Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Recht und Unrecht

Beitrag 1: Der Ursprung des Rechts (Bodo Fiebig17. März 2018)

Schon seit Jahrtausenden und erst recht heute im 21. Jahrhundert leben die meisten Menschen die meiste Zeit ihres Lebens nicht mehr in Naturzusammenhängen, sondern in kulturell gestalteten Lebensräumen und Abläufen. Wir leben nicht mehr als Jäger und Sammler in einer unberührten natürlichen Umwelt. Das mag mancher in einer Stimmungslage romantischer Naturverklärung bedauern. Meistens jedoch wird man das begrüßen, spätestens dann, wenn man im Supermarkt in einer halben Stunde das „erjagt“ hat, was man in der Natur auch auf tagelangen und gefährlichen Streifzügen nicht bekommen hätte.

1 richtig oder falsch?

Freilich bringt diese Bequemlichkeit beim Erwerb des Lebensnotwendigen auch neue Unsicherheiten: Für das Leben und Arbeiten in modernen Umgebungen haben wir keine natürlichen Verhaltensmuster (z. B. für das Verhalten und die Kommunikation in der Chefetage einer Großbank, in der Intensivstation eines Krankenhaus oder in der Werkstatt einer Autofirma, ebenso wie für das angemessene Benehmen als Gast bei einer Geburtstagsparty, als Gemeindeglied in einem katholischen Gottesdienst oder als Mittelstürmer einer nationalen Fußballmannschaft). Für solche kulturbedingten Lebenslagen haben Menschen keine instinktgesteuerten Reaktionen und Handlungsschemata. Wir brauchen aber auch dort Vorgaben und Normen für ein „passendes” Verhalten. Was ist „richtig“ und was ist „falsch“? Was ist „recht“ und was ist „unrecht“? Was ist „gut“ und was ist „böse“? Wir brauchen Verhaltensmuster, Regeln, Ordnungen, die nicht immer als geschriebene Gesetze festgelegt sein müssen, aber doch allgemein anerkannt und akzeptiert sind. Die Rechtsordnungen einer Gemeinschaft ersetzen in vielen Lebensbereichen die fehlende Instinktausstattung des Menschen für sein Leben in einer weitgehend von historisch gewachsenen und kulturell bedingten Traditionen und Konventionen bestimmten Umwelt.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, für das die Begriffe „Recht“ und „Unrecht“ eine Bedeutung haben. Manche Tiere können, jenseits ihrer instinktiven Verhaltensmuster lernen, wie sie durch bestimmte Vorgehensweisen leichter an Beute und Futter kommen oder wie sie durch Vermeidungsverhalten oder Flucht unangenehmen Erfahrungen aus dem Weg gehen können. Mit einer Einsicht in Recht oder Unrecht hat das aber nichts zu tun. Im Gegensatz dazu ist das Leben von Menschen in menschlicher Gemeinschaft weitgehend von Normen bestimmt, die vorgeben, welches Verhalten als richtig oder falsch, recht oder unrecht, gut oder böse angesehen wird.

Rechtssatzungen werden in einer Gemeinschaft in der Regel dann entwickelt, wenn es notwendig erscheint, das Verhalten ihrer Mitglieder in eine gewünschte Richtung zu lenken: Dieses sollt du tun, jenes darfst du nicht tun. Das geschriebene oder ungeschriebene Recht soll (ganz allgemein gesprochen) das „Gute“ (also das in der Gemeinschaft erwünschte Verhalten) ermöglichen und das „Böse“ (also ein unerwünschtes Verhalten) verhindern, dazu ist es da.

Eine Gemeinschaft von Menschen definiert sich zu einem guten Teil durch die Rechte und Normen, die in ihr gelten. Aber woher kommen solche Regeln, Ordnungen und Verhaltensmuster? Wer will uns vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben und wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten sollen?

Woher kommt das Recht? Ist es etwas, das in der „Natur“ der Menschen „schon immer“ angelegt und grundgelegt ist? Oder ist es etwas, das in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte allmählich entwickelt wurde? Oder ist es etwas, das in seinen Grundzügen von den Göttern der verschiedenen Religionen für alle Zeit festgelegt wurde? Wir werden sehen, dass alle drei genannten Grundannahmen den Sachverhalt nicht wirklich ausreichend und treffend beschreiben.

Zunächst aber sollen hier einige Begriffe geklärt werden, um zu verdeutlichen, wie sie hier in dieser Darstellung verwendet werden.

2 Begriffsklärungen

Die Begriffspaare „richtig und falsch“, „recht und unrecht”, „gut und böse” sind ganz eng miteinander verwandt, und doch sprechen sie verschiedene Aspekte eines gemeinsamen Themas an. Deshalb müssen wir genauer hinschauen, um zu erkennen, worum es da jeweils geht. Versuchen wir zunächst eine Unterscheidung:

Die Frage nach richtig oder falsch orientiert sich vor allem an sachlichen Anforderungen: Richtig heißt zunächst einmal „sachlich angemessen“. Ein Wort ist richtig geschrieben, eine Rechenaufgabe richtig gelöst, jemand hat sich in einer bestimmten Situation „richtig“, also entsprechend der allgemeinen Erwartungen verhalten. Die Begriffe „richtig“, und „falsch“ gehen davon aus, dass schon bekannt ist, welches Verhalten und welche Handlungsweise in einer bestimmten Situation angemessen und allgemein erwünscht ist.

Die Frage nach recht oder unrecht orientiert sich daran, ob ein bestimmtes Handeln mit vorgegebenen Rechtssatzungen übereinstimmt: Recht ist, was den geltenden Normen entspricht, unrecht ist, was ihnen widerspricht. Die Begriffe „recht“ und „unrecht“ setzen voraus, dass es allgemein anerkannte Rechtsnormen schon gibt.

Eine Ausrichtung an den Begriffen „gut und böse“ dagegen setzt eine Ebene tiefer an (siehe das Thema „gut und böse“). Sie fragt nicht nur, ob ein Handeln den sachlichen Anforderungen und vorgegebenen Normen entspricht, sondern sie fragt auch nach den Motiven und Auswirkungen des Handelns. Was tut jemand und warum tut er/sie das? Und wie wirkt sich dieses Tun aus? Handelt jemand aus rein egoistischen oder gar boshaften Motiven oder will er auch für andere etwas Gutes erreichen (selbst wenn er in einer konkreten Situation daran scheitern sollte)? Die Frage nach gut und böse zielt auf eine persönliche ethische Verantwortung des Handelns.

Die Vorstellungen von „gut“ und „böse“ müssen schon vorhanden sein, bevor man Regeln und Gesetze formulieren kann, durch die man diesen Vorstellungen Geltung verschaffen will. Die Frage nach gut und böse ist der Frage nach richtig oder falsch, recht oder unrecht vor- und übergeordnet. So kann es z. B. in einer bestimmten Ausnahmesituation „gut” sein, gegen eine geltende Norm zu verstoßen, wenn damit einem Menschen oder einer Gemeinschaft aus einer existenziellen Not geholfen werden kann, einer Not, die bei der Formulierung dieser Norm vielleicht noch gar nicht im Blickfeld war, ebenso, wie es richtig sein kann, ein Handeln zu verhindern, das großen Schaden anrichten könnte, auch wenn es gegenwärtig noch kein Gesetz gibt, das solches Handeln ausdrücklich verbietet.

Das geltende Recht ist so so etwas wie die nachträglich ausformulierte Anweisung, wie in einer bestimmten Gruppe und in einer bestimmten historischen Situation die dort vorherrschenden Vorstellungen davon, was gut und was böse sei, durchgesetzt werden sollen. Man braucht also eine „Erkenntnis von gut und böse”, um so etwas wierichtig oder falsch, recht oder unrecht” überhaupt formulieren und festlegen zu können (das wird in einem späteren Zusammenhang diese Beitrags noch eine besondere Bedeutung bekommen; siehe auch das Thema „gut und böse“).

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3 Der Baum der Erkenntnis

Wenden wir uns zunächst der Frage zu, wie die Grundlagen des Rechts entstanden sind, wie sich die Einstellungen von Menschen herausgebildet haben, wie sie dazu kamen, bestimmte Verhaltensweisen als „gut“ zu bejahen und andere als „böse“ zurückzuweisen. Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, aber vielleicht kann uns bei dieser Frage eine uralte Erzählung aus den frühesten Schichten der Menschheits-Überlieferung weiterhelfen.

In der jüdisch-christlichen Bibel gibt es, schon auf den ersten Seiten, eine seltsame Geschichte, die von zwei Bäumen in einem Garten handelt: Die Geschichte von „Baum des Lebens” und vom „Baum der Erkenntnis von gut und böse” (1. Mose 2, 9ff). Diese Geschichte hat eine Vor-Geschichte, die hier nur kurz angedeutet werden kann. (Siehe dazu auch die Themen „Schöpfungsglaube und modernes Weltbild“ und „Adam, wer bist du?“).

Diese Vor-Geschichte beginnt mit einem einzigen Menschen. Der Name des Menschen ist Adam. Das kommt von (hebräisch) adom, rot. Das Wort adom, rot, stammt von dem Wort dam ab; dam heißt Blut. Adom, rot, ist die Farbe des Blutes dam (die Vokale werden im Hebräischen nicht geschrieben, ein a oder o im gesprochenen Wort macht also oft keinen Unterschied). Adam ist eigentlich kein Eigenname, sondern heißt einfach „Mensch“. Adam, der Mensch, ist der Lebendige, Blutdurchpulste und manchmal Heißblütige, der leicht auch mal rot (adom) sehen kann.

Der Boden, aus dem die beiden Bäume unserer Geschichte herauswachsen, heißt hebräisch (der Sprache der Bibel im AT) Adamah. Adamah ist der Acker, der Nährboden, aus dem alles Leben herauswächst. Auch das Menschsein (Adam) wächst aus der Adamah, der Erde. Im ersten Buch Mose, Kapitel 3, Vers 19 heißt es: Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Und wir wissen heute, das stimmt: Der Mensch besteht seiner Materie nach aus den gleichen Atomen und Molekülen wie die ganze Natur und alles Leben; da ist er gar nichts Besonderes.

Aber zugleich ist auch das Menschsein, Adam, selbst so ein Nährboden, eine Adamah, aus der vieles herauswächst, Gutes und Böses. Auch der Baum der Erkenntnis von gut und böse wächst aus der Adamah des Menschseins. Das ist keine blumige Redeweise, sondern ganz real und konkret gemeint. Die „Erkenntnis von gut und böse” ist nicht naturgegeben immer schon da, sondern sie wächst nach und nach im Lebensraum des Menschseins. Es geht um die Regeln des Zusammenlebens von Menschen. Regeln des Zusammenlebens gibt es auch bei Tieren. Ein Ameisenstaat oder ein Wolfsrudel sind sehr komplexe und streng geordnete Sozialsysteme. Ihre Handlungsimpulse sind aber in der Instinktausstattung der jeweiligen Art weitgehend festgelegt. Die Regeln des Zusammenlebens von Menschen hingegen wachsen aus dem Nährboden des Menschseins und seiner Geschichte.

Dabei nehmen wir wahr: Die Erkenntnis von gut und böse ist nach der Bibel nicht etwas Verwerfliches, kein „Sündenfall“, sondern notwendige Voraussetzung dafür, dass so etwas wie „Menschlichkeit” überhaupt entwickelt werden kann. Wie dann trotzdem aus der Geschichte von dem „Baum der Erkenntnis“ eine Versuchungsgeschichte werden konnte, davon kann hier nicht die Rede sein (siehe die Themen „gut und böse“ und „Adam, wer bist du?“, dort werden die Zusammenhänge eingehender erklärt). Und Gott selbst hatte sie (diese Erkenntnis) „aus dem Boden (aus der Adamah der Menschheitsgeschichte) wachsen lassen“ (1. Mose 2,9): Und es ließ JaHWeH, Gott, aus dem Boden wachsen jeden Baum, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.

Wir können mit Gewissheit davon ausgehen, dass auch diese beiden besonderen „Bäume“ zur guten und hilfreichen Ausstattung des Gartens „Eden” gehören. Gott selbst hatte sie „aus dem Boden wachsen lassen“. Diese positive Deutung liegt beim „Baum des Lebens“ nahe, aber wir werden sehen: Auch der Baum der Erkenntnis von gut und böse ist nicht in erster Linie zur Versuchung da, sondern zur Hilfe für Adam und seine Nachkommen zu einem gottgewollten Menschsein. Adam soll leben und er soll erkennen, was gut und böse ist.

Zunächst aber (und damit kehren wir zur biblischen Erzählung von den beiden Bäumen zurück): Welche Realität, welcher „Schöpfungsakt Gottes“ steht hinter den biblischen Bildern von den beiden Bäumen im Garten Eden?

Eigentlich ist das ganz einfach zu verstehen: Der Baum ist immer ein Sinnbild für etwas, was aus einer gemeinsamen Wurzel wächst, das eine gemeinsame Ab-Stamm-ung hat. Beim „Baum des Lebens“ ist uns dieses Bild geläufig: Von der ersten Ur-Zelle an hat sich das Leben immer mehr verzweigt und verästelt, bis hin zu der millionenfachen Vielfalt der Arten und Formen, die wir heute kennen. Der „Stammbaum des Lebens“ und seine Entfaltung sind zwar noch nicht in allen Einzelheiten erforscht, aber doch in seinen grundlegenden Entwicklungen erkennbar. Dieser „Baum des Lebens“ war zu der Zeit, als es den frühen Menschen gab, schon voll entfaltet. Der Mensch war ja, wie die Bibel sagt und die Naturwissenschaft bestätigt, der letzte Zweig an diesem Stamm.

Beim „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ ist uns dieses Bild nicht so vertraut und wir müssen uns diese Sichtweise vom Baum als Symbol für Abstammung, Verzweigung und Entfaltung erst schrittweise erschließen: Gott selbst hatte einen Garten gepflanzt und in diesem Garten den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Gott selbst hat also diese Erkenntnis im „Garten des Menschseins“ entstehen und wachsen lassen. Aber wie können wir uns diesen Vorgang konkret vorstellen? Vielleicht ist das einfacher als gedacht. Es handelt sich ja hier nicht um irgendwelche mythologischen Deutungsversuche, sondern um ganz reale und „irdische“ Entwicklungen im Sozialgefüge menschlicher Gemeinschaft.

Stellen wir uns frühe Formen menschlicher Gemeinschaft vor: Familien und Sippen, Horden von ein paar Dutzend Menschen, die die Wälder und Steppen auf der Suche nach jagbarem Getier und essbaren Pflanzen durchstreiften, immer in der Gefahr des Verhungerns, immer dem Wechsel von Witterung und Jahreszeiten ausgesetzt, immer im Kampf gegen körperlich überlegene Wildtiere und konkurrierende Menschen-Gruppen. Das Leben in einer so feindlichen Umwelt forderte alle ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten heraus. Nur durch kluge Einteilung der Kräfte und durch überlegene Strategien gemeinsamen Kampfes, bei dem jeder seine spezielle Rolle zu spielen hatte, konnte das Leben des ganzen Rudels gesichert werden. Dazu brauchten diese Lebens- und Jagdgemeinschaften aber Regeln, die ihr Miteinander so effektiv wie möglich ordneten. So entstanden, im Laufe von Jahrtausenden und jenseits der instinktgebundenen Verhaltensmuster, erste Rudelordnungen, die den einzelnen Mitgliedern bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen zuwiesen, an die sie sich zu halten hatten. Wenn sie sich daran hielten, wurde das von der ganzen Gemeinschaft als positiv, also „gut“ gewertet und belohnt (zum Beispiel bei der Zuteilung des Beute-Anteils), wenn nicht, galt das als schädlich für die Gemeinschaft, also als „böse“ und wurde bestraft.

Nehmen wir weiter an, einer der Jäger der oben genannten Gruppe hätte eines der Gruppenmitglieder beim Streit um die Jagdbeute erschlagen. Dessen Frau und Kinder sind nun schutzlos und unversorgt und weinen und klagen. Die Gruppe insgesamt hat einen erfahrenen Jäger und tapferen Kämpfer verloren und ist nun bei der Jagd und bei der Verteidigung gegen konkurrierende Gruppen deutlich geschwächt. Diese Folgen sind es, die der Tat und dem Täter die Bewertung „böse“ zuschreiben. Der Täter wird nun von den Verantwortlichen der Gruppe zur Rede gestellt, vielleicht auch bestraft. Wir sehen: Es ist nicht zuerst der abstrakte Rechts-Begriff von Tötung oder Mord, an dem sich die Beurteilung eines Verhaltens als „böse” festmacht, sondern an den Folgen für die eigene Gemeinschaft. In der gleichen Gruppe kann es dagegen durchaus als richtig und erwünscht gelten, einen Angehörigen einer anderen, konkurrierenden, als „feindlich” angesehenen Gruppe ohne aktuellen Anlass zu töten, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

Das heißt: Menschen machen Erfahrungen, wie sich bestimmte Verhaltensweisen in ihrer Gemeinschaft auswirken. Manche Verhaltensweisen haben zur Folge, dass sich die Lebensqualität und die Überlebenschancen der ganzen Gruppe (oder doch vieler ihrer Mitglieder) spürbar verbessern, andere bewirken, dass sie sich deutlich verschlechtern. Solche Erfahrungen, die Menschen seit Jahrtausenden immer wieder machen, und die sich deshalb immer wieder bestätigen und verstärken, die sind es, die unsere Einstellungen von gut und böse prägen. Wobei das jeweils als „gut” oder „böse” bezeichnete Verhalten im allgemeinen dadurch bestimmt wird, was in der jeweiligen Situation von den einflussreichsten Personen bzw. Gruppen der Gemeinschaft als erwünscht oder unerwünscht angesehen wird.

Ebenso wie nach und nach durch die Entwicklung von Einzellern, dann komplexeren Lebensformen und schließlich mit der Ausdifferenzierung im Pflanzen- und Tierreich eine Genealogie des Lebens entstanden war, so entstand nun im Miteinander von Menschen-Gruppen, von Stämmen und Völkern nach und nach eine „Genealogie“ der Ideen und Werte, eine „Enstehungs- und Abstammungsabfolge” der Vorstellungen von gut und böse, von Recht und Unrecht. Das mögen anfangs nur mündlich überlieferte Verhaltensregeln gewesen sein, die das Miteinander der frühen Menschen-Rudel bei der Jagd oder bei der Verteilung der Beute ordneten. Allmählich bildeten sich aber in den Sippen und Stämmen ganze Systeme von ungeschriebenen – und später auch geschriebenen – Ordnungen und Gesetzen aus, die immer engmaschiger festlegten, welches Verhalten erlaubt oder erwünscht (und damit „gut“) wäre und welches Verhalten unerwünscht, verboten (und deshalb „böse“) sei. Diese Ordnungen und Gesetze machten (und machen auch heute noch) einen wesentlichen Bestandteil dessen aus, was wir die „Kultur“ einer Gemeinschaft nennen. Der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ wuchs von Generation zu Generation, und im biblischen Bericht vom Garten Eden symbolisiert er die „Genealogie der Werte“, die sich bis dahin schon herausgebildet hatte. Wir müssen uns das bewusst machen: Jede Rechtsordnung und Rechtsprechung ist noch heute eine Frucht von diesem Baum. Ohne Erkenntnis von gut und böse ist das Erkennen von Recht und Unrecht, ist damit auch menschliche Gemeinschaft auf Dauer nicht möglich. Gott selbst hatte dafür gesorgt, dass sie wachsen und sich verzweigen und zu einem starken „Baum“ werden konnte.

Die Parallelität der Bilder ist einleuchtend: So wie der „Baum des Lebens“ die bis dahin gewachsene Abstammung und Verzweigung der Lebensformen symbolisiert, so ist der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ das Symbol für die Abstammung und Verzweigung der bis dahin entwickelten Verhaltensregeln und Werteordnungen.

Eine solche Entwicklung hat jedoch weitreichende Folgen: Wenn der Mensch die Fähigkeit hat, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden, ist er auch gezwungen, sich zu entscheiden. Ein Tier kann nicht „böse“ sein, auch wenn die Katze die Maus jagt und frisst, es folgt ja nur seinen instinktgebundenen Verhaltensmustern. Der Mensch aber, dem die „Erkenntnis von gut und böse“ zugewachsen ist, der kann nicht mehr unbefangen und triebgesteuert leben und handeln. Wenn jemand erkennt, dass eine bestimmte Handlung „böse“ ist, und der sie trotzdem tut (obwohl er die Wahl hätte, es nicht zu tun), dann hat er sich für das Böse entschieden und ist für diese Entscheidung verantwortlich, auch wenn er diese Verantwortung weit von sich wegzuschieben versucht.

Das Menschsein unterscheidet sich von jedem anderen Dasein dadurch, dass es inmitten einer ethisch blinden Natur ein ethisch verantwortetes Dasein verwirklichen soll – und kann. Mitten in einer instinktgesteuerten und ethisch blinden Tier- und Pflanzenwelt gestaltete der Schöpfer ein Lebewesen, das in der Lage sein kann, gut und böse zu unterscheiden. Von diesem ersten Keim der Erkenntnis des Guten aus und dem Willen, dieses Gute auch zu tun, soll sich eine Ethik der Mitmenschlichkeit herausbilden, sich ausweiten und schließlich alles Menschsein erfassen und durchläutern. Die ethische Unterscheidungsfähigkeit und dazu auch die tatsächliche Entscheidung für das Gute und gegen das Böse, das ist es, was das Menschsein des Menschen ausmacht, nicht seine intellektuelle oder technische Überlegenheit gegenüber anderen Lebewesen.

Wobei uns bewusst sein muss: Das Böse (unter den Menschen) geschieht oft „von allein“, es entspricht ja in vielem den natürlichen Verhaltensweisen eines Lebewesens, das von gut und böse nichts weiß. Das Gute muss man erkennen und wollen. Ethisch bewusste Einstellungen und Verhaltensweisen sind immer bedroht und gefährdet. So wie sich das Leben in einer lebensfeindlichen Natur mühsam seine Lebensräume erobern muss, so muss sich das Gute in einer ethisch blinden Umwelt und in einer von egoistischen Trieben beherrschten Menschheit mühsam, Schritt für Schritt, Handlungsräume des Miteinander und Füreinander erobern (siehe das Thema „Friede auf Erden?„).

4 Naturrecht und Gewissen

Gibt es so etwas wie ein „natürliches Rechtsempfinden”, das unabhängig von allen kulturellen Gegebenheiten und Entwicklungen allen Menschen angeboren ist? Manchmal scheint es so: Auch kleine Kinder, die noch gar keine bewusste Vorstellung von „Recht” und „Unrecht” haben können, wehren sich heftig, wenn ein anderes Kind bei der Verteilung von Süßigkeiten bevorzugt wird. Und manche Kleinkinder geben manchmal sogar einem anderen Kind freiwillig etwas ab, wenn sie sehen, dass dieses benachteiligt wurde. Ist das schon der Beweis für ein grundlegendes und allen Menschen angeborenes „Naturrecht”, das schon vor aller kulturellen Entwicklung immer schon vorgegeben ist? Sicher nicht. Kleine Kinder haben noch kein „Rechtsverständnis”, aber sie haben schon Erfahrungen gemacht. Z. B. die Erfahrung, dass Erwachsene (Mama, Papa, Oma, Opa …) darauf achten, dass, wenn mehrere Kinder da sind, alle die gleiche Zuwendung bekommen. Das bewirkt bei ihnen noch keine formulierbare Rechtsauffassung (z. B. „alle Kinder haben das Recht auf gleiche Mengen von Süßigkeiten”), aber doch ein deutliches Unbehagen, wenn nun entgegen allen bisherigen Erfahrungen ein Ungleichgewicht entsteht, das sie selbst benachteiligt (oder vielleicht auch einanders Kind).

Die gleichen Kleinkinder sind aber bereit, Ungleichheiten zu akzeptieren, wenn sie vom Anfang ihrer eigenen Erfahrungsmöglichkeiten an „immer schon” da waren und entsprechend gehandhabt und begründet wurden. Die Kinder von Knechten und Mägden im Haushalt eines Adeligen im 16. Jahrhundert (und erst recht die Kinder der Adeligen selbst) die hatten kein Empfinden von Unrecht, wenn sie sahen, dass die Kinder der „Herrenfamilie” im prächtigen Schloss wohnten und sie selbst im kleinen, engen Gesindehaus, dass die adeligen Kinder vieles hatten und durften, von dem sie nicht einmal zu träumen wagten. Die Kinder hatten gelernt: Es war schon immer so und alle Erwachsenen verhielten sich so und redeten so, dass die Kinder immer wieder bestätigt fanden: „Ja, das ist so und es ist richtig so”. Solche anhand von Erfahrungen „erlernten” Rechtsauffassungen gibt es selbstverständlich in gleicher Weise auch im 21. Jahrhundert und selbstverständlich (und da noch viel mehr und viel differenzierter) auch bei Erwachsenen.

Gibt es vielleicht so etwas wie einen „doppelten Ursprung des Rechts”? Also kultur- und zeitbedingte Vereinbarungen und Rechtssatzungen für alle menschengemachten Verhältnisse und Vorgänge und daneben und über allem ein schon immer vorgegebenes „Naturrecht” für alle grundlegenden zwischenmenschlichen Beziehungen?

Gibt es nicht in allen Menschen aus allen Kulturen grundlegende Rechtsvorstellungen, eine kulturunabhängige Innensteuerung des Verhaltens, ein voraussetzungsloses „Wissen“ um gut und böse, das wir das „Gewissen“ nennen? Auch gegenüber dieser Frage ist Skepsis angebracht. Wir stellen in den verschiedensten Kulturen und Subkulturen fest, dass Handlungen, die gegenüber Mitgliedern der eigenen Gruppe verboten sind und bestraft werden, gegenüber „den anderen“, vor allem gegenüber jenen, die man als Fremde, Andersartige oder gar Feinde ansieht, erlaubt, manchmal sogar erwünscht sind und gefordert werden. Dabei spielt nicht nur die jeweilige aktuelle Situation eine Rolle, sondern oft schon sehr alte Traditionen und Gewohnheiten. Das „Gewissen“ kann offensichtlich je nach Situation sehr verschiedene Handlungsweisen als „gewissenhaft“ oder „gewissenlos“ einordnen.

Kein „Gewissen“ hat jemals die Henkersknechte der Diktatoren daran gehindert, unvorstellbare Grausamkeiten zu begehen. Sogar die Massenmörder des Holocaust im Hitler-Deutschland hatten ein „gutes Gewissen“ bei ihren Untaten. Hermann Göring, der „zweite Mann“ hinter dem „Führer“ Adolf Hitler, drückte es einmal so aus: „Ich habe kein Gewissen! Mein Gewissen heißt Adolf Hitler” (siehe das Thema „Hitlers Kampf“). Freilich ist das sehr verkürzt und sehr egozentrisch formuliert. Unser „Gewissen“ hat normalerweise Anteile, die sehr weit in die Geschichte der Menschheitserfahrungen zurückreichen.

Das, was wir „Gewissen“ nennen, ist die jeweils individuelle Ausformung (innerhalb einer kulturbedingten und zeitgeschichtlichen Gesamtsituation) des kollektiven ethischen Unterbewusstseins der Menschheit. Dieses „ethische Unterbewusstsein“ speist sich aus den Erfahrungen der Völker und Generationen, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die ethischen Grundsätze, Entscheidungen und Handlungen von Milliarden Menschen in verschiedenen Kulturen durch die Jahrtausende geprägt haben. Dieses „Gewissen” konkretisiert sich immer wieder neu in der aktuellen Deutung der Erfahrungen innerhalb einer bestimmten historischen Situation mit je besonderen weltanschaulichen und religiösen Begründungen.

Wir sehen: Die Frage nach einer „naturgegebenen” Grundlage für unser Verständnis von „gut und böse” muss verneint werden. Auch die Vorstellungen davon, welche Verhaltensweisen und Motive in einer Gemeinschaft als „gut“ akzeptiert oder als „böse“ abgelehnt werden sollen, stecken nicht schon in unseren Genen. Sie fallen auch nicht einfach vom Himmel; auch sie beruhen auf Erfahrungen.

Nein, es gibt kein „Naturrecht“, das die Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Prägung an bestimmte Normen binden könnte. Vielmehr finden wir in allen Kulturen Normen, die den Dazugehörenden gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe bestimmte Rücksichten, ja auch Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft abfordern, die aber gleichzeitig gegenüber den „Außenstehenden“ Handlungsweisen erlauben und gut heißen, die auch vor Aggression, Ausbeutung, Raub, Gewalt und Mord nicht zurückschrecken. Das Recht (das in Menschen-Gemeinschaften, z. B. Völkern, gilt) ist im allgemeinen wir-bezogen und interessengeleitet. Die Frage ist nur, ob das immer so sein muss. Im folgenden Beitrag „Göttliches Gebot und menschliche Gesetze“ soll dieser Frage noch weiter nachgegangen werden.

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Bodo Fiebig Der Ursprung des RechtsVersion 2018-1

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