In den vergangenen Jahrtausenden haben die Völker und Kulturen der Erde eine faszinierende Vielfalt von Lebensweisen, Gemeinschaftsformen, künstlerischen Ausdrucksweisen, religiöser Hingabe …, hervorgebracht. In unserer Gegenwart könnten sie innerhalb weniger Jahre für immer verschwinden. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass im Zuge der Globalisierung vieles vom kulturellen Erbe der Menschheit unwiederbringlich verloren gehen wird.
Droht uns in Folge der Globalisierung eine Reduzierung unserer Person und Identität auf das Niveau eines Facebook-Accounts? Droht uns eine Entkernung und Einebnung der Kulturen, bis nur noch eine kitschige Schau für Touristen übrigbleibt? Droht uns eine weltanschauliche Vereinnahmung, bis wir die Untaten der Mächtigen für Wohltaten halten? Droht uns eine religiöse Verflachung bis zur totalen Kommerzialisierung aller geistlichen Inhalte, wie es seit Jahren z. B. beim christlichen Weihnachtsfest geschieht?
Im Abschnitt „Nationalstaaten für eine globale Gesellschaft?“ im Beitrag „Globale Gesellschaft und staatliche Verfassung“, wird gefragt, ob eine globale Gesellschaft noch eine einzelstaatliche Verfasstheit braucht, und es wird begründet, warum Nationalstaaten in einer immer weitergehend globalisierten Gesellschaft eher störend als hilfreich sind.
Die Infragestellung nationalstaatlicher Abgrenzungen bedeutet allerdings nicht, dass die gängigen Utopien von einem „Welt-Einheits-Staat” mit einer zentralen Weltregierung (deren Übermacht sich alle regionalen Mächte unterzuordnen hätten) die bessere Alternative wäre, auch nicht, dass eine Art „liberalistische Welt-Markt-Anarchie” erstrebenswert sei, die mit wenigen „Spielregeln” in einem angeblich „globalen freien Markt”, den rücksichtslosesten der „Global Player” erlaubt, das Geschehen zu bestimmen. Eine regionale Strukturierung mit regionalen Zuständigkeiten ist auch in einer globalen Gesellschaft richtig und notwendig (siehe Abschnitt „Struktur ohne Grenzen“ im Beitrag „Globale Gesellschaft und staatliche Verfassung“). Die Frage ist nur, ob die sich auch in Zukunft noch auf „Nationen” und deren nach außen abgegrenzten Staaten beziehen müssen. Fast alle heute gültigen nationalen Grenzen sind Ergebnisse von Kriegen und Bürgerkriegen, von Eroberungen und Kolonialisierung, zusammengefasst ausgedrückt: Ergebnisse von Gewaltakten.
Was aber könnte an die Stelle der heutigen Nationalstaaten treten? Welche Organisationsform von Gemeinschaft ist dem Menschsein angemessen? Sehen wir auf die Grundlagen menschlichen Miteinanders: Jeder dem Kleinkindalter entwachsene Mensch hat und braucht ein „Selbst-Bewusstsein”, eine „Ich-Identität”, durch die er sich seiner eigenen Existenz bewusst wird als unterscheidbar von allen anderen (siehe das Thema „wer bin ich?“). Jeder Mensch hat und braucht zugleich auch ein „Wir-Bewusstsein”, eine Wir-Identität, die aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Wir-Gemeinschaften kommt und ohne die er nicht als soziales Wesen in sozialen Beziehungen leben und handeln kann.
Das bedeutet: Eine globale Gesellschaft braucht keine nationalen Grenzen, die „uns” von „den anderen” trennt, sie braucht aber Lebensräume und Entfaltungsmöglichkeiten für historisch gewachsene Kulturen und Identitäten, durch die Einzelne sich von den jeweils anderen unterscheiden können, ohne sich von diesen anderen zu trennen und durch die auch verschiedene Gruppen eine gemeinsame Identität entwickeln können, ohne Distanz oder gar Feindschaft gegenüber den „anderen“. Die oben genannten menschlichen Grundbedürfnisse „Ich-Identität” und „Wir-Identität” müssen auch (und erst recht) in einer globalen Gesellschaft eine angemessene Erfüllung finden.
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1 Identität durch Zugehörigkeit
Menschen können nicht für sich allein ein „Selbstbewusstsein“, das heißt, ein Bewusstsein der eigenen Identität und Besonderheit entwickeln. Sie brauchen dazu die Rückmeldung von außen in Situationen der Zuwendung und Auseinandersetzung mit Menschen in der Nähe und in der Distanz. Ohne die Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen bliebe das eigene Selbstbild weitgehend konturlos und inhaltsleer. Das bedeutet: Erst recht in einer globalisierten Menschheitsgesellschaft braucht jeder Mensch auch Wir-Gemeinschaften im Nahbereich seiner Erfahrungswelt.
Die erste und natürliche Wir-Gemeinschaft jedes Menschen ist seine Familie. Durch sie ist (innerhalb einer erweiterten Verwandtschaft) eine grundlegende biologische, soziale, emotionale, geistige und historische Zugehörigkeit gegeben. In einer globalisierten Menschheitsgesellschaft muss (um der Lebensfähigkeit menschlicher Gemeinschaft willen!) die Familie als grundlegende soziale Einheit wieder neu und bewusst gestärkt werden. Sie bildet den Kern des sozialen Nahbereichs, dessen Interaktionen nicht durch irgendwelche technischen Geräte vermittelt werden, sondern auf direkter Begegnung und unmittelbarer Kommunikation beruhen. Wenn man den Zusammenhalt der Familien schwächt, indem man z. B. immer mehr Kompetenzen im Bereich der Erziehung auf öffentliche Institutionen verlagert, indem man (aus angeblich wirtschaftlichen Gründen) eine Mobilität fördert, die das Heimisch-Werden in stabilen Direkt-Beziehungen immer mehr erschwert, indem man die Rechtsgrundlagen der Ehe als Träger der Familie aushöhlt, dann zerstört man die wichtigste Grundlage, auf der eine globale Gesellschaft aufgebaut werden kann. Ohne diese Grundlage wäre die Auslieferung der dann vereinzelten Menschen an globale Mächte unausweichlich.
Dieser vertraute soziale Nahbereich wird sich im Laufe der Kindheit und Jugend ausweiten in ein Netzwerk persönlicher Beziehungen, das Freundschaften, Interessengruppen, Nachbarschaft usw. umfasst und eine Art „soziale Heimat“ bildet (auch wenn einige davon auf anderen Kontinenten wohnen sollten)
Diese persönliche soziale Bezugsrahmen wir noch erweitert durch ein Netzwerk selbstgewählter Zugehörigkeit (mein Verein, meine Partei, mein Arzt, mein Friseur, …) umfasst.
Dazu ergibt sich, meist ungewollt, aber notwendig, ein Netzwerk institutionalisierter Zugehörigkeit, (mein Kollegium, meine politische Gemeinde, meine Krankenkasse, meine Bank …)
Sehr viel weniger bewusst, aber doch in allen Phasen der persönlichen Entwicklung tief prägend ist der Einfluss der historisch gewachsenen Sprach-, und Kultur- und Volksgemeinschaft, (die sich jeweils im Nahbereich einer „Heimat“ mit regional geprägten Ausdrucksformen und Besonderheiten konkretisiert), in die ein Mensch hineingeboren wird und in der er aufwächst. Freilich hat er in späteren Jahren auch die Möglichkeit, sich von seiner Herkunftskultur bewusst zu distanzieren und sich einer anderen anzuschließen, das muss aber nicht notwendigerweise in totaler Distanzierung von den bisherigen Beziehungen geschehen.
Schließlich brauchen Menschen auch die Zugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Werte- oder Religions-Gemeinschaft, die ihre persönlichen inneren Sichtweisen und Haltungen durch überindividuelle Einstellungen und Werte stützt. Das mag manchmal eine sehr bewusste und entschiedene Zuordnung sein, oft eine eher unbewusste und kaum reflektierte. Trotzdem ist sie wichtig für die Sinnorientierung der eigenen Existenz. Solche Zuordnungen sind in der Regel kultur-historisch entstanden, kultur-geografisch orientiert (z. B. die sogenannten „westliche Wertegemeinschaft“ oder die „östlichen Religionen und Philosophien“ usw.), können sich aber auch in verschiedenen Regionen und Kontinenten der Erde, in verschieden Sprach- und Kultur-Gemeinschaften (vor allem in den Großstädten) nebeneinander, manchmal sogar miteinander verwirklichen.
Identität durch Zugehörigkeit: Eine globale Gesellschaft braucht dingender als je den Schutz und die Erhaltung der sprachlichen, kulturellen, religiös-weltanschaulichen und ethnischen Identitäten seiner Volksgruppen, besonders auch seiner Minderheiten. Eine dem Menschsein gemäße Lebensweise ist, besonders bei zunehmender Globalisierung, nicht möglich ohne eine lokal und regional verankerte, ethnisch geformte, kulturell gefüllte und religiös-weltanschaulich begründete „Ich-Identität“ und „Wir-Identität“. Ohne die wird der Mensch zur humanen „Massenware“, die darauf abgerichtet ist, immer mehr sachlich-materielle Massenwaren zu konstruieren, zu produzieren und zu konsumieren.
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2 Lokale Verankerung in einer globalen Gesellschaften
Eine globale Gesellschaft braucht keine nationalstaatliche Verfasstheit und keine trennenden politischen Grenzen, sie braucht aber regionale Strukturen, die sich sowohl an geografisch erkennbaren Landschaften als auch an historisch gewordenen Sprach- und Kultur-Gemeinschaften orientieren (siehe den Abschnitt „Struktur ohne Grenzen“ im Beitrag „Globale Gesellschaft und staatliche Verfassung“). Wobei es selbstverständlich ist, dass die sich vielfach überschneiden und geografisch nicht immer exakt festlegen lassen. Ein uns naheliegendes Beispiel: Die in Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte gewordene und gewachsene europäisch-deutschsprachige Sprach- und Kulturgemeinschaft (genau so wie die französisch-, italienisch-, polnischsprachige usw.) ist zwar mehrheitlich an einen bestimmten geografischen Raum gebunden, ist aber dort (vor allem in den Großstädten) vielfach durchsetzt von anderen Sprach- und Kulturgemeinschaften und sie setzt sich selbst in Gebieten fort, in denen eine andere sprachliche und kulturelle Zuordnung vorherrschend ist, z. B. in deutschsprachigen „Kulturinseln“ auf anderen Kontinenten.
Eine globale Gesellschaft braucht nicht mehr einzelstaatliche Strukturen, in denen jeder Nationalstaat eifersüchtig auf seine Eigenständigkeit pocht und jede Kritik an den innerstaatlichen Realitäten als (verbotene!) „Einmischung in die inneren Angelegenheiten” zurückweist (wobei der Begriff „innere Angelegenheiten” meist nur eine beschönigende Umschreibung für brutale Unterdrückung unliebsamer Minderheiten ist). Sie braucht aber Identität durch Zugehörigkeit und eine lokale Verankerung in einer globalen Gesellschaft.
Das Argument „Wenn eine kleine Machtelite oder ein alles bestimmender ´Führer´ das Sagen haben, dann können wir groß und stark werden und wenn wir groß und stark sind, können wir viele Völker und Regionen in unseren Machtbereich zwingen“, stammt aus den Denkgewohnheiten hierarchisch zugespitzter und auf Abgrenzung und Konkurrenz ausgerichteter Gesellschaften. Die aber sind in einer immer weitergehend globalisierten Welt überholt und angesichts der technischen Möglichkeiten moderner Kriegsführung geradezu selbstmörderisch für die ganze Menschheit.
Auch die von manchen Mächten der Gegenwart gewollte und geförderte ethnische und kulturelle „Durchmischung“ der Weltbevölkerung entspricht nicht dem Bedürfnis der Menschen nach Personalität und Identität. Sie wird zwar manchmal nach außen hin als notwendige und friedensfördernde Überwindung von trennenden Barrieren dargestellt (siehe das Thema „Europa und die Flüchtlingskrise“), in Wirklichkeit strebt sie – bewusst oder unbewusst – auf eine Vereinheitlichung, ja Uniformierung der Menschheit zu. Man möchte den überall gleich verfügbaren und überwachbaren „Einheitsmenschen“, der wirtschaftlich überall gleichermaßen nutzbar ist und der als Vereinzelter in der uniformen Masse den Machtansprüchen der Weltmächte keinen Widerstand entgegenzusetzen vermag. Solche Bestrebungen sind jedoch auf lange Sicht kulturzerstörend und menschenfeindlich. Nicht nur, weil die Kräfte, die diese „Durchmischung“ vorantreiben, machtpolitisch auf Hegemonie und wirtschaftlich und auf Gewinnmaximierung hin motiviert sind, sondern auch, weil deren bevorzugte Mittel Armut, Hunger, Gewalt und Krieg, Entwurzelung, Vertreibung und millionenfache Fluchtbewegungen sind. Dabei geht es aber nicht um Distanzierung von anders geprägten Kulturen, sondern um den den Erhalt und die Stärkung kultureller Vielfalt global und auch im Nahbereich der eigenen kulturellen Verankerung.
Eine geografisch, historisch und kulturell strukturierte und regionalisierte Weltgemeinschaft, die nicht durch eine Hierarchie der Macht, sondern durch die Kooperation ihrer Regionen und Kulturen verbunden ist, bietet ein menschenwürdiges Gesellschaftsmodell für eine globale Menschheitsgesellschaft. Diese kann jedoch nicht ohne gemeinsame geistige und ethische Grundlagen auskommen. Sie braucht als gemeinsames und einigendes Fundament globale Werte und Grundordnungen, die nicht im Detail das Leben und Zusammenleben der Menschen regeln, die aber gemeinsame und ethisch begründete Rahmenbedingungen für das Leben und Handeln vorgeben. Erst auf dieser gemeinsamen und alle gleichermaßen verpflichtenden Grundlage können dann auch Einzelheiten des täglichen Lebens mit Hilfe von regionalen Verwaltungsabläufen durch demokratisch gewählte Gremien ohne „Herrschaftsauftrag” geregelt werden. (Siehe den folgenden Beitrag „Ethische Grundlagen einer globalen Gesellschaft“.)
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Bodo Fiebig „Personalität und Identität in der globalen Gesellschaft“ Version 2018-1
© 2013, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
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