Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Freiheit

Beitrag 4: Die Freiheit der Entscheidung (Bodo Fiebig2. Mai 2019)

„Das Denken und Verstehen, Entscheiden und Handeln der Menschen ist insofern frei, als es verschiedene Handlungsmöglichkeiten unterscheiden kann (indem es deren verschiedenen Folgen abzuschätzen vermag) und sich zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten entscheiden kann.“ So lautet ein zusammenfassender Satz aus dem ersten Beitrag Die Fragestellung?“ Wenn wir auf die Beiträge 2 und 3 zurückblicken, sehen wir das bestätigt und wir stellen fest: Es ist eben doch nicht so, dass Menschen einer Selbsttäuschung unterliegen, wenn sie meinen, sie hätten sich in einer bestimmten Situation so oder so entschieden (in Wirklichkeit hätten aber determinierte Abläufe und unvorhersehbare Zufallsereignisse auf neuronaler Ebene längst vorher alles festgelegt). Wir sind in der Gefahr, bei unserem Blick auf die Freiheit der Entscheidung auf die falsche Ebene zu schauen.

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1 Die falsche Ebene

Ich will den entscheidenden Denkfehler an einem einfachen Vergleich verdeutlichen: Stellen wir uns einen großen Block aus edlem, weißen Carrara-Marmor vor. Auf der Mikro-Ebene der kleinsten Atomteilchen, der Quarks und Quanten, läuft da im Innern dieses Blocks alles nach den Gesetzen der Quantenmechanik ab und kein Mensch hat die Möglichkeit, da regulierend einzugreifen. Auf der Makro-Ebene des großen Blocks hatte Michelangelo aber doch die Freiheit der Entscheidung, durch seine künstlerische Arbeit daraus einen David oder einen Mose zu machen (beide gehören zu den herausragenden Werken der Kunstgeschichte). Es gibt eben in einer bestimmten Situation nicht nur die eine Kausalkette, die eine Abfolge determinierter Ereignisse, die nur eine einzige Folge zulässt. Nein, in jeder konkreten Situation laufen eine fast unendliche Anzahl von Ursache-Folge-Strängen zusammen, die, verknüpft mit ebenso vielen subatomaren Zufallsereignissen, dann auf der Ebene menschlichen Denkens und Handelns eine weite Vielfalt möglicher Entscheidungen zulassen.

Wir können auch ein ganz anderes Bild als Vergleich heranziehen (wissend dass solche Vergleichs-Bilder immer nur Annäherungen sind, nie exakte Abbildungen): Stellen wir uns einen Schwarm aus Zehntausenden von kleinen Fischen vor. Jeder Fisch schwimmt für sich und doch passt er sich der Bewegung seiner Nachbarfische an, so dass der Schwarm als Ganzes Bewegungen vollzieht, als wäre er ein eigenes großes Super-Lebewesen. Auf der Mikro-Ebene der kleinen Fische sieht es so aus, als ob jeder einzelne sinn- und ziellos nur auf die Bewegung seiner Nachbar-Fische reagiert. Wenn man aber den ganzen Schwarm ansieht, merkt man, dass er sehr zielgerichtet und sinnvoll agiert, um einem großen Raubfisch zu entkommen. Wir müssen zwischen verschiedenen Ebenen der Realität unterscheiden. Und das bedeutet beim Menschen: Wir dürfen eben nicht Forschungs-Ergebnisse, die auf der Mikro-Ebene atomarer oder neuronaler Einzel-Ereignisse gewonnen wurden, mit Vorgängen gleichsetzen, die sich auf der Makro-Ebene eines bewusst denkenden Gesamt-Organismus vollziehen.

Wie aber kommt es zu einer bestimmten Entscheidung? Warum wählt ein Mensch in einer bestimmten Situation die eine Handlungsvariante und nicht eine andere? So einfach ist es ja nicht, dass ich nur auf die unbewussten biochemischen Ereignisse und Zufälle in meinem Gehirn warten müsste und dann würde „es“ in mir so oder so entscheiden, ohne mein Zutun und ohne meine Verantwortung.

Dabei müssen wir beachten: Der Mensch ist nicht ein Einzelwesen, das nur den Vorgängen in seinem eigenen Innern lauscht und darauf mit bestimmten Verhaltensweisen reagiert. Jeder Mensch, der nicht wie Robinson Crusoe allein auf einer einsamen Insel lebt, ist in soziale Zusammenhänge eingebunden, die bestimmte Erwartungen an ihn haben. Und je nach der Art und Verfassung der Gemeinschaft werden diese Erwartungen mehr oder weniger rigoros eingefordert und durchgesetzt, bzw. werden Abweichungen bestraft. Trotzdem haben Menschen immer wieder in Konfliktsituationen gegen die Konventionen gehandelt, wenn es ihnen wichtig erschien. In entscheidenden Augenblicken haben Menschen eigene Nachteile und Risiken auf sich genommen, um Fehlentwicklungen zu verhindern, die ganze Völker ins Unglück stürzen könnten. Beispiele dafür gibt es viele.

Wenn man nun behaupten wollte, dass (um ein extremes Beispiel zu nennen) diejenigen, die im „Dritten Reich“ unter Hitler versuchten, einen politischen Widerstand zu organisieren (wie Dietrich Bonhoeffer oder Claus v. Stauffenberg und viele andere) und dabei bewusst ihre eigenes Leben aufs Spiel setzten, ja sogar das Leben ihrer Familien in Gefahr brachten, dass die dabei nur deterministischen elektrochemischen Kausalketten und subatomaren Zufallsereignissen folgten, dann wird man ihren Entscheidungen gewiss nicht gerecht. Nein, sie hatten die Wahl und die Entscheidung für ein angepasstes und ungefährdetes Weiterleben wäre gewiss die leichtere gewesen. Und alles an ihrem kreatürlichen Menschsein hat sich nach dieser Variante gesehnt (man lese die Briefe, die jene Widerstandskämpfer aus dem Gefängnis und den sicheren Tod vor Augen an ihre Familien geschrieben haben!). Sie lebten in einem gewalttätigen Zwangssystem und hatten doch die Freiheit, sich gegen die Unterdrückung und für die Menschlichkeit zu entscheiden und koste es das eigene Leben. Nein, da hat kein subatomarer „Zufallstreffer“ sie in eine „Heldenrolle“ gezwungen und keine biochemische Kausalkette hat sie für ihre lebensgefährlichen Unternehmungen vorherbestimmt. Sondern sie haben sich in oft jahrelangem Ringen in innerer Freiheit dafür entschieden. Gemessen an ihrer je eigenen „Weltverinnerlichung“ und ihrem darin integrierten Wertesystem, die bei vielen von ihnen vom biblischen Glauben her geprägt waren, hat (bei jedem Einzelnen von ihnen) ihr innerstes „ICH-Selbst“ das System des Nationalsozialismus als falsch und menschenfeindlich erkannt und sich entschieden, für eine menschlichere Gesellschaft alles zu wagen.

Manche „Erkenntnisse“ der modernen Biowissenschaften, die stolz behaupten, dass die sogenannten „freien Entscheidungen“ von Menschen in Wirklichkeit nur das Ergebnis determinierter oder zufälliger neuronaler Vorgänge in unserem Gehirn sind (siehe Beitrag 1), beruhen auf Studien, die mit wirklichen Entscheidungssituationen kaum etwas zu tun haben. Da sollen z. B. Studenten unter Laborbedingungen auf bestimmte Reize hin entscheiden, ob sie den Knopf in der linken Hand oder den in der rechten Hand drücken. Für solche völlig inhaltsleeren und bedeutungslosen „Entscheidungen“ mag vielleicht der Zufall oder was auch immer den Ausschlag geben. Für echte Entscheidungen in bedeutungsvollen und folgenschweren Situationen, wo sehr viele und oft widersprüchliche Aspekte bedacht werden müssen, sagen solche Studien nichts, aber auch gar nichts aus.

Ja, der Wille des Menschen ist grundsätzlich frei. Das gilt auch dann, wenn 90 Prozent aller Menschen in 90 % aller Fälle davon keinen Gebrauch machen. Zumindest keinen so existenziellen und dramatischen Gebrauch wie in dem oben genannten Beispiel. Aber das ist für unsere Fragestellung auch gar nicht so wichtig. Auch im ganz „normalen“ alltäglichen Leben stehen wir immer wieder vor (meist kleinen und harmlosen) Entscheidungssituationen (z. B. will ich heute mit dem Auto in die Stadt fahren oder mit der Straßenbahn? Beides hat ja nicht nur persönliche, sondern auch gesamtgesellschaftliche Bedeutsamkeit, z. B. für die zukünftige Entwicklung des Klimas usw.). Und die meisten der dann anstehenden Entscheidungen treffen wir ohne viel darüber nachzudenken, indem wir eher intuitiv zu erspüren versuchen, welche Entscheidungen jetzt unseren eigenen Bedürfnissen am besten entsprechen, ohne den Grundhaltungen und Grundwerten unserer Weltverinnerlichung zu widersprechen. Wie oft waren wir in Situationen, in denen wir etwas hätten tun können, von dem wir wussten, dass wir das nicht sollten (im Kaufhaus etwas klauen, jemandem heimlich Schaden zufügen, der uns geärgert hat …) und wo wir ganz sicher sein konnten, dass uns das niemand würde nachweisen können – und wir haben es nicht getan. Nicht aus Furcht, doch ertappt zu werden, sondern weil wir unser Selbstverständnis und dessen Einordnung in unsere „Weltverinnerlichung“ (also unser „ICH-Selbst“ selbst) nicht beschädigen wollten.

Wie aber kommt es nun zu einer bestimmten Entscheidung, die wir als wichtig und bedeutsam ansehen? Meistens sprechen wir dann davon, dass die innere Instanz des „Gewissens“ die letzte Entscheidung trifft. Aber wie sollen wir uns diese „innere Instanz“ vorstellen?

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2 Die Stimme des Gewissens

Woher kommt diese Stimme und wer redet da mit uns? Für gläubige Menschen ist das die Stimme Gottes, die uns auf den rechten Weg führen will. Aber sind denn dann ungläubige Menschen in jeden Fall gewissenlos? Offensichtlich nicht. Aber was ist das dann für eine Stimme, die auch sie vernehmen? Versuchen wir eine Antwort, die Aussagen aus den vorangegangenen Beiträgen wieder aufnimmt:

Neben vielen äußeren Umständen, die auch mit einfließen (z. B. ob eine Handlung gesetzlich erlaubt oder verboten ist, und welche Folgen es hätte, wenn ich die verbotene Handlungsweise wähle usw.), so ist doch bei allen wichtigen Entscheidungen ein ganz bestimmtes Kriterium fast immer ausschlaggebend: Der Mensch in der Entscheidungssituation vergleicht (mehr oder weniger rational und analytisch, mehr oder weniger emotional und intuitiv) die Entscheidung und das Handeln (und die möglichen Folgen des Handelns) mit dem, was die eigene „Weltverinnerlichung“ und deren Wertesysteme für „gut“ und „richtig“ erachten. Welche Handlungsoption passt am besten in das Gesamtbild meines Weltverständnisses, meines Menschenbildes und meiner Selbstwahrnehmung? Das ist die entscheidende Frage (und da kann dann bei einem gläubigen Menschen die Stimme Gottes, die er aus der Bibel vernimmt und die zur wesentlichen Grundlage seines Welt- und Selbstverständnisses geworden ist, den entscheidenden Ausschlag geben).

In den meist harmlosen Entscheidungssituationen des alltäglichen Lebens tritt das nur selten in Erscheinung. Ob sie heute das rote oder das blaue Kleid anzieht, mag für eine Frau, die sich für ein Rendezvous fertig macht schon wichtig sein, ihre grundlegenden Einstellungen und Werthaltungen betrifft das kaum. Anders wäre das schon, wenn im Vorfeld dieses Rendezvous erkennbar geworden wäre, dass die Beziehung zu dem Mann, den sie treffen wird, ihre Ehe in Frage stellt. Soll sie trotzdem hingehen? Ihre Entscheidung wird (trotz ihrer starken emotionalen Betroffenheit in dieser Situation) wesentlich davon abhängen welchen Stellenwert in ihrer persönlichen Weltwahrnehmung und deren Wertesystem, in ihrem Menschenbild und ihrem Selbstverständnis diese (ihre) Ehe hat.

Dabei müssen wir uns wieder bewusst machen: Unser Welt- und Selbstverständnis, ist Teil einer viel größeren und umfassenderen Weltwahrnehmung und Weltdeutung, welche die Menschheit in verschiedenen Epochen ihrer Geschichte und in verschiedenen Kulturen verschieden herausgebildet hat. Die Erfahrungs-Geschichte jedes einzelnen Menschen, ist eingebettet in die Erfahrungs-Geschichte der Menschheit, die Jahrtausende umfasst, und bekommt von dort ihre Weite und ihre Verständlichkeit.

Das hat seine Bedeutung für die Entscheidungsfähigkeit jedes einzelnen Menschen: Die Weltverinnerlichung eines Menschen enthält unter anderem auch die jeweils individuelle Ausformung (innerhalb einer kulturbedingten und zeitgeschichtlichen Gesamtsituation) des kollektiven ethischen Unterbewusstseins der Menschheit, das in jahrtausendelangen Gärungs- und Aneignungsprozessen entstanden ist und in den Regelungen und Wertungen der Kulturen und Religionen der Menschheit seinen Niederschlag gefunden hat. Und dieses „ethische Unterbewusstsein“ ist Teil der kollektiven „Weltverinnerlichung“ der Menschheit, ist Teil der Weltverständnisses, Selbstverständnisses und Menschenbildes der Völker und Kulturen, die in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsen sind. Es speist sich aus den Erfahrungen der Völker und Generationen, die in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die ethischen Grundsätze, Entscheidungen und Handlungen von Milliarden Menschen in verschiedenen Kulturen durch die Jahrtausende geprägt haben (siehe dazu auch im Thema „Recht und Unrecht“ den Beitrag „Der Ursprung des Rechts“).

Das, was wir die „Stimme des Gewissens“ nennen, ist, so betrachtet, eine Warnmeldung unserer persönlichen „Weltverinnerlichung“ (in der individuelle Anteile und Ausformungen dieses „ethischen Unterbewusstseins der Menschheit“ wirksam sind), die jeden Wunsch, jedes Vorhaben und jede Handlungsweise und deren mögliche Folgen mit dem Wertesystem des eigenen Weltverständnisses und Selbstverständnisses vergleicht und da manchmal Dissonanzen findet („du meinst doch, dass Ehrlichkeit zwischen den Menschen sehr wichtig ist und du hältst dich selbst für einen ehrlichen Menschen, und nun willst du deinen Vorgesetzten anlügen, um bei den Gehaltsverhandlungen besser dazustehen?“). Dieses „Gewissen” konkretisiert sich immer wieder neu in der aktuellen Deutung der eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen innerhalb einer bestimmten historischen Situation mit je besonderen weltanschaulichen und religiösen Begründungen.

Allerdings setzen wir unsere Entscheidungsfreiheit nicht immer so unabhängig ein, wie es manchmal scheint oder wünschenswert wäre. Man muss ja in manchen Situationen auch den Mut haben, zu seinen Grundsätzen zu stehen. Soll ich wirklich gemäß meiner Überzeugungen reden und handeln, auch wenn ich dann Widerstände oder Nachteile zu erwarten hätte? Viele Entscheidungen fallen nicht auf Grund gründlicher Überlegungen, sondern eher aus Bequemlichkeit und Anpassung. Begründete und selbstverantwortete Entscheidungen fallen uns dann leichter, wenn wir wesentliche Inhalte unseres Welt- und Selbstverständnisses mit vielen anderen Menschen teilen. Und besonders dann, wenn darunter Menschen sind, die als besonders wichtig, kompetent und vorbildlich gelten.

Das „ICH“ eines Menschen ist eine relative, keine absolute Größe. Im Ernstfall kann es Held oder Feigling sein. Nur relativ wenige Menschen sind in bedrängten Situationen so unabhängig von dem, was „man“ denkt, sagt oder tut und was „man“ von ihnen erwartet, dass sie dann tatsächlich zu eigenständigen Haltungen und Handlungen fähig sind. Das aber nicht, weil es keine Alternativen gäbe, sondern weil die eigene „Weltverinnerlichung“ und deren Werte nicht stark genug sind, um auch in schwierigen Lagen eine eigene Meinung und eine selbstverantwortete Handlung zu tragen. Also passt man die eigene „Weltsicht“ allmählich und in vielen fast unbemerkten Wandlungen so an, dass sie schließlich weitgehend dem entspricht, was „man“ von ihr erwartet. Man macht sich die gängige Ideologie buchstäblich „zu eigen“ und denkt und handelt in weiten Bereichen so, als ob man wirklich den eigenen Überzeugungen folgen würde.

Die letzte Entscheidungsinstanz für das Wollen und Handeln eines Menschen ist sein ICH, in dem sein ganzes Menschsein mit seinem Weltverständnis und Selbstverständnis und mit seinem natürlich-biologisches EGO zu einem einzigartigen Individuum verbunden sind (siehe im  Thema „Wer bin ich?“ den Beitrag 8 „Das ICH und das EGO“). Das ICH hat die Freiheit der Entscheidung, nicht das EGO. Und das bedeutet: Der Mensch ist frei, sich auch gegen die Begehrlichkeiten seines EGO zu entscheiden. Er wird sich nicht immer wohl fühlen dabei, denn das EGO, seine natürlich biologische Lebensgrundlage, ist eine starke Macht im Zusammenspiel seiner Motivationen. Trotzdem sind solche Entscheidungen möglich, und werden in der Realität tagtäglich millionenfach vollzogen.

Ebenso kann ein Mensch aber auch gegen die Grundsätze seines Gewissens entscheiden und handeln. Und auch dabei wird er sich nicht wohl fühlen, denn sein „Gewissen“ ist ja nicht etwas von außen Aufgezwungenes, sondern es ist der normative Bedeutungsgehalt seiner eigenen Weltverinnerlichung, und die ist ein wesentliches und unentbehrliches Element seiner eigenen Person. Wenn er sich dagegen entscheidet, wird ein Riss entstehen zwischen seiner personalen Identität und seinem Handeln. Es ist ein Irrtum zu meinen, die Entscheidung für das EGO und gegen das Gewissen, wäre in jedem Falle leichter.

In Extremsituationen kann die Orientierung einer Entscheidung an der eigenen „Weltverinnerlichung“ und deren Werteordnungen zu einer Frage um Leben und Tod werden. Etwa wie bei dem Franziskaner-Mönch Maximilian Kolbe, der 1941 im KZ Auschwitz für einen zum Tode verurteilten Familienvater freiwillig in den Hungerbunker ging und dort starb.

Eine Frage bleibt uns noch in diesem Zusammenhang: Waren die Folterer und Mörder unter den KZ-Wächtern im Dritten Reich Deutschlands (oder im „Archipel GULAG“ der Sowjetunion unter Stalin oder bei der „Kulturevolution“ Maos in China …), von denen jeder Einzelne ohne Bedenken Hunderte, vielleicht auch Tausende Menschenleben grausam vernichtet hat, gewissenlos? Auch wenn das unserem „normalen“ Empfinden total zuwiderläuft, müssen wir doch sagen: Nein. Auch sie sind der Stimme ihres Gewissens gefolgt. Aber ihr „Gewissen“ war deformiert, verwüstet, entmenschlicht. Es ist offensichtlich möglich, dass Menschen in bestimmten zeitgeschichtlichen Situationen ihr Welt- und Selbstverständnis so umbauen, ihre Normen und Werte soweit verbiegen, alle ihre humanen Impulse so effektiv blockieren, dass sie dann zu Handlungen fähig sind, die sie selbst wenige Jahre vorher nie für möglich gehalten hätten. Unser Gewissen ist formbar und deformierbar. Wenn man z. B. unter dem Einfluss einer unerbittlichen Propaganda die Häftlinge, mit denen man zu tun hat, als „Untermenschen“ sieht, als „Volksschädlinge“, die vernichtet werden müssen, damit das eigene Volk leben kann, oder wenn man sie als „Klassenfeinde“ sieht, als das personifizierte „Böse“, das die leuchtende Zukunft der Menschheit verhindern will, dann kann das lebendige und wandlungsfähige „Weltverständnis“ von Menschen zur toten Ideologie erstarren, die das gegenwärtige Böse, das man selbst tut, um des angeblich zukünftigen „Guten“ willen, für richtig und notwendig erklärt. Das Gewissen der Menschen ist leider kein absoluter Maßstab, sondern ein sehr biegsames, manchmal auch sehr scharfes Instrument, das auch zur Rute taugt (oder zur Klinge einer Guillotine).

Dabei muss uns bewusst sein: Jede gegenwärtige Entscheidung und Handlung jedes (wirklich jedes!) einzelnen Menschen und jeder Gemeinschaft, und seien sie noch so unbedeutend (und erst recht die Entscheidungen der bedeutenden „Macht- und Amtsinhaber“) wird, ob wir das wollen und wissen oder nicht, das kollektive ethische Unterbewusstsein der Menschheit und damit die Entscheidungen gegenwärtiger und künftiger Generationen in irgendeiner Weise mitbestimmen. Es gibt kein Entscheiden, Reden und Handeln, das einfach folgenlos vergeht. Und das gegenwärtige Übermaß an veröffentlichter Bosheit, (in Feindschaft, Hetze und gewalttätigen Aktionen, aber auch in Romanen, Filmen, Computerspielen …) wird vielleicht noch in Jahrhunderten das Miteinander der Gesellschaften und Kulturen belasten und vergiften (falls die Menschheit dann noch existiert). Wir formen oder biegen heute das Maß, mit dem man morgen messen wird (und wenn man morgen sehr harte und grausame Maßstäbe anlegen wird, dann wird das zu einem guten Teil daran liegen, dass wir uns heute gegen die Verbiegungen und Verhärtungen unserer Maßstäbe nicht entschieden genug gewehrt haben).

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Bodo Fiebig Die Freiheit der Entscheidung Version 2019 – 4

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