1 Die Perspektive
Wer Feindschaft schaffen will, muss zunächst Distanz schaffen. Dann erst kann die Dämonisierung der Fernen und Fremden und ihre zu Umdeutung zu „Feinden“ erfolgreich sein.
Als extremes Beispiel für „Distanzierung“ von eigentlich Nahen, und „Verfremdung“ von eigentlich Bekannten (in diesem Beispiel von Menschen im „Dritten Reich” unter den “Nazis“ in Deutschland 1933-1945) mit der Absicht, die Angesprochenen für ein unverhohlenes Programm der Vernichtung der „Fernen und Fremden“ zu gewinnen, möchte ich einen Ausschnitt aus einer Rede von Heinrich Himmler zitieren, einem der Hauptakteure des Holocaust im Nazi-Deutschland.
Er sagte am 4. Oktober 1943 vor SS-Führern in Posen: Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit ein ganz schweres Kapitel erwähnen (…) Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht: „Das jüdische Volk wird ausgerottet“, sagt ein jeder Parteigenosse, „ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.“ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn hundert Leichen beisammen liegen, wenn fünfhundert da liegen oder wenn tausend da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Das ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“
Hören wir genau hin, was dieser millionenfache Mörder hier ausspricht: Von den „braven 80 Millionen Deutschen“ seiner Zeit kennen die meisten nur einen oder wenige Juden persönlich. Und dieser eine Jude, den sie tatsächlich kennen, der ist „ein prima Jude“. Die vielen anderen Juden, die sie nicht persönlich kennen, das sind „Schweine“, die ausgerottet werden müssen, „klar, das steht ja auch im Parteiprogramm“. Nun kennt aber jeder der 80 Millionen Deutschen einen anderen Juden persönlich und jeder Jude in Deutschland wird von einem anderen Deutschen persönlich gekannt. Und das bedeutet im Endeffekt, dass (nach der Aussage Himmlers!) fast alle Juden in Deutschland „prima“ sind, und dass man das auch merkt, wenn man sie persönlich kennenlernt! Welch ein Zeugnis stellt hier der oberste SS-Führer ungewollt dem deutschen Judentum aus!
Wir sehen: Es braucht zur „Entmenschlichung des Menschseins“ die Perspektive einer großen emotionalen und/oder ideologischen Distanz, damit man von dort her „Menschen“ als „Feinde“ erkennen kann.
Deshalb ist es das erste Vorhaben jedes Machthabers und seiner Propaganda-Abteilung, wenn sie „Menschen“ zu „Feinden“ machen wollen (um sie dann anzugreifen und ausrauben zu können), eben eine solche Distanz herzustellen, und so möglichst jede Gelegenheiten einer persönlichen Begegnung von „Freund“ und „Feind“ auszuschließen. Und das gelingt am besten so, indem man diejenigen, die man als „die Feinde“ brandmarken will, als die absolut „Bösen“ so weit dämonisiert, dass die eigenen Anhänger (also die „Guten“) von sich aus jede Begegnung und Berührung mit diesen „Bösen“ vermeiden. Ein gegenwärtiges Beispiel: Schon lange vor dem Beginn des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine begann die russische Propaganda, die Regierung und alle nicht Russland-hörigen Menschen in der Ukraine als „Nazi-Bande“ zu dämonisieren, von denen man das ukrainische Volk und besonders die russisch-sprachige Minderheit im Osten „befreien“ müsse. Erst dann konnte der Einmarsch beginnen.
2 Der zweite Feind
Der große Feind des Friedens ist der (individuelle und kollektive) Gewinn-, Besitz-, und Macht-Egoismus, der sich in Selbstüberhöhung bei gleichzeitiger Herabwürdigung der jeweils „anderen“ konkretisiert. Ja, das stimmt, aber der Egoismus ist dabei nicht allein. Der zur Gewalttätigkeit neigende Egoismus hat bei seinem friedenzerstörenden Wirken noch eine ruhige und träge, aber mächtige Komplizin: Die große Gleichgültigkeit. Sie ist der zweite große Feind des Friedens. Und: Die beiden sind Zwillinge: Je mehr ein Mensch nur noch mit sich selbst beschäftigt ist, mit seinen eigenen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen, desto weniger interessiert er sich für die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche anderer – oder auch für deren Nöte und Leiden.
„Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ (Sie erinnern sich noch an diesen Werbespot?); die Werbeprofis wissen genau mit welchen Themen man das Interesse und den Konsum der meisten Menschen anheizen und lenken kann. Mit Themen wie „Verantwortung“, „Bescheidenheit“ oder „Nachhaltigkeit“ lässt sich nicht gut der Umsatz ankurbeln. Das gilt nicht nur im Bereich der Wirtschaft. Sogar bei politischen Wahlen haben die Politiker mit den Themen „Geld“ (Löhne und Renten), „Auto“ (keine Fahrverbote!) und „mehr Wohnungen“ (vor allem in Großstädten) wesentlich mehr Chancen auf Stimmengewinne als mit Themen wie „die Krise der Demokratie“, „Macht und Menschlichkeit“, „Bewältigung der Klima-Krise“ oder „die Herausforderung der persönlichen Freiheit“ (wobei Geld, Autos und Wohnungen ja nicht unwichtig sind, aber eben nicht allein wichtig). Wohlstand und Bequemlichkeit für alle (und vor allem für mich), das sind für viele die Maßstäbe für gute Politik und die Politiker, die auf die Wählerstimmen angewiesen sind, richten sich danach.
Dabei sind die meisten Menschen auf Themen wie „Verantwortung“, „Bescheidenheit“ und „Nachhaltigkeit“ durchaus ansprechbar, am ehesten aber dann, wenn sie etwas mit ihrem unmittelbaren Nahbereich zu tun haben. In dreierlei Weise:
Mit dem räumlichen Nahbereich. Wir sind von unserer natürlichen Veranlagung her auf das fixiert, was in unserer unmittelbaren Umgebung vor sich geht. Wie geht es den Mitgliedern meiner Familie, den Nachbarn, den Freunden? Wo bekomme ich Hilfe, wenn ich sie nötig habe und von woher könnte mir Gefahr drohen? Die Vorgänge im räumlichen Nahbereich betreffen mich direkt. Das ist verständlich, denn in den Jahrtausenden, in denen die menschlichen Instinkte und Verhaltensmuster herausgebildet wurden, war nur dieser Nahbereich von Bedeutung. Es gab noch keine Waffen, die weiter reichten als eine Speerwurfweite und kein Informationssystem, das weiter reichte als der Klang der Stimme oder einer Trommel. Und mit Menschen, die mehr als ein paar Kilometer entfernt wohnten, hatte man kaum jemals etwas zu tun. Nun aber leben wir (mit dieser Grundausstattung der besonderen Wahrnehmung für den Nahbereich) in einer Welt, in der die Nach-Wirkungen von Ereignissen und die Aus-Wirkungen von Handlungen globale Folgen haben: Die Abgase meines Autos sind Mit-Verursacher für das Abschmelzen des Grönlandeises. Mein Einkauf im Supermarkt hat Auswirkungen auf das Leben von Kleinbauern in Mittelamerika und die politischen Entwicklungen am Persischen Golf beeinflussen den Preis, den ich an der heimischen Tankstelle zu bezahlen habe … Das überfordert unsere Aufmerksamkeit und unser Verantwortungsgefühl.
Ähnlich ist es beim zeitlichen Nahbereich. Was gestern war, beschäftigt uns noch heute. Das war bei unseren Vorfahren in der Steinzeit nicht anders. Aber was vor einem Jahr geschehen ist oder vor 10 Jahren, das gehörte damals schon zum exklusiven Erfahrungsschatz derer, die diese Zeit bewusst miterlebt – und überlebt hatten. Was in der Vergangenheit über das Lebensalter der „Alten und Weisen“ von vielleicht 50 Jahren hinausging, war schon Mythologie, Erzählung der Alten am Lagerfeuer von fernen sagenhaften Zeiten. Ebenso eng war der zeitliche Nahbereich, der in die Zukunft reicht. Die Erfahrenen wussten: Wenn Scharen von Vögeln in Richtung der Mittagssonne ziehen, dann werden die Tage kürzer und dunkler, dann muss man Vorrat sammeln für den kalten, kargen Winter. Viel weiter als einen Jahreskreis oder höchstens ein Lebensalter in die Zukunft sehen zu wollen, wäre unsinnig gewesen, es hatte einfach keine Bedeutung. Wir aber leben in einer Zeit, wo wir ziemlich genau erkennen können, wie das Verhalten unserer Vorfahren vor Jahrhunderten unser Leben in der Gegenwart mitbestimmt und wo wir in etwa abschätzen können, welche Auswirkungen unser Lebensstil und unser Konsumverhalten noch in Jahrhunderten (z. B. beim Klimawandel) haben werden. Das überfordert unser Zeitempfinden und unsere Fähigkeit zur Zukunftsvorsorge.
Noch schwieriger abzustecken ist der dritte, der emotionale Nahbereich. Freude und Trauer, Mitgefühl und Mitleid, Wertschätzung und Ablehnung, Liebe und Hass … das Zusammenspiel solcher Emotionen spielt sich weitgehend in den direkten Beziehungen ab zwischen Menschen, die sich unmittelbar gegenüber stehen (oder die sich zumindest im Nahbereich persönlicher Begegnungen befinden). Aber: Was empfand der Bomberpilot, als er die Bombe über Hiroschima ausklinkte? Fühlte er etwas von dem hundertausendfachen Sterben, das er mit diesem einen Handgriff auslöste? Er hatte keinen der im Höllenfeuer der Bombe Sterbenden gekannt oder gar gehasst. Was empfindet ein Spezialist am Computer, der eine unbemannte ferngelenkte Rakete ins Ziel steuert? Und was empfindet er später, wenn er erfährt, dass diese eine Rakete nicht die Kommandozentrale der gegnerischen Streitkräfte traf, sondern eine Hochzeitsgesellschaft, die zufällig in der Nähe war? Und was wird ein Programmierer empfinden, der einer mit „künstlicher Intelligenz“ ausgestatteten Kampfdrohne eine friedliche Millionenstadt als „feindlich“ einprogrammiert?
Unsere emotionalen Fähigkeiten sind weitgehend auf einen engen Nahbereich ausgerichtet. Ein Kind, das neben uns hinfällt, sich das Knie aufschlägt und seinen Schmerz lauthals herausschreit, weckt das Mitleid auch eines sonst sehr abgestumpften Zeitgenossen. Aber ein Kind, das im Jemen zwischen den Bombenkratern seiner Stadt verletzt liegt und verblutet oder im Südsudan zwischen den Fronten des Bürgerkriegs verhungert (oder das jetzt aktuell in den Trümmern des zerstörten Mariupol zu überleben versucht?) Die große Gleichgültigkeit ist oft auch einfach eine Überforderung unserer emotionalen Kapazitäten.
Die Redakteure von Zeitungen und Fernsehnachrichten versuchen den Spagat zwischen weltweiter Information und persönlicher Nähe, indem sie die Nachrichten personalisieren und emotional auffüllen. Und das gelingt bei einzelnen dramatischen Ereignissen (wie einem tropischen Wirbelsturm mit seinen verheerenden Folgen) relativ gut. Aber kann das auch gelingen, wenn es z. B. um die verworrenen Zusammenhänge der Weltwirtschaft, der Umwelt- und Energiepolitik oder internationaler Abrüstungsbemühungen geht, oder um die Machenschaften globaler Datengiganten, um mögliche Folgen der Entwicklung von „künstlicher Intelligenz“ und um die destruktiven Eingriffe fremder Geheimdienste in die internen Abläufe von Demokratien? Wohl kaum. Dabei wissen wir: Die Folgen der gegenwärtigen Wirtschafts- und Energiepolitik oder das Scheitern internationaler Abrüstungsverträge und die Auswirkungen der Machenschaften globaler Datengiganten, die möglichen Folgen der Entwicklung „künstlicher Intelligenz“ und die destruktiven Eingriffe fremder Geheimdienste in die internen Abläufe von Demokratien, die werden unsere Zukunft viel stärker durcheinanderwirbeln und viel mehr Opfer fordern als der stärkste Hurrikan.
Wir müssen lernen, diese Erde (die ganze Erde, als den einzigen Lebensraum, den wir haben) als unseren räumlichen, zeitlichen und emotionalen Nahbereich zu verstehen und zu pflegen. Wenn das nicht gelingt, werden unser Egoismus und unsere Gleichgültigkeit den Boden auf dem wir stehen, in ein Höllenfeuer verwandeln. Aber wie soll das gehen, dass das Ferne uns so nahe kommt, dass es uns berührt und bewegt, dass etwas Fremdes uns so vertraut wird, dass es vertrauenswürdig erscheint? Man kann ja das Denken und Fühlen des Menschen nicht so einfach umprogrammieren. Es scheint alles so aussichtslos. Aber vielleicht gibt es doch Wege aus der selbstgemachten Misere (siehe die folgenden Beiträge „Den Frieden suchen“ und „dem Frieden dienen“). Hier, in diesem Beitrag, sollen nur noch zwei „Annäherungen an den fernen Nächsten“ versucht werden: „Die Fremdheitsschranke durchbrechen“ und „Die richtigen Geschichte erzählen“. Zunächst aber sollen noch zwei Aspekte des Phänomens „Nähe und Ferne“ dargestellt werden, die in unserer Gegenwart und Zukunft weitgehende Bedeutung haben: „Die Entführung aus der Wirklichkeit“ und „Die Operationalisierung des Glücks“.
3 Die Entführung aus der Wirklichkeit
„Was ist das eigentlich für ein Ding, was ich da in der Hand halte? Es verbindet mich mit der Welt, aber ich weiß nicht, ob die Welt, mit der es mich verbindet, überhaupt existiert. Sind die Orte und Ereignisse, von denen ich Texte und Bilder empfange, real oder nur elektronisch gesteuerte Phantasie? Ich bin verbunden mit mehr als 300 „Freunden“, aber sind das wirklich meine Freunde? Oder werden der „Freund“ oder die „Freundin“, denen ich etwas Vertrauliches zuschicke, mich morgen damit bloßstellen vor der Weltöffentlichkeit des Internet? Ich chatte mit einem Unbekannten irgendwo im Universum, aber ist der wirklich ein Junge aus Hannover, wie er mir schreibt, zwei Jahre älter als ich, Schüler der 8. Klasse im Gymnasium, der sich für mich und mein Leben interessiert, oder ist er vielleicht ein pädophiles Monster, das massenweise (möglichst freizügige) Bilder sammelt von Mädchen wie mich und sie dann an Gleichgesinnte verkauft? Wie passt die „virtuelle Wirklichkeit“ des Internet, in der ich mich immer länger aufhalte, mit meiner „realen Welt“ zusammen, in der ich mich oft so isoliert und unverstanden fühle? Wer bin ich wirklich? Herrin in meiner virtuellen Welt oder ahnungslose Konsumentin von Werbung, Beeinflussung und Irreführung? Ich bin 12 Jahre alt und ich weiß alles; für alles und jedes gibt es einen Suchbegriff und tausend Antworten, aber wer sagt mir die eine Wahrheit? Oder gibt es das gar nicht mehr: „Wahrheit“? Tausend Bilder, tausend Filme, tausend Songs, tausend „Freunde“, tausend „Tweets“, tausend Meinungen, tausend Wahrheiten … und ich – allein.“
Dieses fiktive Selbstgespräch eines jungen Menschen spiegelt ein Dilemma unserer Zeit: Die Frage „Was ist Wahrheit und was ist Wirklichkeit“ bleibt ohne Antwort. So entsteht ein großes Misstrauen gegenüber allem, was wahr und wirklich zu sein scheint. Aber: Wie lebt man in einer Welt, in der jede „Wahrheit“ auch eine Lüge sein könnte und jede „Wirklichkeit“ etwas Erfundenes?
Es mag provozierend klingen, aber es ist wahr: Die Rede von der „virtuellen Wirklichkeit“ ist eine der großen „Fake-News“ unserer Gegenwart, eine Welt- und Menschheits-Lüge im 21. Jahrhundert! Es gibt sie schlichtweg nicht, diese zweigeteilte Wirklichkeit aus „realer Welt“ und „virtueller Welt“. Alle Inhalte, die in der sogenannten „virtuellen Welt“ in Erscheinung treten, sind von realen Menschen in der realen Welt erdachte und gemachte Realitäten. Sie existieren nur auf einer anderen Ebene unserer Wirklichkeit (siehe den Beitrag „verschiedene „Wirklichkeiten“ zum Thema „Wirklichkeit und Wahrheit“). Auch die Bits und Bites einer Computer-Datei sind reale Gegebenheiten in unserer realen Welt, physikalisch fassbare Zustände auf der Festplatte, der CD, dem Stick … Sogar die Daten in der „Cloud“ sind nicht irgendwo in den Wolken, sondern ganz reale Inhalte auf großen Speichereinheiten in realen Rechenzentren, die reales Geld kosten und ungeheuer viel Energie fressen.
Heute werden die elektronischen Kommunikations-Geräte (z. B. Notebooks, Smartphones, Tabletts …) und zunehmend auch Geräte, die ursprünglich gar nicht zum Zweck einer Kommunikation gemacht sind (Autos, Kühlschränke, Heizung oder der „smarte Lautsprecher“ im Wohnzimmer des „smart home“, der per Sprachsteuerung das Licht anmacht oder die Rollläden herablässt) und die entsprechende Software mit riesigem technischen Aufwand und innovativer Intelligenz so gebaut, dass sie vor allem dem Gewinn und dem Machtzuwachs der großen IT-Welt-Konzerne dienen, nach dem Motto: Geld + Daten = Macht. Diese Wirklichkeit soll aber möglichst unsichtbar bleiben, um den Machtgewinn der Mächtigen nicht zu stören. Deshalb muss man die Menschen aus ihrer Realität entführen in eine „virtuelle Welt“ aus faszinierenden Spielen, verlockenden Schein-Aktivitäten, überzeugenden Schein-Informationen, erregenden Schein-Ereignissen (z. B. in Filmen), massenweisen Schein-Beziehungen usw. usw. … Smartphones (und die meisten anderen elektronischen Geräte) werden heute nicht so gebaut (und vor allem: so programmiert), dass sie optimal den Zwecken dienen, für die sie die Benutzer kaufen, sondern so, dass sie möglichst viele Daten über ihre Benutzer sammeln und an die Zentralen der Konzerne liefern. Und Daten sind die Zukunftswährung der Macht.
Dahinter stehen die gleichen Motive wie in England (und bei anderen europäische Mächten) als sie vor Jahrhunderten (zur Zeit der Kolonisierung der Welt durch europäische Mächte) begannen, die Welt zu erobern und zu unterwerfen.
Technik hat fast immer auch etwas mit Macht zu tun. Wer über die überlegene Technik verfügt, kann andere beherrschen. Das war schon in der Frühzeit technischer Entwicklung so, als die Bronze-Axt den steinernen Faustkeil ablöste oder das eiserne Schwert den bronzenen Dolch und wo die Verfügbarkeit der effektiveren (Kriegs-)Technik über Aufstieg oder Untergang ganzer Reiche entschied.
Der Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit (in Europa) wurde durch zwei technische Entwicklungen eingeleitet: dem Bau von hochseetüchtigen Schiffen mit verbesserten Navigationstechniken und dem Bau von immer besseren Kanonen und Gewehren. Mit Hilfe dieser beiden Techniken konnten europäische Mächte in den Jahrhunderten der Kolonisation die Kontinente der Erde erobern und unterwerfen (siehe das Thema „Globalisierung“). England z. B. wurde im 16. bis 19. Jahrhundert durch verbesserte Techniken des Schiffbaus und der Kanonen und durch die Erfindung der Dampfmaschine zur „Weltmacht“ und das Englische (die Sprache eines vergleichsweise kleinen europäischen Inselstaates, dessen Bewohner nur einen winzigen Bruchteil der Weltbevölkerung ausmachten), wurde zur „Weltsprache“. Letzteres gilt bis heute: Nur was in Englisch gesprochen, geschrieben und veröffentlicht ist, wird (in der internationalen Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft …) weltweit wahrgenommen. Gegenwärtig allerdings fürchten manche englischsprachigen Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Künstler … das Englische könnte bald vom Chinesischen abgelöst werden, weil der Druck des riesigen wirtschaftlichen Exports aus China auch einen chinesischen Kulturexport in Gang setzt und vorantreibt. Noch fehlt den Chinesen allerdings eine dem „Westen“ überlegene Technik.
Nun könnte man selbstverständlich dieses Spiel auch in Zukunft noch fortsetzen (und viele versuchen dies auch durch Einsatz riesiger Finanzmittel, wirtschaftlicher Macht und manchmal auch mit brutaler Waffengewalt): Der (wirtschaftlich und/oder militärisch) Stärkere bestimmt die Richtung und kann den Schwächeren seine Über-Macht und seine Kultur, Sprache und Lebensweise aufzwingen. Aber muss das wirklich sein? Muss es wirklich eine „Weltmacht“ geben und eine „Weltsprache“, die alle Bereiche internationalen Handels, vom Tourismus bis zum Bankensystem, von der Wissenschaft bis zur Politik usw. dominiert und alle anderen Sprachen zu unbedeutenden Regionalsprachen herabstuft?
Es wäre damals zur Zeit der Kolonialisierung der Kontinente möglich gewesen (ebenso wie es heute möglich ist), die vorhandene Technik so zu gestalten und einzusetzen, dass sie die Gleichrangigkeit aller Völker, aller Sprachen und Kulturen sichert und fördert. Solcher Verzicht auf Nutzung der Technik zum eigenen Machtzuwachs hätte damals Millionen von Menschen in den Kolonien (und später auch die Kolonialisten selbst) vor unsagbarem Leid bewahrt. Ebenso wie ein solcher Verzicht heute die Völker der Erde vor großem zukünftigen Leid bewahren könnte. Es wäre so einfach:
Die „Entführung aus der Wirklichkeit“ durch die digitalen Techniken ist nicht zwangsläufige Folge der technischen Entwicklungen im 21. Jahrhundert, sondern ist eine gewollte und gesteuerte Taktik im Kampf um Gewinne und Macht. Die heute vorhandene Technik könnte auch so verwendet und entsprechend optimiert werden, dass durch sie die Dominanz bestimmter Sprachen und Kulturen abgebaut und eine Verständigung „auf Augenhöhe“ für die Angehörigen aller Kulturen und Sprachzonen möglich und gefördert würde. Und das in einer „digitalen „und „analogen“ Welt mit echten Aktivitäten, echten und wahren Informationen, echten Ereignissen, echten Beziehungen … Man müsste es nur wollen.
Um solches echtes Leben und Zusammenleben einzuschränken und zu möglichst verhindern entwickelt man ein neues, großes Zukunftsprojekt: „Die Operationalisierung des Glücks“.
4 Die Operationalisierung des Glücks
(Siehe dazu auch das Thema „natürliche und künstliche Intelligenz“)
Mit „Operationalisierung“ meine ich hier einen Vorgang, durch den ein abstrakter Begriff wie „Glück“ so „handhabbar“ gemacht wird (in Arbeitsschritte, Messverfahren, Auswertungskriterien usw. zerlegt), dass man Verfahren entwickeln kann, mit denen man das, was man (in diesem Falle) mit „Glück“ meint, messen und gegebenenfalls verändern und vervollkommnen kann. (Unter „Glück“ verstehen die meisten Menschen eine Art „Hochgestimmtheit“ durch Befriedigung aller Bedürfnisse und Zufriedenheit mit den jeweils gegenwärtigen Zuständen, Vorgängen und Beziehungen.) Aber, kann man „Glück“ operationalisieren? Ja, man kann. Aus umfassenden Datensätzen von Millionen oder Milliarden von Menschen kann man mit Hilfe von künstlicher Intelligenz aus den bevorzugten Verhaltensweisen, Aktivitäten, Wünschen, Neigungen, Antrieben … ableiten, was Menschen jeweils um eine winzige Spur „glücklicher“ macht. Optimal kombiniert und jeweils auf ein bestimmtes Individuum passgenau zugeschnitten, kann dann so eine Anwendung (App) Menschen auf eine Lebensweise ständig optimierter Glückserfüllung hin trainieren.
„Na also, das wäre doch mal eine wirklich menschenfreundliche Anwendung von KI: Jeder Mensch ein glücklicher Mensch!“ Aber, haben wir das wahrgenommen? Hier trainieren ja nicht Menschen ihre Computersysteme für eine effektive Nutzung, sondern die Systeme trainieren „ihre Menschen“ für eine effektive Nutzung! Und haben wir nicht auch manchmal den Eindruck, dass die uns von den Daten-Giganten so freundlich zur Verfügung gestellten „Apps“ genau das beabsichtigen: Uns zu möglichst effektiven „Nutzern“ (d. h. zu möglichst umfassenden Datenlieferanden) zu trainieren (entsprechend der „Erfolgs-Formel des 21. Jahrhunderts“ Geld+Daten = Macht)? Und diese Vor-Gänge sind im vollen Gang. Wie unglücklich wären denn Millionen von „Usern“, wenn sie bestimmte Programme, vor allem im Bereich „social media“, nicht mehr kostenlos nutzen könnten? Nun stellen wir uns einmal vor, so ein „glücklicher“ Mensch würde der Gefahr ausgesetzt, dass er durch ein bestimmtes, „abweichendes“ Verhalten ein kleines Stückchen seines umfassenden Glücks verlieren könnte. Würde er nicht alles (oder fast alles) tun, um sein (gewohntes und vertrautes) Glück wieder zu vervollkommnen?
Die „Operationalisierung des Glücks“ ist gewiss keine Gefährdung des Lebens von Millionen Menschen (so wie -siehe oben – der Missbrauch von künstlicher Intelligenz für militärische Zwecke), aber sie wäre eine Gefährdung der Menschenwürde des Menschseins möglicherweise für Milliarden. Schon jetzt folgen Milliarden von Menschen den faszinierenden Angeboten von digitalisierter Spielerei, Unterhaltung, Information, Kommunikation …, die nicht für die Bedürfnisse der Menschen eingerichtet sind (wie die Konsumenten es empfinden sollen) sondern für die Bedürfnisse der Daten-Giganten, die damit ihre Geschäftsgrundlagen (durch immer umfangreichere und genauere Daten über jeden Menschen) und damit auch ihre Macht-Basis vervollkommnen wollen.
So könnte es sein, dass es schon in absehbarer Zukunft nicht mehr wirklich wichtig sein könnte, ob ein Mensch in einem demokratischen Staat lebt oder in einer ideologisch ausgerichteten Diktatur und zwar deshalb, weil die entscheidenden Weichenstellungen für die gesellschaftlichen Realitäten da wie dort und weltweit überall von den gleichen Kräften bewegt würden. Die Lebensweisen der Menschen würde dann (unabhängig von jeder staatlichen Verfassung) von denen bestimmt, die allein alle Daten von allen Menschen haben (und die entsprechenden Techniken), um von (weltweit) allen Menschen immer genauer jedes Detail ihres Lebens und ihrer Einstellungen zu kennen und ihr Verhalten immer effektiver zu steuern. Nein, nicht mit Gewalt, sondern durch fast unmerkliche Impulse (nudging), die aber in ihrer Gesamtheit effektiver sind als einzelne Gewaltakte.
Vielleicht würden die Daten-Giganten dann die jeweils nötigen Teile ihrer Daten-Sammlungen, dazu das jeweils nötige „Know-how“ und die jeweils nötigen technischen Systeme an einen demokratischen Staat ebenso vermieten wie an eine ideologisch ausgerichtete Diktatur und die gewaltigen Summen, die sie dafür kassieren würden, könnten ihre technischen Systeme und ihre globale Vormacht noch weiter perfektionieren. Die „Herren der Daten“ würden die jeweiligen lokalen „Herrscher“ im Innern ihres jeweiligen Machtbereichs weiter herrschen lassen (diktatorisch oder demokratisch – egal, solange sie ihre Lizenzgebühren bezahlen). Aufs Ganze gesehen aber hätten sie, die „Welt-Daten-Könige“ (oder wären sie schon „Welt-Daten-Götter“?), alle Macht in ihren Händen, denn sie allein beherrschen die Systeme, die dann jede Form von konkreter Herrschaft überhaupt erst möglich machen.
Und sie würden ihren „Lizenznehmern“ (demokratisch oder diktatorisch – egal) klar machen, dass sie ihren Untertanen „das große Versprechen vom großen Glück“ machen müssen, damit das System funktioniert (natürlich nicht für jene „Abweichler“, die, im Falle einer Diktatur, in ihren Konzentrationslagern und Folterkellern schmachten, aber doch für die großen Mehrheit, die man z. B. auch in einer scheindemokratischen Wahl braucht).
Und sie, die Daten-Götter würden dann das große Glück liefern, jedem Einzelnen ganz individuell zugeschnitten auf die eigenen persönlichen Wünsche und Vorlieben, Ängste und Befürchtungen, Triebe und Süchte, Sehnsüchte und Hoffnungen …, die sie besser kennen als jeder Einzelne selbst (vgl. den Beitrag „Leben aus zweiter Hand“ im Bereich „mitreden“, im Thema „gefährliche Entwicklungen“, dort wird, ein wenig überzeichnet, eine solcher „Glückszustand“ beschrieben).
Und vielleicht hätten es dann die Diktatoren gar nicht mehr nötig, Andersdenkende in Konzentrationslagern und Folterkellern schmachten zu lassen, weil es dann gar keine Andersdenkenden mehr geben kann im großen Glück, das für jeden (und auch für die vermeintlichen „Abweichler“) die genau auf sie zugeschnittenen Glücksmomente bereithält, in Form von begeisternder Unterhaltung, von geistig herausforderndem Spiel und körperlich herausforderndem Sport und (fast) unbegrenzten Konsum.
Die „Operationalisierung des Glücks“ scheint die große Zukunftsaufgabe künstlicher Intelligenz zu werden: Wie kann man aus der immer umfangreicheren und detaillierteren Daten-Basis für jeden Menschen auf der Erde Algorithmen entwickeln, die für jeden Einzelnen genau jene Inhalte, Ereignisse und Aktivitäten errechnen, die ihm/ihr jeweils und zu jeder Zeit optimale Glücks-Erlebnisse bescheren? Multiprofessionelle Teams von Informatikern, Technikern, Neurologen, Psychologen, Soziologen, Ökonomen … arbeiten daran.
Aber: Es ist ja keineswegs schwieriger oder teurer, die technische Entwicklung so zu gestalten, dass sie dem Miteinander und Füreinander der Menschen und dem Frieden zwischen ihnen dient, statt der Versklavung des Menschen unter die Technik (bzw. unter den Willen derer, welche die Richtung der technischen Entwicklung bestimmen). Es ist eine Frage der Entscheidung für das Eine oder das Andere und damit auch eine Frage von Verantwortung und Schuld.
Eine mögliche Versklavung der Menschen durch die zukünftigen Entwicklungen passiert nicht einfach so, sondern sie wäre, wenn sie denn käme, von bestimmten und benennbaren Menschen gewollt und gemacht und von ihnen zu verantworten. Wie aber könnte man die in Zukunft die möglichen Potenziale von moderner Datenverarbeitung und künstlicher Intelligenz nutzen ohne der Gefahr der „Entführung aus der Wirklichkeit“ zu erliegen? Zwei mögliche Schritte auf dem Weg dahin möchte ich andeuten: „Die Fremdheitsschranke durchbrechen“ und „Die richtigen Geschichten erzählen“.
5 Die Fremdheitsschranke durchbrechen
Vielleicht ist es Ihnen auch schon mal so gegangen: Da hatte man ein bestimmtes Bild von jemanden (von einem Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe), von denen man schon so viel gehört oder gelesen hatte und jahrelang war dieses Bild fraglos richtig und schien sich immer wieder zu bestätigen. Dann aber hatte man eine direkte und persönliche Begegnung mit diesen Menschen und auf einmal war alles ganz anders. Alle die vorgefertigten und festzementierten Vorstellungen lösten sich in Luft auf. Der (die) war(en) ja doch ganz anders, als man immer gemeint hatte! Die betreffenden Personen waren aus dem Fern-Bereich (und der kann manchmal schon an der nächsten Haustür beginnen) in den Nah-Bereich eigener Erfahrungen, direkter Begegnung, intensiven Austausches gekommen. Man hatte „die anderen“ selbst erlebt und als Menschen (nicht nur als vorgeprägte Menschen-Bilder) wahrgenommen. Man hatte die Unterschiedlichkeit zur eigenen Prägung und Mentalität, zum eigenen Lebensstil und den eigenen Umgangsformen erfahren und zugleich eine menschlich-mitmenschliche Vertrautheit, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte.
Dazu brauch es eine „echte Nah-Kommunikation“ (und die ist auch durch technisch vermittelte Kommunikation über Tausende von Kilometern hinweg möglich). Entscheidend sind nicht die Meter oder Kilometer räumlichen Abstands, sondern die Bereitschaft zu Offenheit in der Mitteilung des Eigenen und in der Wahrnehmung des Anderen. Wir werden Menschen, die wir als irgendwie „anders“ empfinden, dann eher verstehen und annehmen, wenn wir Begegnung und Nähe zulassen.
Wenn wir mit Menschen, die uns „fremd“ erscheinen, im Frieden zusammenleben wollen, dann müssen wir diese „Fremdheitsschranke“ überwinden, und das geht nur, indem wir die persönliche Begegnung mit ihnen suchen, indem wir ihnen unsere Aufmerksamkeit zuwenden und ihnen die Bereitschaft öffnen, sie unvoreingenommen wahrzunehmen. Menschen, die wir persönlich kennen, werden wir nur in seltenen Fällen als „Feinde“ betrachten, es sei denn, dass wir auch unseren räumlichen Nahbereich mit „Fremdheitsschranken“ umstellen. Eine immer weitergehende „Ent-Fremdung“ (also Verringerung der Fremdheit) gegenüber den Menschen, mit denen wir irgendwelche Probleme haben, ist eine unbedingte Voraussetzung für einen friedlichen Umgang miteinander.
Freilich ist es ratsam, gegenüber Unbekannten auch eine vernünftige Vorsicht walten zu lassen. Nicht jeder, der auf uns zukommt, tut das mit guten Absichten. Jemandem, den man noch nicht gut kennt, seine Wertsachen anzuvertrauen, ist sicher keine gute Idee. Vertraulichkeit ist nicht der erste Schritt des Kennenlernens. Aber der erste Schritt kann ein Anfang sein für eine fortschreitende Geschichte des Kennenlernens und gegenseitigen Vertrauens.
Allerdings genügt es zum Kennenlernen auch nicht, als Tourist ein paar Selfies vor den „Touristenhighlights“ eines fernen Landes zu machen. Man muss schon die echten Begegnungen suchen, da wo Menschen leben und arbeiten. Dazu muss man nicht immer um die halbe Welt reisen. Man könnte schon z. B. damit beginnen, ab und zu im türkischen Laden um die Ecke einzukaufen oder beim arabischen Friseur in der nächsten Straße die Haare schneiden zu lassen. Außerdem hilft uns die moderne Technik: Wir hatten noch nie so viele Möglichkeiten, zu unseren (in Kilometern gemessen) entferntesten Mit-Menschen sehr nahe und persönliche Beziehungen aufzunehmen. Aufgeschlossene Mitmenschlichkeit, auch mit den räumlich oder persönlich-kulturell Entfernten, könnte so einfach sein.
6 Die richtigen Geschichten erzählen
Der Mensch ist seit Jahrtausenden ein Geschichtenerzähler und Geschichtenversteher. Schon am Lagerfeuer der frühen Steinzeitmenschen wurden Geschichten erzählt von tapferen Helden, die gegen das Böse (den Drachen) oder die Bösen (die Feinde) gekämpft haben, die schöne Häuptlingstochter befreit und den eigenen Stamm vom Untergang gerettet. Solche Geschichten waren wichtig, um den Zusammenhalt im eigenen Familienclan zu stärken und die Kampfbereitschaft gegen „die anderen“ zu erhöhen. Geschichten sind nicht nur Erfundenes und damit Bedeutungsloses, sondern sie sind Deutungsmuster für unsere Erfahrungen, sind Erklärungsmodell für Undurchschaubares, Bewältigungsstrategie für Angstmachendes, Sinn-Stifter für unser Leben und Erleben (heute auch oft nur noch Nervenkitzel für übersättigte und abgestumpfte Konsumenten).
Wir Menschen sind seit Jahrtausenden bis heute Geschichtenerzähler geblieben. Nie wurden so viele Geschichten erfunden und erzählt wie heute: In Büchern, Filmen, Schau-Spielen, Liedern, Games, Events … Nur: Wir erzählen heute die falschen Geschichten! Wir erzählen immer noch die Geschichten vom tapferen „Helden“ (dem Krimi-Kommissar, der den Verbrecher fängt, von der Journalistin, die böse Machenschaften aufdeckt und James Bond, der wieder einmal die Welt retten muss …) der gegen das Böse und die Bösen (die Maffia, die Internet-Gangster und Umweltvernichter …) ankämpft und die Menschheit vom Untergang rettet.
Unsere Geschichten haben fast alle eine ähnliche Grundstruktur. Wir, die Guten, gegen die andern, die Bösen. Ob Krimi oder Action-Abenteuer, ob Beziehungsgeschichte oder Zukunftsphantasie …, das Grundmodell ist immer das gleiche: Kampf der Guten (mit denen wir uns identifizieren) gegen die Bösen (die „andern“, die wir ablehnen und bekämpfen). Und die meisten Autoren lassen ihre Geschichte „gut“ ausgehen: Der Verbrecher wird gefasst, die Verschwörung der Mächtigen aufgedeckt, die intrigante Nebenbuhlerin ausgeschaltet, die Welt gerettet … Manchmal lässt man die Geschichte auch böse enden und hinterlässt dann ein Gefühl von Enttäuschung und Hilflosigkeit.
Diese Geschichten setzen voraus, dass die entscheidenden Weichenstellungen in den Geschichten der Menschheit im Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ geschehen. Und das mag ja manchmal und im Detail auch richtig sein. Aufs Ganze gesehen aber sind das die „falschen Geschichten“. Es gibt in der Realität dieser Welt nicht die Menschen, die einfach nur „gut“ oder nur „böse“ sind. Und es ist naiv, zu meinen, das Böse sei überwunden, wenn man die Bösen ausgeschaltet hat. Das Gute ist in jedem Menschenleben möglich, das Böse auch. Das gilt für einzelne ebenso, wie auch für Völker, Staaten, Kulturen und Religionen. Wer sie pauschal in gut oder böse einteilt, hat den Weg des Friedens schon verlassen (siehe das Thema „gut und böse“).
Die Geschichten von den guten Helden sind heute die falschen Geschichten. Wir können nicht mehr die Welt retten, indem wir als einzelne „Helden“ (oder kleine „Helden-Teams“) die Bösen bekämpfen. Aber: Wer erzählt die heute richtigen und wichtigen Geschichten? Wer erzählt die Geschichten, die uns (z. B.) die verworrenen Zusammenhänge der Weltwirtschaft, der Umwelt- und Energiepolitik oder internationaler Abrüstungsbemühungen usw. in einem spannenden und anschaulichen Erzählstil so vor Augen führen, dass die öden Statistiken der Fachleute zu leben und zu sprechen beginnen?
Wer kann die nüchternen und unbequemen Wahrheiten unserer Zeit so erzählen, dass sie uns ansprechen, dass sie uns zu Herzen gehen und dort ein neues Verstehen auslösen? Es geht nicht mehr um die einsamen Helden, die unsere Erde retten, sondern um Formen gemeinsamen Ringens um die großen Themen unserer Gegenwart und Zukunft, über alle Grenzen der Generationen, Völker, Rassen, Kulturen und Religionen hinweg. Also: Nicht „wir, die Guten, gegen die andern, die Bösen“, sondern „wir, wir alle, in denen das Gute und das Böse als Impuls und Möglichkeit immer (beide!) gegenwärtig sind, miteinander im Mühen für die Entfaltung und Verwirklichung des Guten (und miteinander im Mühen um das Zurückdrängen des Bösen)“. So sollte das Grundmotiv unseres Erzählens lauten. Nur wenn wir die Geschichten unserer Gegenwart und Zukunft neu erzählen, werden wir sie auch neu verstehen. Nicht als Herausforderung zum Kampf gegen „die andern“, sondern als Einladung zum Miteinander und Füreinander allen Menschseins.
Im folgenden Beitrag „Den Frieden suchen“ soll anhand einiger Beispiele deutlich gemacht werden, wie in der Realität von Völkern und Gemeinschaften ein dauerhafter Frieden tatsächlich gefunden und verwirklicht wurde, nämlich da, wo ehemalige Feinde begannen, miteinander Schritte der Ent-Fremdung, Ent-Feindung und Ver-Söhnung zu gehen. Und dies auf der Grundlage eines veränderten Welt- und Selbstverständnisses, auf Grund eines neuen „Narrativs“, das eine neue Geschichte vom Miteinander der Völker erzählt.
Solche Geschichten gibt es in der Realität einzelner Menschen und Gruppen tausendfach und in relativ seltenen Sternstunden der Menschheit auch zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Aber das wissen bestenfalls Historiker. Sonst scheint das niemanden zu interessieren. Es gibt offenbar kaum jemanden, der (oder die) solche Geschichten vom wachsenden Miteinander der Völker, Kulturen und Religionen mit der Darstellung von berührenden Ereignissen und Vorgängen in räumlicher, zeitlicher und emotionaler Nähe, mit bewegender Schilderung persönlicher Schicksale und mit spannungstragender Dichte des Handelns erzählen mag. Warum eigentlich? Fähige Erzähler(innen) gäbe es genug.