Bereich: A Grundlagen der Gesellschaft

Thema: Freiheit

Beitrag 3: Die Blackbox der Innenwelt (Bodo Fiebig2. Mai 2019)

Die Verinnerlichung der Außenwelt“ (siehe Beitrag 2) ist ein Vorgang, den wir uns noch relativ leicht vorstellen können. Was aber geschieht in der Verborgenheit des Innern mit den Wahrnehmungen von unserer Außenwelt? Hier sind wir, weil wir trotz modernster Bildgebungsverfahren nicht in die Vorgänge unseres Denkens und Empfindens hineinschauen können, auf bildhafte Vergleiche angewiesen, die uns eine anschauliche Vorstellung vermitteln sollen.

Stellen wir uns zum Vergleich die Nachrichtenzentrale der Regierung eines Staates vor: Täglich, stündlich, minütlich kommen ganze Fluten von Nachrichten aus dem Inland und Ausland herein. Sie alle müssen geprüft, gewichtet und eingeordnet werden, damit sie für die Entscheidungen der Regierung zur Verfügung stehen. Sind die Nachrichten echt oder „Fake-News“? Welche Bedeutung haben sie für das Regierungs-Handeln und wie passen sie zu den schon vorhandenen Nachrichten und Entscheidungsvorgängen?

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1 Die Zentrale

Einen ähnlichen Vorgang müssen wir uns auch in der zentrale Aufnahme-, Verarbeitungs- und Bewertungsstelle der Erfahrungen im Innern eines Menschen vorstellen.* Dort geschieht diese Prüfung und Zuordnung, Gewichtung und Bewertung auf eine geordnete und sehr effektive Weise. Führen wir uns, um die nachzuvollziehen, die „Nachrichtenzentrale“ eines Menschen etwas genauer vor Augen. Stellen wir uns vor: Eine riesige Halle; wir betreten sie durch den Haupteingang, über dem die Aufschrift „Erfahrungen“ leuchtet. Wir erkennen sofort, dass die Halle in verschiedene Abteilungen aufgeteilt ist. Und wir sehen: Überall ist alles in ständiger Bewegung; auch zwischen den Abteilungen ist ein ständiger Austausch im Gang. Als nächstes fällt uns auf, dass diese unaufhörlich fließende Arbeit in zwei Hauptabteilungen geschieht, die links und rechts eines sehr langen Mittelganges angeordnet sind.

*Siehe dazu auch das Thema „Wer bin ich?“)

Im Hintergrund auf der linken Seite sehen wir ein großes Leuchtmuster, wie auf einem riesigen Bildschirm, der die ganze linke Seitenwand der Halle ausfüllt. Dieses Leuchtmuster ist jedoch nicht statisch gleichbleibend, sondern in ständiger fließender Bewegung. Man kann erkennen, dass die Arbeitsergebnisse der linken Hauptabteilung dort in dieses Leuchtmuster eingeordnet werden. Aber eben nicht so, wie sie durch den Eingang der Erfahrungen hereinkamen, sondern erst am Ende eines langen und differenzierten Bearbeitungs- und Aneignungs-Weges. Ständig werden die Verarbeitungsprodukte der aktuellen Erfahrungen bestimmten Teilen des Musters zugeordnet, oder, wenn sie dort nicht passen, an einen anderen Platz verschoben. Dadurch geraten Teilbereiche des großen Musters in Bewegung, fließen in andere Richtungen, gruppieren sich neu, nehmen neue Farben und Formen an, damit sie da und dort ein schon vorhandenes Teilstück des Gesamt-Bildes ergänzen oder vervollständigen können … Ganz oben über dem Leuchtmuster auf der linken Seite liest man die Überschrift „Weltverständnis“. Und das ist offensichtlich nie fertig, sondern befindet sich in einem unaufhörliche Aufbau und Umbau, je nachdem, welche Nachrichten durch den Haupteingang für die Erfahrungen oder durch einige kleinere Nebeneingänge hereinkommen.

Erst jetzt fällt uns auf, dass auch auf der rechten Seite die Seitenwand der Halle von einem riesigen Leuchtmuster ausgefüllt ist. Aber dieses Muster ist einfacher strukturiert. Überhaupt scheinen hier weniger logische Formen, als vielmehr emotionale Farben den Eindruck zu bestimmen. Da gibt es Flächen mit einem brennenden Glut-Rot, von dem aus unruhige Bewegungen zu anderen Bereichen ausgehen. Einige Teilflächen sind von einem schwefeligen Gelb beherrscht, das eher abwehrend wirkt, andere von einem düsterem Grau, das ankommende Impulse verschluckt. Einige größere Flächen zeigen ein klares, strahlendes Blau, das aussieht wie der Himmel an einem sonnigen Sommertag und darin eingelagert freundliche Muster in einem lebendig pulsierendem Hell-Rot, manchmal mit goldenen Verzierungen. Von da aus gehen wohltuende Impulse in alle Richtungen.

Erst beim genaueren Hinsehen nehmen wir wahr, dass auch diese farbigen Flächen Strukturen haben, die dem Ganzen ihre Bedeutung geben. Die Überschrift über diesem rechten Leuchtmuster heißt „Selbstverständnis“. Und wir merken: Auch auf dieser rechten Seite können die ankommenden Erfahrungen nicht direkt bis an das Leuchtmuster gelangen, sondern müssen erst einen komplizierten Verarbeitungsprozess durchlaufen, ehe sie dafür geeignet sind. Das geschieht im Mittelgang und in den Arbeitsräumen rechts von ihm (so wie die Vor-Arbeiten für die Aufnahme in das „Weltverständnis“ in den Arbeitsräumen links des Mittelganges geschehen). Und wir merken: Dort in diesem Mittelgang und den Arbeitsräumen links und rechts davon laufen wichtige Vorgänge für die Aneignung, Bewertung und Einordnung der Erfahrungen. Sehen wir uns diese Vorgänge genauer an:

Wir erkennen im Mittelgang der großen Halle eine Art „Bearbeitungsweg“ mit mehreren Stationen. Jede hereinkommende Information (Erfahrung) muss alle Stationen dieses Weges durchlaufen. Dort werden sie auf bestimmte Kriterien hin abgefragt und mit dem schon vorhandenen Informationsstand verglichen. Schon auf dem ersten Blick fällt auf, dass zwischen den einzelnen Stationen des Mittelwegs und den beiden Außenbereichen ein reges Hin und Her im Gange ist.

Die vier Haupt-Stationen des Mittelgangs sind mit großen Schildern versehen (hier gelb gekennzeichnet), auf denen die jeweiligen Schwerpunktfragen genannt wird. Dazu sind einige weiterführende Fragen aufgeschrieben mit großen Pfeilen, welche die Richtung angeben:

Wer/was?

Nach links zum Leuchtmuster Weltverständnis: Wer ist das? Was ist das? Um welche Personen oder Sachverhalte geht es? Welche Personen und Sachverhalte sind besonders wichtig? Aufbau eines Begriffssystems und von Grundlagen des Erkennens und Verstehens

Nach rechts zum Leuchtmuster Selbstverständnis: Wer bin ich? Aufbau eines Selbstbewusstseins, erste Ansätze zur Entwicklung einer Ich-Identität

Wie?

a) Orientierung

Weltverständnis: Wie sind die Dinge und Menschen meiner Umgebung, welche Eigenschaften haben sie und wie sind sie einander zugeordnet?

Selbstverständnis: Wie bin ich? Was unterscheidet mich von anderen? Wie ist meine Stellung in der Gemeinschaft?

b) Erklärung

Weltverständnis: Wie funktioniert das? Nach welchen Regeln und Gesetzmäßigkeiten laufen bestimmte Vorgänge ab? Wie werden sie beeinflusst und gesteuert?

Selbstverständnis: Wie „ticke“ ich? Was sind meine Stärken und Schwächen? Wie sehen mich die andern?

Warum?

a) Entwicklung

Weltverständnis: Wodurch sind die Dinge so geworden wie sie sind? Wie und wohin entwickeln sie sich?

Selbstverständnis: Wodurch bin ich geworden, wie ich bin und wie wird es mit mir weitergehen?

b) Verantwortung:

Weltverständnis: Wer ist dafür verantwortlich, dass die Dinge so geworden sind, dass sie sich positiv oder negativ entwickelt haben? Und wo liegt meine Verantwortung dazu?

Selbstverständnis: Wer ist verantwortlich für die positiven oder negativen Wendungen, die mein Lebensweg genommen hat? Und was ist mein eigener Anteil daran?

Wozu?

a) Wertung:

Weltverständnis: Was gilt allgemein als wichtig oder unwichtig, wertvoll oder wertlos, richtig oder falsch, gut oder böse? Welche Wertvorstellungen gelten in meiner Umgebung und anderswo?

Selbstverständnis: Wie sehen meine eigenen Wertvorstellungen aus und wie sind sie begründet? Was habe ich selbst von dem, was allgemein als wichtig, wertvoll, richtig und gut angesehen wird? Und habe ich auch Anteile an dem, was allgemein als unwichtig, wertlos, falsch und böse gilt? Welche Wertesysteme gibt es und welchem will ich mich anschließen?

b) Sinngebung

Weltverständnis: Was ist der Sinn und das Ziel allen Lebens, der Geschichte der Menschheit und der ganzen Schöpfung?

Selbstverständnis: Was ist der Sinn und das Ziel meines Lebens?

Das sind Grundfragen zum Weltverständnis und Selbstverständnis, die in konkreten Situationen sehr viel detaillierter und differenzierter angesprochen werden, als in der obigen Übersicht. An ihnen vollzieht sich die Prüfung, Gewichtung und Zuordnung unserer Erfahrungen in den Gesamtzusammenhang unserer Weltverinnerlichung. Dabei können wir wahrnehmen, dass auch die beiden großen Teilbereiche „Weltverständnis“ und „Selbstverständnis“ nicht voneinander isoliert arbeiten. Jede neue Situation muss immer aus beiden Blickwinkeln gesehen werden. Jede Umwelterfahrung (besonders mit der sozialen Umwelt) verändert auch unser Selbstverständnis und jede neue Selbstwahrnehmung beeinflusst auch unsere Welt-Sicht und das Verhältnis zu unseren Mitmenschen. Beide Teilbereiche bilden doch ein Ganzes: Das Ganze unserer Weltverinnerlichung als Grundlage unseres Seins als „Ich in der Welt“ und als Steuerungszentrale für unser Entscheiden und Handeln.

2 Das ICH und das EGO

Wichtig ist, dass wir verstehen: Die oben bisher beschriebene „Halle“, in der sich unsere „Weltverinnerlichung“ vollzieht und alles, was dort geschieht, stellt die Nachrichtenzentrale des „Staates“ dar, nicht die Regierung, oder anders ausgedrückt: Das Ordnungs- und Bewertungszentrum der Person, nicht das Entscheidungsorgan. Das Entscheidungsorgan finden wir (wieder im Vergleich gesprochen) an der „Decke“ unserer „Nachrichtenzentrale“. Dort steht über allem Geschehen in den „Arbeitsbereichen“ und „Leuchtmustern“ riesengroß und hell erleuchtet das Wort „ICH“. Dabei muss ich hier gleich einem Missverständnis zuvorkommen: Gemeint ist hier nicht eine Art Über-Ich im Sinne Sigmund Freuds, das muss man hier gänzlich ausblenden, um nicht auf eine falsche Fährte zu gelangen. Gemeint ist der Persönlichkeits-Kern eines Menschen, in dem alle Teilbereiche (also sein Weltverständnis und sein Selbstverständnis) zusammen mit einem Ich-Bewusstsein, das sich selbst als werdendes, wollendes und handelndes Individuum erkennt, zu einem Ganzen integriert sind.

Dieses ICH hat den Überblick über alles Geschehen in den beiden Abteilungen „Weltverständnis“ und „Selbstverständnis“ und kann seine Entscheidungen danach ausrichten. Allerdings: Dieses ICH hat auch ein Gegenüber (vielleicht müssten wir, weil wir das ICH in unserem Vergleich oben an der Decke verortet haben, richtiger sagen: Ein „Gegenunter“), und das ist sozusagen der Boden, das Fundament, auf dem alles steht. Es ist die biologische Grundlage, die auch für alles geistige Leben unabdingbare Voraussetzung ist. Es ist unser natürliches EGO und das ist, wie könnte es anders sein, ein Egoist. Es neigt von seinen eigenen Antrieben her immer zu den Entscheidungen, von denen es für sich selbst am meisten erwartet. Das muss uns nicht verwundern, denn unser Ego stammt aus den Tiefen der Entwicklung des Lebens, wo das Prinzip vom „Kampf ums Dasein“ vorherrscht. Der Wille zum Überleben als Individuum, als Familie, Sippe und Stamm ist der stärkste unserer natürlichen Antriebe. Aber er ist nicht der einzige. Nein, sondern der Mensch ist das einzige Lebewesen, das bewusst darüber hinausgehen kann. Er ist das einzige Lebewesen, das nicht nur eine Weltwahrnehmung hat, sondern ein Weltverständnis und nicht nur eine Selbstwahrnehmung, sondern ein Selbstverständnis. Und dieses Verständnis der Welt und der eigenen Person macht es dem Menschen möglich, größere Zusammenhänge zu erkennen und dementsprechend zu handeln.

Das EGO sagt: Ich will fressen. Das Welt- und Selbstverständnis kann sagen: Iss nicht so viel. Erstens ist es ungesund und zweitens wollen andere auch was haben. Und ICH soll und kann mich entscheiden.

Das EGO sagt: Ich will Sex. Das Welt- und Selbstverständnis kann sagen: Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Aber wenn du deiner Partnerin/deinem Partner treu bleibst, wirst du vielleicht weniger Sex haben, aber euer Miteinander wird ehrlicher, offener und vertrauensvoller sein, vielleicht glücklicher. Und ICH soll und kann mich entscheiden.

Das EGO sagt: Ich will Macht, die ganze Macht. Das Welt- und Selbstverständnis kann sagen: Gerechtigkeit und Frieden sind besser als Macht. Denn Macht haben ist gut nur für wenige. Gerechtigkeit und Frieden sind gut für alle. Und ICH soll und kann mich entscheiden.

Damit wir nichts falsch verstehen: Es geht nicht darum, das Ich gegen das Ego auszuspielen und erst recht nicht darum, unser (angeblich) „triebhaft-animalisches Ego“ zugunsten unseres (angeblich) „edlen, vergeistigten Ich“ zu überwinden. Beide, unser Ego und unser Ich, sind unentbehrliche Bestandteile unserer Persönlichkeit. Es geht auch nicht darum, uns von der Macht des Ego zu befreien. Aber es geht manchmal (und oft auch ohne dass wir es merken) um die Befreiung von einer möglichen Über-Macht des Ego über die Entscheidungsfreiheit des Ich.

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Bodo Fiebig Die Blackbox der Innenwelt Version 2019 – 4

© 2019, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.

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