„In was für einer Welt leben wir eigentlich?“, so fragen wir entsetzt oder empört, wenn wieder einmal ein schlimmer Zustand offensichtlich geworden ist. Die Bibel, eines der ältesten und meistgelesenen Bücher der Menschheitsgeschichte, gibt Antwort auf diese Frage:
1 Die Finsternis
„Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker ...“, so ruft der Prophet (Jesaja 60,2) aus angesichts der schlimmen Zustände in seiner Zeit. Und wir heute? Wir wissen auch einiges zu sagen über die Finsternis, die das Erdreich bedeckt.
Wir wissen von Kriegen und Bürgerkriegen mit gewissenlosen Mordtruppen aus „Ordnungskräften“ und Milizen, wir wissen von Diktatoren, die das eigene Volk (oder die Nachbarn) in die Flucht treiben oder in den Tod bomben (und das dann „Friedenseinsatz“ nennen), von „regierungstreuen Streitkräften“ aus gut bezahlten Söldnern, fanatischen „Gotteskriegern“ und Heeren von „Kindersoldaten“, die nichts haben außer einem Gewehr und den Befehl zu töten. Wir wissen von Eroberungen und Völkermord, von Vertreibung und „ethnischen Säuberungen“, von nationalem, ideologischem und religiösem Fanatismus. Wir wissen von Unterdrückung und Rechtlosigkeit, von Gewalt und Folter in vielen, vielen Ländern dieser Erde.
Wir wissen vom internationalen Terrorismus, der ganze Völker in Angst und Schrecken versetzen kann (und will), um sie so zu destabilisieren, dass sie mutlos und wehrlos dem Zugriff der Machtansprüche der dahinter verborgenen Machtsysteme erliegen.
Wir wissen von der entsetzlichen Armut und dem Hunger, in dem ganze Völker leben, und von dem maßlosen Reichtum einiger weniger direkt daneben, und dass die Armut der Einen ebenso wenig zufällig, naturgegeben und gottgewollt ist wie der Reichtum der Anderen. Wir wissen von Machtmissbrauch und Korruption, die ganze Länder in Chaos und Elend versinken lassen.
Wir wissen von der unersättlichen Gier nach Gewinn und Besitz und Macht, die selbst funktionierende Volkswirtschaften, ja die ganze Weltwirtschaft mit gigantischen Spekulationsblasen in den Zusammenbruch treiben kann, eine Gier, die z. B. heute inmitten einer hungernden Welt die Spekulation an den Nahrungsmittelbörsen als Quelle riesiger Gewinne entdeckt, und die dabei ist, sich die Patentrechte auf alle Lebensformen zu sichern, von denen sich die Menschheit ernährt, um eben diese ganze Menschheit in die Abhängigkeit von einigen wenigen internationalen Lebensmittel- und Saatgutkonzernen zu zwingen.
Wir wissen von der weltumspannenden Macht des internationalen Verbrechens, das mit Raub und Mord, mit Entführung und Erpressung, mit Rauschgift- und Menschenhandel, mit Waffenschmuggel und Söldner-Einsätzen so viele Milliarden verdient, dass es die Wirtschaft und die Politik ganzer Länder unterwandern, überwuchern und korrumpieren kann.
Wir wissen auch von Habgier und Gewinnsucht in unserem eigenen Land, von Betrug und Skrupellosigkeit, von offener Parteilichkeit und heimlicher Bereicherung, so dass wir bald nicht mehr wissen, wem wir noch trauen können und was aus den übervollen Regalen der Geschäfte wir eigentlich noch unbedenklich essen können.
Wir wissen auch, oder ahnen zumindest, von dem heimlichen Leid und der heimlichen Gewalt, vor allem an Frauen und Kindern, hinter den glatten Fassaden mancher Häuser mitten in unseren Städten und Dörfern.
Wir wissen von einer geld- und quotengierigen Medien- und Vergnügungsindustrie, die selbst aus dem Grauen des Krieges, der Gemeinheit des Verbrechens, dem Schrecken der Gewalt, dem Elend ethischer Perversion und dem Inferno des Untergangs noch riesige Gewinne schlägt, weil man damit Werbung verkaufen kann für Waschmittel, Autos, Schokolade und, und, und …
Und wir wissen von den Daten-Giganten und digitalen Weltmächten, die uns mit plumper Verführung und raffinierten Strategien das „Gold“ des 21. Jahrhunderts entlocken: Unsere Daten über uns und unser Leben, bis in die geheimsten Vorgänge im Unbewussten, die wir nicht einmal selbst kennen, nach der Welt-Formel des 21. Jahrhunderts: Geld + Daten = Macht.
Wo alle Bindungskräfte auf das eigene Ich oder die Vorteile der eigenen Gruppe gerichtet sind, werden die Abstoßungskräfte gegenüber den „anderen“ übermächtig. „Ich für mich gegen dich; wir für uns gegen euch! Du hast etwas, das ich nicht habe, also werde ich es dir nehmen! Du bist anders, deshalb bist du weniger wert. Ihr habt andere Ansichten, Gewohnheiten, Ziele, also werden wir euch bekämpfen! Ihr gehört nicht zu uns, deshalb werden wir uns über euch erheben und euch unterdrücken – wenn es sein muss, auch ausrotten.“ Kain erschlägt Abel, jeden Tag, tausendfach irgendwo auf der Erde. So entstehen Menschheitskatastrophen wie die von Auschwitz oder Hiroshima (und wie die gegenwärtigen zwischenmenschlichen Katastrophen und Kriege) und so entsteht die permanente Menschheitstragödie des unbeachteten Leidens von Millionen, überall auf dieser Erde, auch hier bei uns.
2 Das Erbe
Aber ist nicht eine solche Haltung schon in unseren Genen vorprogrammiert? Ist sie nicht das natürliche Erbe unserer Herkunft? Ist nicht das Leben selbst im Laufe von Jahrmillionen als Ergebnis eines unerbittlichen „Kampfes ums Dasein“ entstanden und weiterentwickelt worden? Und ist nicht auch die ganze Menschheitsgeschichte von solchen Kämpfen gekennzeichnet, in denen nur diejenigen bestehen und überleben konnten, die sich als die Stärksten, Geschicktesten – und auch Rücksichtslosesten durchzusetzen vermochten?
Ja, so ist es, und genau genommen müssen wir in der Entwicklung der Menschheit und des Lebens sogar noch einen Schritt weiter zurückgehen, wenn es um die Neigung zum Unfrieden geht: Menschen sind (biologisch gesehen) „Tiere“, jedenfalls keine Pflanzen (wenn wir hier bei dieser vereinfachten Einteilung „Pflanzen-Tiere“ bleiben wollen). Das bedeutet: Menschen können sich nicht, (wie Pflanzen) ernähren, indem sie mit Hilfe des Sonnenlichts anorganische Stoffe in organische umwandeln (Fotosynthese) und davon leben. (Freilich gibt es auch „Schmarotzerpflanzen“, die ihre „Wirts-Pflanzen“ aussaugen und es gibt auch bei Pflanzen „Verdrängungs-Vorgänge“ beim Kampf um Boden, Wasser, Licht und Lebensraum, auch der Lebensbereich „Pflanzen“ ist kein Bereich ungetrübten „Friedens.“) Aber bei „Tieren“ ist die „aggressive“ Grundeinstellung noch viel tiefer verankert: Sie müssen zwingend organische Substanz zu sich nehmen, das heißt, sie müssen, um leben zu können, anderes Leben (Pflanzen oder Tiere) töten und „fressen“. Dabei gibt es unter den Tieren reine Pflanzenfresser und solche, die ganz auf tierische Fleisch-Nahrung angewiesen sind und es gibt „Allesfresser“, die sowohl tierische wie pflanzliche Nahrung verwerten können (wir Menschen gehören zu den „Allesfresser-Tieren“ und haben so ein sehr weit gestreutes Nahrungsmittel-Angebot). Wir sehen: Der „Kampf ums Dasein“ ist noch viel elementarer in unserer Biologie vorgegeben, als wir das normalerweise wahrnehmen.
Trotzdem wäre das eine sehr verengte Sicht, wenn wir diese Einsicht kurzschlüssig auf den Menschen und menschliches Miteinander übertragen würden. Wir werden sehen: So selbstverständlich uns diese Idee vom „Kampf ums Dasein als Motor der Evolution“ heute erscheinen mag; so stellt sie doch eine primitive und menschenunwürdige Vereinfachung hochkomplexer Zusammenhänge dar, die uns blind macht für die Verantwortlichkeit der Menschen. (Siehe dazu die Themen „gut und böse“ und „Die Ethik des Atheismus“; die entsprechenden Zusammenhänge können hier nicht erneut dargestellt werden). Wir werden sehen: Menschen sind eben nicht unentrinnbar nur auf ihre biologischen Grundbefindlichkeiten festgelegt. Im Gegenteil:
- Menschen müssen nicht unbedingt Tiere töten, um von ihnen zu leben (und offensichtlich ist das auch in der biblischen „Schöpfungsordnung“ so vorgesehen (1. Mose 1, 29): „Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise“. Menschen können sich (wie pflanzenfressende Tiere) weitgehend von Pflanzen ernähren, die ja nicht Todes-Angst und Schmerz erleben, wenn sie geerntet und gegessen werden, und die moderne Landwirtschaft kann auch mit Pflanzen alle Nährstoffe für eine ausgewogene Ernährung zur Verfügung stellen. Dabei wird in der Bibel nicht eine absolut vegane Ernährung vorgeschrieben. Bei bestimmten Festen (z. B. Pessach) ist der Verzehr von Fleisch sogar angeordnet; und „Milch und Honig“ gelten biblisch als etwas besonders Köstliches.
- Menschen sind die einzigen Lebewesen, welche die Möglichkeit haben, ihre „Lebens-Mittel“ (im weitesten Sinne alles, was man zum Leben braucht) nicht im „Kampf ums Dasein“ zu gewinnen, sondern im bewusst organisierten Miteinander und Füreinander des Menschseins. Das gilt bei verantwortungsvoller Nutzung von Ressourcen ebenso, wie bei menschenwürdiger und umweltverträglicher Produktion und fairem Handel. Wir haben grundsätzlich die Möglichkeit (ob wir sie optimal nutzen ist eine andere Frage) ein Miteinander und Füreinander der Menschheit und des Lebens zu gestalten, das nicht nur den eigenen Vorteil sucht, sondern auch das Auskommen der andern im Blick hat und das nicht nur das eigene Leben erhalten will, sondern auch das Leben aller anderen Lebewesen.
Trotzdem sind in unserem biologischen und kulturhistorischen Erbe auch mehr als genug solcher Selbstbehauptungs- und Kampf-Instinkte erhalten geblieben, die uns heute, im Zeichen der Globalisierung und der Massenvernichtungswaffen zum Verhängnis werden können.
Da sind noch tief in uns die Instinkte des Jägers, der das Beutetier hetzt, bis es, zu Tode erschöpft, gestellt und erlegt und im Triumph auf den Schultern nach Hause getragen werden kann.
Da sind, übermächtig seit Jahrtausenden, die Instinkte der Sammlerin, die, damit ihre Familie den harten Winter oder die sommerliche Trockenzeit überleben kann, unermüdlich Vorräte anlegt, und nie das Gefühl hat, jetzt ist es genug.
Da sind die Instinkte des Kriegers, der sich und seine Sippe in Gefahr sieht durch die „Fremden“, die sie bedrohen, so dass er Waffen bereithalten muss, Angriff und Verteidigung vorbereiten, Strategien für den Kampf überlegen, den Gegner täuschen, im günstigsten Moment zuschlagen, den „Feind“ töten und dessen Lebensgrundlagen zerstören muss.
Da sind die Instinkte des Weibchens, das den stärksten, potentesten, vermögendsten, mächtigsten Mann erobern muss, der ausreichend Nachwuchs zeugen und ihre Brut ernähren und schützen kann vor allen Angriffen und der ihr selbst eine geachtete Stellung verschafft im Sozialgefüge der Sippe und des Stammes (so weit nur einige wenige, stark vereinfachte, überzeichnete und typisierte Beispiele).
Und alle diese Instinkte und noch viel mehr, die im Laufe von Jahrtausenden im harten Existenzkampf der Sippen und Stämme entstanden sind, toben sich heute aus in den Vor- und Hinterzimmern, den Großraumbüros und Kantinen, den Gängen und Treppenhäusern unserer Bürotürme oder zwischen den Vorgärten und Blumenbeeten unserer Reihenhäuser oder in den Klassenzimmern und auf den Pausenhöfen unserer Schulen …
Diese Instinkte wirken sich aber auch aus in den entrückten Chefetagen internationaler Konzernmanager, in den abgeschirmten Konferenzräumen mächtiger Politiker, in den Labors und Hörsälen hochbegabter Wissenschaftler, in den Redaktionsbüros und Schreibstuben einflussreicher Journalisten, in den Gerichtssälen zwischen Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern, in den Armeen zwischen Offizieren, Rekruten und Zivilisten… Wir können nicht einmal ungefähr abschätzen, wie viele der Entscheidungen der Mächtigen dieser Erde nicht auf sachlich-rationalen Grundlagen gefällt werden, sondern auf Grund von uralten Instinkten und Verhaltensmustern.
Dabei müssen wir unsere „aggressiven“ Denk- und Handlungsmuster gar nicht grundsätzlich verdammen. Sie hatten ja in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit durchaus ihren Sinn. Und sie müssen sich auch heute nicht unbedingt negativ auswirken. Wir brauchen sie ja auch heute noch als Antrieb und Motivation.
Ja, geben wir es zu: Wir (vor allen die Vertreter des männlichen Geschlechts unter uns) brauchen Ziele, für die wir kämpfen können, wir brauchen die „Herausforderung des Kampfes“, um unsere körperlichen und geistigen Kräfte optimal zu entfalten. Und wir brauchen dazu auch klare Vorstellungen davon, wogegen wir kämpfen müssen. Sagen wir es rundheraus: Wir brauchen Feindbilder.
Aber (ein ganz großes „Aber“, damit wir hier nichts falsch verstehen): Der Feind, gegen den es heute zu kämpfen gilt, das ist nicht der „Andere“, der Fremde, der Andersartige und Andersdenkende und Andersglaubende, auch nicht die andere Kultur, Weltanschauung oder Religion; der Feind des Menschseins im 21. Jahrhundert ist die Feindschaft, sind feindseliges Denken und Handeln, sind der Hass und die Gewalt, und die Bereitschaft, Kriege zu beginnen und sie bis zum „Endsieg“ durchzuhalten – und sei es bis zur eigenen Selbstvernichtung.
Wenn es gelingt, die Kampfbereitschaft der Menschen, der Gruppen und Völker gegen diesen Feind zu mobilisieren (und das ist möglich!), und gegen viele andere Feinde, die z. B. „Hunger” heißen oder „Armut” oder „Ungerechtigkeit” oder „Ausbeutung”, „Umweltzerstörung”, „Habgier”, „Machtgier”, „Sucht”, und viele andere, dann sind wir auf dem Weg zum Frieden ein gutes Stück vorangekommen. Und das ist ja nichts Neues oder Unmögliches. Es gibt ja schon heute viele Einzelne, Gruppen, Organisationen, die unter großem persönlichen Einsatz diesen Kampf führen. Wenn viele da mitkämpfen (auch und besonders die Einflussreichen und Mächtigen), dann ist dieser Kampf nicht aussichtslos.
Unser Kampf gilt der Feindschaft, nicht dem „Feind“ (bzw. jene, die wir in der gegenwärtigen Situation für unsere „Feinde“ halten), er gilt dem Fremdenhass, nicht „dem Fremden“ (also dem, der uns fremd ist), wir kämpfen gegen die Armut, nicht gegen „die Reichen“, gegen die Ausbeutung, nicht gegen „die, die wir Ausbeuter“ nennen usw., usw.
Machen wir doch es wie Gott: Gott hasst das Böse, nicht die Bösen (siehe das Thema „gut und böse“). Wie sollte Gott das Böse nicht hassen angesichts der Verfinsterung dieser Welt, wenn er sieht, wie das Böse immer mehr um sich greift und das Miteinander und den Frieden unter den Menschen stört und zerstört. Gott hasst das Böse, ja, mit aller Kraft seines göttlichen Zorns, denn das ist der Feind des Menschseins wie er es gewollt und geschaffen hat. Aber Gott liebt die Menschen, ja, alle Menschen, sogar die, die Böses getan haben, mit aller Kraft seiner göttlichen Liebe, weil er in ihnen das Gute sieht, das er selbst in sie hineingelegt hat, und das erneuert, hervorgehoben, bestärkt und bestätigt werden kann.
Aber: Wie soll denn das gehen, das Böse zu bekämpfen, ohne gegen die Bösen Gewalt anzuwenden? Die werden sich ja kaum mit guten Worten von ihren bösen Vorhaben abbringen lassen! In den beiden Beiträgen „Den Frieden suchen“ und „Dem Frieden dienen“ soll auf diese Frage eingegangen werden.
Ja, es ist gut und richtig, dass Böse im Menschen (und vor allem bei sich selbst!) zu bekämpfen und das Gute in ihm (auch in sich selbst) zu lieben und zu stärken. So könnte das „Erbe der Frühzeit“ dazu beitragen, dass nicht die Feindschaft zunimmt, sondern Prozesse der „Entfeindung“ in Gang kommen. In den nächsten beiden Beiträgen „Die Ursachen des Unfriedens II: Das Erbe der Generationen“ und „Die Ursachen des Unfriedens III: Kultur und Motivation“ werden wir diesen Gedanken weiterführen.