gemeinschaft, da wird (in aller Unvollkommenheit und Bruchstückhaftigkeit) die Urberufung des Menschseins verwirklicht (1. Mose 1, 27): Und Gott schuf den Menschen (oder: das Menschsein) für sich selbst zum Abbild und Gegenüber, ja, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Die schlichten und „alltagstauglichen“ Gebote Gottes geben die Richtung vor, an der auch die Gesetzgebung der Menschen sich ausrichten soll: Die Gesetze sollen die Rahmenbedingungen festmachen, innerhalb derer sich das Leben und Zusammenleben der Menschen in gegenseitiger Achtung und Zuneigung entfalten kann. Sie sollen keine Zwangsmaßnahmen sein, die alles bis ins Kleinste zu regeln versuchen, sondern Hilfe zu einem Miteinander in freier Zuordnung, gerechter Auseinandersetzung und liebevoller Gemeinschaft.

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Bodo Fiebig Göttliches Gebot und menschliche GesetzeVersion 2018-3

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