Nicht nur die Erbanteile aus den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte leben in uns (vgl. „Ursachen des Unfriedens I – Das Erbe der Frühzeit), sondern auch die Eindrücke und Prägungen unserer eigenen, individuellen Lebensgeschichte, die entscheidend durch unsere persönlichen Erfahrungen, aber auch durch die Geschichte unserer engsten Bezugspersonen in den letzten drei, vier Generationen mitbestimmt werden. Krieg oder Frieden, das entscheidet sich oft nicht an sachlich unausweichbaren Gegebenheiten, sondern an der persönlichen Verfassung der handelnden Personen. Und diese persönliche Verfassung ist wesentlich mitbestimmt durch das genetische Erbe unserer Familie und das soziale, kulturelle, weltanschauliche und religiöse Erbe unserer Familiengeschichte und darin eingebettet, unser eigenen persönlichen Biografie.
Dieses Erbe der Generationen wirkt sich in allen Aspekten unseres Menschseins aus. Diese Aspekte bilden eine untrennbare Einheit, trotzdem ist es für die folgende Darstellung von Vorteil, wenn wir sie dabei zunächst getrennt betrachten (siehe dazu auch das Thema „Wer bin ich?“):
- Einen biologisch-körperlichen Aspekt: Der Mensch ist biologisch gesehen von den Säugetieren nicht sehr verschieden. Organe und Stoffwechsel funktionieren auf ganz ähnliche Weise. Das Gehirn ist größer und besser entwickelt, aber das ist gegenüber einem intelligenten Affen nur ein gradueller Unterschied. Schön oder hässlich, jung oder alt, schwach oder stark, der körperliche Aspekt ist an allen Lebensäußerungen beteiligt. Das Körperliche spielt auch bei der Entstehung von Konflikten eine nicht unwesentliche Rolle. Genetisch bedingte Veranlagungen (z. B. Temperament) und entwicklungsbedingte Phasen (z. B. Pubertät) können bei einem Menschen eine mehr oder weniger ruhige oder aufgewühlte, zugewandte oder abweisende, ausgleichende oder aggressive Grundstimmung bewirken. Schmerzliche und traumatisierende Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte können solche Dispositionen verstärken und aktualisieren.
- Einen psychisch-emotionalen Aspekt: Unsere emotionale Grundausstattung ist eng mit unserer körperlichen Verfassung verbunden. Die Erfahrung körperlicher Gewalt, körperlicher Unzulänglichkeit (z B. durch Behinderungen), physischer Unterlegenheit, auch Beeinträchtigung durch akute oder chronische Erkrankungen usw. wirken sich direkt auf unsere Stimmungslage und psychische Stabilität aus. Ebenso sind auch unsere sozialen Erfahrungen, vor allem in der frühen Kindheit (aber auch später n0ch) z. B. Ablehnung, Zurückweisung, Vernachlässigung … an der Entstehung und Verfestigung emotionaler Brüche und Schädigungen beteiligt, die sich direkt oder indirekt auch auf unser Verhalten und unsere Friedensfähigkeit auswirken.
- Einen psychisch-kognitiven Aspekt: Nicht nur unsere Gefühle, auch unser Denken, Wissen und Verstehen sind wesentlich am Zustandekommen von Entscheidungen und Handlungen beteiligt. Dabei zeigt sich, dass einerseits Unwissenheit und mangelnde Bereitschaft zu kritischem Denken leicht für Friedens-gefährdende und Friedens-zerstörende Absichten missbraucht werden können, anderseits aber auch hohe Intelligenz nicht automatisch Friedens-fördernde Einstellungen hervorbringt. Es kommt auf das Gesamtbild unseres „Weltbildes“ und „Weltverständnisses“ und auf deren Motivationen und Ziele
- Einen soziologisch-gesellschaftlichen Aspekt: Jeder Mensch ist ein Individuum, aber er ist kein Einzelwesen. Die volle Ausformung seines Menschseins kann sich erst in Ich-Du-Beziehungen und Wir-Gemeinschaften entwickeln. Deshalb ist der soziale Aspekt unbedingt notwendiger Bestandteil der personalen Existenz jedes Menschen. Konflikte entstehen selten isoliert in einer Ich-Du-Beziehung, sondern sind fast immer eingebunden in ein vielfältiges soziales Beziehungssystem.
- Einen kulturellen und kulturhistorischen Aspekt. Jeder Mensch ist Teil einer Kulturgemeinschaft, die im Laufe von Jahrtausenden entstanden ist und die einen großen Teil seiner Identität geprägt hat. Es ist zwar möglich, die Kulturgemeinschaft und den Kulturraum zu wechseln, trotzdem werden in der neuen Umgebung auch die alten kulturellen Prägungen wirksam bleiben, freilich durch neue Lebensformen und Denkweisen verändert und ergänzt. Das Schlagwort vom „Kampf der Kulturen“ beschreibt eine gegenwärtige Fehlentwicklung, nicht eine notwendige und unabwendbare Zukunftsrealität.
- Einen weltanschaulich-religiösen Aspekt. Fast alle Kriege im 20. Jahrhundert, dem „aufgeklärtesten“ und zugleich kriegerischsten und blutigsten Jahrhundert der ganzen Menschheitsgeschichte, wurden entweder durch ideologisch begründete Feindbilder oder durch scheinreligiös begründete Ansprüche gerechtfertigt. Offensichtlich kann man Menschen dann am ehesten in völkermordende und zugleich selbstmörderische Auseinandersetzungen treiben, wenn man dieses Handeln mit ideologisch verabsolutierten und pseudoreligiös überhöhten Argumenten als das eigentlich Richtige, Gute und Notwendige darstellt.
Alle diese Aspekte unseres Menschseins, die sich in der Realität des Lebens zu einer einzigen untrennbaren personalen Einheit verbinden und verdichten, werden von den Erfahrungen und Begegnungen unseres Lebens berührt und verändert: aufbauend, fördernd und gestaltend oder auch verunsichernd, hemmend und zerstörend. Sie bestimmen wesentlich unsere eigene subjektive Selbstwahrnehmung und unser Selbstbewusstsein, die wiederum entscheidend unser Handeln lenken.
Unter der Überschrift „Ursachen des Unfriedens“ werden hier besonders die schmerzhaften und schädigenden Einflüsse betrachtet. Die hilfreichen und aufbauenden Gegenpositionen können wir jeweils gleich mit dazudenken; sie werden aber im Laufe dieser Abhandlung ihrer Bedeutung entsprechend noch besonderes Gewicht bekommen.
Die oben in fünf Aspekten angesprochene innere und äußere Verfassung des Menschen wird vom ersten Tage seines Lebens an, ja, sogar schon in den Monaten vor seiner Geburt belastenden und schädigenden Einflüssen ausgesetzt. Ich nenne hier drei solcher Einflüsse:
– Mangel und Verlust,
– Erniedrigung und Unterdrückung,
– Bedrohung und Verletzung.
Im Folgenden soll die Bedeutung solcher negativer Erfahrungen für die Entstehung von Konflikten kurz und zusammenfassend dargestellt werden. Dabei werden die oben genannten Aspekte des Menschseins mit einbezogen.
a) Mangel und Verlust
Mangel und Verlust können im Leben eines Menschen eine lebensbedrohliche Gefährdung darstellen. Menschen in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten, in Flüchtlingslagern zwischen den Fronten, in Erdbeben-, Dürre- oder Überschwemmungsgebieten … erleben Mangel zunächst im körperlich-materiellen Bereich: Es fehlt das Nötigste an Nahrung, Trinkwasser, Wohnung, Kleidung, medizinischer Versorgung … Das Leben ist täglich, stündlich in Gefahr. Solche Erfahrungen lassen keinen Menschen unberührt und unbeeinflusst, am direktesten und folgenschwersten treffen sie aber Kinder, die ihnen hilfloser ausgeliefert sind als alle anderen, weil sie gar nicht verstehen können, was mit ihnen geschieht.
Mangel- und Verlusterfahrungen gibt es nicht nur im körperlich-materiellen Bereich. Auch der psychisch-emotionale Aspekt kann betroffen sein z. B. durch eine gefühlsarme und abweisende Erziehung, den Verlust eines Elternteils durch Scheidung oder Tod usw. Emotionale Mangel- und Verlusterfahrungen gibt es aber nicht nur in der Kindheit, sondern können Erwachsene genau so existenziell betreffen, auch wenn diese zumindest nach außen hin meist bewusster damit umgehen können.
Im kognitiven Bereich betreffen Mangelerfahrungen manche Menschen z. B. dann, wenn sie als Kinder in der Schule merken, dass sie intellektuelle Leistungen nicht so selbstverständlich erbringen können wie andere. Die Erfahrung einer Minderbegabung z. B. im Umgang mit Zahlen oder im Lesen und Rechtschreiben ist für viele eine schwerwiegende Belastung, die sie ihr ganzes Leben begleitet. Verlusterfahrungen im Bereich des Denkens und Verstehens, des Gedächtnisses und der gedanklichen Beweglichkeit treffen eher alte Menschen mit zunehmender Alters-Demenz.
Erfahrungen von Mangel und Verlust im gesellschaftlichen Beziehungsaspekt betreffen oft ganze Gesellschaftsschichten, die als minderwertig abgestempelt werden, einer niedrigeren Kaste oder einer als minderwertig angesehenen Rasse angehören, oder z. B. als Frauen rechtlos und abhängig in einer männerdominierten Gesellschaft leben. Oder: Ein hoch angesehener und gut bezahlter Fachmann, der plötzlich im Rahmen einer Wirtschaftskrise seine Arbeitsstelle verliert, kann den Verlust seiner sozialen Position als gesellschaftlichen Abstieg erfahren.
Die Erfahrungen von Mangel und Verlust im Bereich kultureller und kulturgeschichtlicher Identität kann ebenfalls schwerwiegende Verwerfungen im Leben von Einzelnen und Gemeinschaften verursachen, z. B. bei Flüchtlingen, die plötzlich in einer fremden kulturellen Umgebung zurechtkommen und leben müssen. Trotzdem: Eine von allen Eigenarten und Besonderheiten entkernte und inhaltlich entleerte Welt-Einheitskultur (wie sie heute im Zuge der „Globalisierung“ manchmal angestrebt wird) wäre keine erstrebenswerte Zukunftsvision. Sie wäre selbst schon eine Mangel-Erscheinung mit weitreichenden Folgen.
Sogar im Bereich weltanschaulich -religiöser Überzeugungen können Mangel- und Verlusterfahrungen Menschen in Existenzkrisen stürzen. Gerade sensible und begabte Jugendliche in der Pubertätszeit (aber nicht nur die) machen oft Identitäts- uns Sinnkrisen durch, weil die bisherigen Glaubensinhalte und Überzeugungen sich als nicht mehr tragfähig erweisen.
Die Folgen solcher Erfahrungen von Mangel und Verlust für das Miteinander der Menschen sind unübersehbar: Schon bei Kindern kann man beobachten, wie sich Mangelerfahrungen in geradezu unstillbares Verlangen umsetzen. Vernachlässigte, verwahrloste Kinder, die schon in frühen Jahren erlebt haben, wie existenzielle Bedürfnisse nicht befriedigt wurden, sind in der Gefahr, später alles an sich zu raffen, zu stehlen und zu horten und nie genug zu bekommen. Bei Erwachsenen geschieht das oft verdeckt, dafür aber folgenreicher, weil sie mehr Möglichkeiten haben, ihre Wünsche durchzusetzen. Dabei kann sich das unersättliche Haben-Wollen auf ganz andere Felder verlagern als jene, wo der Mangel erfahren wurde. So können sich z. B. emotionale oder soziale Mangelerfahrungen in übermächtige Sucht nach Geld, Wertgegenständen oder auch Süßigkeiten usw. umwandeln. Mangelerfahrungen im Bereich von Entwicklung und Erfolg können in überhöhte Anspannung und Aktivität umschlagen. Mangelerfahrungen im Bereich der Sinnerfüllung des Lebens können sich in maßloser Sex-Gier äußern oder durch Anfälligkeit für Süchte aller Art. Erfahrungen von Verunsicherung, Schwäche und Geborgenheit können ein Streben nach Machtpositionen auslösen, wo man der Stärkste ist, dem niemand etwas antun kann …
Wir können zusammenfassen: Erfahrungen von Mangel und Verlust bringen (nicht zwangsläufig, aber als Tendenz) einen Typus von Menschen hervor, der durch ein unstillbares Haben-Wollen und Festhalten-Wollen geprägt und beherrscht ist und der damit den Frieden im Miteinander der Menschen gefährdet.
b) Erniedrigung und Unterdrückung
Gewiss gibt es extreme Formen von offener Erniedrigung und Unterdrückung in demokratischen Gesellschaften relativ selten. Wir müssen uns aber der Tatsache bewusst sein, dass dies nur für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung zutrifft (und dass es im persönlichen, privaten Miteinander auch bei uns oft ganz anders ausschaut). Für die überwiegende Mehrheit aller Menschen sind Erfahrungen von Ungleichheit im Bezug auf Menschenwürde, Rechtssicherheit und Entwicklungschancen alltäglicher Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit. Auch hier soll das wieder auf die oben beschriebenen fünf Aspekte des Menschseins bezogen werden.
Körperlicher Aspekt: Hier gibt es Erniedrigung und Unterdrückung in vielen Formen: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, Zwangsarbeit, Sklaverei, Vergewaltigung, sexuelle Ausbeutung …
Emotionaler Aspekt: emotionale Abhängigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung; emotionale und soziale Deklassierung durch Mobbing und Rufmord …
Geistiger Aspekt: Abdrängen von Menschen mit eher praktischer und weniger intellektueller Begabung ins „Unterschichtenmillieu“; geistige Ausbeutung durch finanzielle Abhängigkeit geistiger Leistungen und deren Urheber von jenen, die die Vermarktung solcher Leistungen finanzieren …
Gesellschaftlicher Aspekt: Gesellschaftliche Deklassierung bestimmter Berufsgruppen, Rassen, Kasten, Einkommenssituationen usw. durch die herrschenden Gruppen (z. B. Selbstbestimmungsrecht nur für Adelige, Wahlrecht nur für Reiche, Zugang zu bestimmten Ämtern nur für angehörige der Eliten, unabhängig von ihrer Eignung); Abwertung für bestimmte Volksgruppen, Kulturen …, bewusste Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten als Reservoir für billige Arbeitskräfte; gesellschaftliche Ausgrenzung für Behinderte, Alte, Kranke (alle, die der sogenannten „Allgemeinheit“ zur Last fallen).
Kultureller und kulturhistorischer Aspekt: Die Neigung autoritärer Machthaber, die Kultur der „anderen“ als minderwertig zu bezeichnen, ja, sie als schädlich und zerstörend anzusehen, sie als „Gift“ und „Krebsgeschwür“ im eigenen Volkskörper zu beschimpfen, ist der Gegenpol zu ihrer eigenen Sucht nach Selbstüberhöhung, durch die sie die Mehrheit der „Volksgenossen“ auf ihre Seite ziehen wollen.
Ideologisch-religiöser Aspekt: Ideologisch begründete Erniedrigung und Unterdrückung bestimmter Bevölkerungsgruppen (z. B. der Juden im „3. Reich“). Religiös begründete Ausgrenzung derer, die „nicht dazugehören“…
Zusammengefasst: Erfahrungen von Erniedrigung und Unterdrückung gibt es für sehr viele Menschen in verschiedensten Erscheinungsformen. Sie bringen (nicht zwangsläufig, aber als Tendenz) einen Typus von Menschen hervor, bei denen persönliche und soziale Verunsicherung und persönliches Minderwertigkeitsbewusstsein in die Neigung zu Selbstüberhöhung und skrupelloser Machtausübung umschlagen können, sobald sich dazu die Möglichkeit bietet.
c) Bedrohung und Verletzung
Unmittelbare Gewalteinwirkung und lebensbedrohliche Gefahr verletzen einen Menschen niemals nur körperlich, sondern immer auch in seinem ganzen Menschsein. Je unmittelbarer die Gesamtexistenz eines Menschen bedroht ist oder verletzt wird, desto gravierender sind auch die Folgen für seine Friedensfähigkeit und Friedensbereitschaft.
Körperlicher Aspekt: Die Erfahrung von körperlicher Gewalt mit verletzenden, ja lebensbedrohlichen Folgen, die nicht durch einen Unfall verursacht, sondern von den Peinigern bewusst als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, ist eines der verstörendsten und zerstörendsten Erlebnisse, die ein Mensch haben kann. Oft wird die massenhafte Vergewaltigung von Frauen und Mädchen als „Kriegswaffe“ zur Demoralisierung „feindlicher“ Volksgruppen eingesetzt. Die bösartigste Form körperlicher Gewalt für den einzelnen Menschen ist die Folter, ihre schlimmste Form mit furchtbarsten Auswirkungen auf ganze Völker ist der Krieg.
Emotionaler Aspekt: Körperliche Bedrohung und Gewalt werden oft als Mittel zur emotionalen Beeinflussung eingesetzt. Man will verunsichern, Angst erzeugen, eine allgemeine psychische Destabilisierung in Gang setzen; man will den Willen einer Person (oder auch einer Gruppe, eines Volkes …) und deren psychische Widerstandsfähigkeit brechen; man will demütigen und so die eigene Überlegenheit demonstrieren.
Geistiger Aspekt: Durch eine geschickte Mischung von subtiler Beeinflussung und brutaler Gewaltanwendung ist es offenbar möglich, nicht nur die körperliche Unversehrtheit und die emotionale Verfassung eines Menschen zu zerstören, sondern auch sein Denken und seinen Willen einer fremden Gewalt zu unterwerfen. In den „Umerziehungslagern“ der stalinistischen und maoistischen Diktaturen ist solche „Gehirnwäsche“ im großen Stil an Millionen von Menschen versucht und durchgeführt worden (und das gibt es auch heute noch). Aber auch im engeren (öffentlichen oder privaten) Bereich sind solche Versuche zur geistigen Überwältigung von Menschen möglich. Dies geschieht überall da, wo angestrebt wird, durch physische oder psychische Gewaltanwendung den Willen eines Menschen zu brechen und sein Denken „auf Linie“ zu bringen.
Sozialer Aspekt: Das Schicksal der Juden im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland und Europa ist das extremste Beispiel der Menschheitsgeschichte für bewusst herbeigeführten Mangel und Verlust, für Erniedrigung und Unterdrückung, Bedrohung und Verletzung bis hin zur Ermordung einer ganzen Volksgruppe. Hier spielen die sozialen, kulturellen und religiösen Aspekte ganz eng zusammen und verstärken sich gegenseitig. Und auch das gibt es, in kleinerem Maße, auch in unserer Gegenwart.
Kultureller und kulturhistorischer Aspekt: Die Kulturgeschichte unliebsamer Minderheiten wird als primitive und verabscheuungswürdige Negativ-Geschichte einer eigenen Geschichtsinterpretation gegenübergestellt, welche die eigene Vergangenheit als ununterbrochene Folge von edlen und heroischen Momenten darstellt. Diese schwarz-weiß-Geschichte wird dann zur Rechtfertigung von jeder Form von Gewaltausübung gegen die Minderheit.
ideologisch-religöser Aspekt: Das (in Europa) bekannteste Beispiel für Bedrohung und Verletzung von Menschen unter religiös-ideologischem Vorzeichen war die Inquisition, auch wenn sie bei weitem nicht so flächendeckend, zahlenmäßig umfangreich und im Ergebnis vernichtend betrieben wurde, wie man heute unterstellt; sie war jedenfalls zu keiner Zeit so allgegenwärtig wie etwa Gestapo oder Stasi, und sie hatte niemals Millionen von Opfern wie etwa die SS in Deutschland, der NKWD in der Sowjetunion unter Stalin oder die „Roten Garden“ im maoistischen China. Trotzdem ist ihr Vorgehen, da wo sie Gewalt angewendet hat, ohne Abstriche zu verurteilen. Auch heute gibt es in vielen (meist islamischen) Ländern eine „Religionspolizei“ mit weitgehenden Vollmachten zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige und Andersdenkende.
Zusammengefasst: Erfahrungen von Bedrohung und Verletzung bringen (nicht zwangsläufig, aber als Tendenz) einen Typus von Menschen hervor, der, sobald er Macht und Gelegenheit dazu hat, selbst zur Anwendung von bedrohender und verletzender Gewalt neigt.
Die Spiralen des Unfriedens und der Gewalt, die sich überall auf der Welt, im kleinen, privaten Bereich ebenso, wie im Großen zwischen Völkern und Rassen, Kulturen und Weltanschauungen mal langsam, mal schneller drehen, können auf Dauer nur dann zum Stillstand gebracht werden, wenn man verhindert, dass Menschen solche Erfahrungen machen müssen: Mangel und Verlust, Erniedrigung und Unterdrückung, Bedrohung und Verletzung.
Im folgenden Beitrag „Ursachen des Unfriedens III: Kultur und Motivation“ wird die Frage nach den Ursachen des Unfriedens auf die Kulturen der Völker ausgeweitet.