Bereich: A Vision und Konkretion

Thema: Reich Gottes und Demokratie

Beitrag 2: Die Urform der Demokratie (Bodo Fiebig15. September 2018)

Die Idee einer Beteiligung aller Mitglieder einer Volksgemeinschaft an der Verantwortung für das Wohlergehen und die Zukunft der Gemeinschaft, hat es zeitweise in mehreren Völkern gegeben (z.B. im antiken Griechenland oder in Island seit dem 10. Jahrhundert). Freilich war die Verwirklichung meist nur sehr eingeschränkt möglich, (nämlich beschränkt auf die sogenannten „Freien“ aus der jeweils bestimmenden Gruppe) und schloss einen großen Teil der Bevölkerung aus (z. B. die Frauen, die Sklaven und die Angehörigen von Minderheiten). Ihre allgemeinste und umfassendste Form findet diese Sehnsuchtsperspektive von „Freiheit und Teilhabe für alle“ in der Bibel.

Das mag manche überraschen, denen die biblische Geschichte des Volkes Israel im „Alten Testament“ als Jahrhunderte andauernde Monarchie vertraut ist mit den herausragenden Königsgestalten des David und seines Nachfolgers Salomon. Aber das ist nicht der Maß-gebende Anfang dieser Geschichte. Dieser Maß-gebende Anfang geschah Jahrhunderte zuvor und an ihm können wir erkennen, wie die „Geschichte“ eigentlich gemeint war. Gehen wir ihr nach, in fünf Schritten:

1 Die Befreiung

Als die Israeliten der Knechtschaft in Ägypten entflohen und nach dem Durchzug durch das Meer dem Herrschaftsbereich des ägyptischen Pharaos entkommen waren, da offenbarte derjenige, der sie befreit hatte, diesem Haufen entlaufener Sklaven, welche Ordnung er für ihre entstehende Volksgemeinschaft vorgesehen hatte: 2. Mose 19, 1-6: Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: „So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“

Hier kommt, bei einer entscheidenden Weichenstellung der Heilsgeschichte, direkt von Gott eine ausdrückliche Anweisung, wie in dem von Gott besonders gerufenen und in die Freiheit geführten Volk die Frage von Autorität und Herrschaft beantwortet werden soll. In allen Völkern rings umher gab es zwei Autoritäten: Die königliche Autorität und die priesterliche. Die Könige hatten die „weltliche“ Autorität, die sich auf die Macht der Schwerter und Soldaten stützte und die durch einen hierarchischen Beamtenapparat ausgeübt wurde. Die Priester hatten die „geistliche“ Autorität, die für sich in Anspruch nahm, die sichtbare Vertretung der unsichtbaren Götter wahrzunehmen. Was sie sagten, war Wort der Götter, und was sie taten, geschah in deren Auftrag. Wer die Priester in Frage stellte, griff die Götter selbst an! So hatten beide, Könige und Priester fast unangreifbare Machtpositionen inne, die sie weit über das „gemeine Volk“ hinaushoben. Königtum und Priestertum waren sich gegenseitig Stützte ihrer Macht.

Hier aber, im biblischen Bericht von der Befreiung und Berufung der Israeliten als Volk Gottes, ist die Rede davon, dass ein ganzes Volk mit allen seinen Angehörigen, den Alten und Jungen, den Männern und Frauen, den Starken und Schwachen, den Mächtigen und den Unbedeutenden, den Armen und Reichen … in ein „königliches Priestertum” eingesetzt werden soll. Eine völlig neue, noch nie dagewesene Form von Autorität und „Herrschaft“ ist hier angesprochen. Und das nicht als wirklichkeitsferne utopische Idee, sondern als Aufforderung, das Gemeinte tatsächlich zu verwirklichen: Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“.

Das Reich Gottes, wie es in der Bibel dargestellt wird, ist eben kein monarchistisch zugespitzter Machtapparat mit einem absoluten Herrscher an oberster Stelle. Das Volk Gottes im Alten Testament (Israel) hatte (nach der Befreiung aus der Sklaverei) jahrhundertelang gar keinen König, der sich auf die Macht der Schwerter stützen konnte, sondern „nur“ Propheten und Richter als Inhaber einer von Gott selbst eingesetzten und gestützten Autorität ohne menschliche Machtmittel. Als dann, Jahrhunderte nach den Ereignissen am Sinai, die Israeliten danach verlangten, einen König als „Monar­chen“, als „Alleinherrscher“ zu haben, weil sie sein wollten „wie alle anderen Völker auch“, da wurde dies ausdrücklich von Gott missbilligt, auch wenn er ihnen schließlich ihren Willen ließ (1.Sam 8, 4-22).

Im Neuen Testament rückt Jesus selbst jede monarchische Vorstellung und Ambition bei seinen Jüngern zurecht (Mt 20, 25-28): Aber Jesus rief sie (die Jünger) zu sich und sprach: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene, und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“.

Ebenso beschneidet Jesus auch die Vorstellungen seiner Jünger von herausgehobener geistlicher Autorität (Mt 23, 1-12): „… ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder“. Jesus selbst betont immer wieder die „demokratische“ Verfassung des Gottesreiches, das er verkündigt: so z. B. Jo 13, 1-18: Als er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder und sprach zu ihnen: Wisst ihr, was ich euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr und sagt es mit Recht, denn ich bin’s auch. Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.

Deutlicher kann man die Absage an ein monarchisch-hierarchisches System kaum formulieren. Ist vielleicht doch eine Demokratie (also wirkliche „Volks-Herrschaft“) auf biblischer Grundlage möglich? Im folgenden Abschnitt „Königliche Priesterschaft“ soll darauf näher eingegangen werden.

2 Königliche Priesterschaft

Wir Heutigen müssen erst ganz neu lernen, zu verstehen, was (biblisch gesehen) mit diesen Begriffen wirklich angesprochen ist, sonst trifft unsere (berechtigte!) Abwehr etwas, was in der Bibel so nie gemeint und gewollt war. „Ein Königreich von Priestern“ (im AT 2.Mose 19) und „königliche Priesterschaft“ (im NT 1. Petr 2, 9) meint beide Male die gleiche Sache, einmal aus dem Hebräischen und einmal aus dem Griechischen übersetzt. Gemeint ist beide Male eine Volksgemeinschaft, die als Ganzes(!) eine königliche und priesterliche Berufung und Verantwortung zugesprochen bekommt und die sie dann auch tatsächlich auf sich nimmt.

Die Verheißungen Gottes im Alten wie im Neuen Testament zielen eindeutig darauf hin, dass die Gaben, Berufungen und Vollmachten des königlichen Priestertums nicht einzelnen, herausgehobenen Amts-Personen, sondern dem ganzen Gottesvolk gelten. Joel 3,1-2, im Alten Testament:Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte (Visionen) sehen. Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen“. Genau so ge­schah es später am Entstehungstag der neutestamentlichen Gemeinde (Apg 2,1-4): Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.

Nach der biblischen Offenbarung (im alten und neuen Testament) ist es Gottes feste Absicht, seinen Geist über „alles Fleisch“ (hier in der Bedeutung von „alle Menschen”) auszugießen, nicht nur auf Amtspersonen, ja im Gegenteil geradezu bevorzugt auf solche, die gemeinhin als schwach und spirituell unzureichend befähigt gelten, auf „Söhne und Töchter, Jünglinge und Alte, Knechte und Mägde (wörtlich: Sklaven und Sklavinnen)“.

Ziel dieser Geistausgießung ist das allgemeine königliche Priestertum des ganzen Gottesvolkes in allen seinen Gliedern, mit Alten und Jungen, Männern und Frauen, Vorgesetzten und Untergebenen, Starken und Schwachen, Reichen und Armen … (ob die alle davon wissen und ihr „Amt” auch ausüben, ist eine andere Frage). Dies soll geschehen zum Segen für „alle Geschlechter auf Erden“, das heißt, das „König-Priestertum” ist Berufung und Auftrag aller Gläubigen zu allen Zeiten zum Segen für alle Menschen in allen Völkern.

Und dieser verheißene Segen für die Völker der Erde besteht (nicht nur, aber auch) in einer Herrschaftsform, an der unter der Leitung des Geistes Gottes alle Menschen beteiligt sind. Da, wo die Herrschaft Gottes (sein „Reich“) anerkannt ist, wird eine Gemeinschaft von Menschen möglich, die ohne bedrückend empfundene menschliche Herrschaft auskommt.

Als das Volk Israel aus dem Sklavenland befreit wurde, da sollte es nicht nur einen geografischen Weg in die Freiheit gehen (vom „Sklavenland“ ins „Gelobte Land“), sondern auch einen politischen Weg (vom hierarchischen Herrschafts-System des pharaonischen Gott-Königtums zu einem System gemeinsamer Verantwortung und Zuständigkeit) und einen spirituellen Weg (von menschlicher Willkür-Herrschaft zu einem Miteinander unter den menschenfreundlichen Geboten („Weisungen“) Gottes und der gemeinsamen Verantwortung vor ihm).

3 Göttliche Verheißungen und menschliche Politik

Aber kann es das in den machtpolitischen Verhältnissen der Völker in biblischer Zeit (ebenso wie in unserer Gegenwart) wirklich geben: Königliche und priesterliche Berufung eines ganzen Volkes? Das ist in beiden Fällen eine unglaubliche, gegen alles Denken und alle Erfahrung der damaligen Zeit verstoßende Vorstellung. König konnte es doch nur einen geben in jedem Volk! Und wenn es zwei gab, die Ansprüche auf den Thron erhoben, dann mussten sie den Machtkampf unter sich ausfechten, bis einer von ihnen auf der Strecke blieb und der andere die Macht an sich reißen konnte. Wie soll da ein ganzes Volk königliche Vollmacht haben? Und die Priester waren in allen Völkern der damaligen Zeit eine kleine, streng abgeschirmte Kaste, die aus ihrer (angeblichen) Mittlerrolle zwischen den Menschen und den Göttern eine fast unangreifbare Machtposition ableitete. Zu ihnen sah das Volk auf mit ehrfürchtiger Scheu! Wie sollte da ein ganzes Volk eine priesterliche Berufung haben und priesterlich denken und handeln? Und wozu sollte so ein „allgemeines königliches Priestertum“ da sein?

Die letzte dieser Fragen ist am leichtesten zu beantworten: Als Gott sich (Jahrhunderte zuvor) mit Abraham den Erstling des Volkes Israel erwählte, da gab er ihm eine Verheißung mit auf den Weg, die schon alles enthielt, was er mit diesem Volk vorhatte (1.Mose 12,3): In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter (alle Familienclans, Stämme, Völker und alle Generationen) auf Erden. Durch Abraham und seine Nachkommen wollte Gott alle Völker der Erde, also die ganze Menschheit, segnen. Und hier am Sinai, in dem Augenblick, wo Gott die Abrahamsnachkommen aus der Sklaverei befreite, sie durch gemeinsame Not und machtvolle Gotteserfahrungen zu einem Volk zusammenschweißte und schließlich mit ihnen einen Bund schloss, da machte Gott deutlich, dass dieser Segen nur wirksam werden kann, wenn das Volk Gottes wirklich das wird, was ihm von Gott als Berufung zugesagt ist: Ein königliches Priestertum, ja, aber nicht Einzelner, besonders herausgehobener „Führer“ im Volk, sondern des Volkes als Ganzes. Und genau das ist es, was in der Bibel das „Reich Gottes“ genannt wird (siehe das Thema „Dein Reich komme“), oder noch genauer: das noch vorläufige und unvollkommene Erstlings-Volk des Gottesreiches in dieser Welt und Zeit, durch das die Völker der Welt gesegnet werden, damit auch sie auf den Weg zur Vollendung des Reiches Gottes gelangen.

Und diese Segnung der Völker hat auch etwas mit der staatlichen Verfassung ihres Zusammenlebens zu tun. Diejenigen Völker der Welt, die heute in demokratischen Staaten leben, haben – oft ohne das zu ahnen – Anteil an diesem Segen (wir werden darauf noch zurückkommen). Es ist ja kein Zufall, dass die heutigen Formen von Demokratie dort entstanden, wo sich biblischer Glaube länger ausgewirkt hat, als irgendwo sind auf der Erde (in Europa bzw. in europäischen Völkern). Der verheißene Segen für die Völker der Erde besteht (nicht nur, aber auch) in einer Herrschaftsform, an der unter der Leitung des Geistes Gottes alle Menschen beteiligt sind. Da, wo die Herrschaft Gottes (sein „Reich“) anerkannt ist, wird eine Gemeinschaft von Menschen möglich, die ohne bedrückend empfundene menschliche Herrschaft auskommt.

Freilich: Die Demokratie wurde in der Vergangenheit oft als Widerspruch zum Herrschaftsanspruch Gottes gesehen: Entweder es geht alle Staatsgewalt, alle Regierungsvollmacht vom Volke aus (in der Demokratie) oder sie geht von Gott aus (im von Gott selbst eingesetzten „Königtum von Gottes Gnaden“ und in der Kirche durch deren leitende Hierarchien und Ämter). Die Herrschaft des Volkes (Demo-Kratie) wurde dann als Versuch der „Entmachtung Gottes“ empfunden.

Diese Alternative ist aber falsch und entspricht nicht der biblischen Offenbarung. Gott selbst hat sein Volk (sein ganzes Volk!) in eine königlich-priesterliche Verantwortung berufen, d. h. er möchte seinen Willen durch das Leben und Zusammenleben seines ganzes Volkes zum Ausdruck bringen. Er will nicht nur Amtspersonen mit seinem Geist (und damit auch mit der Verantwortung für das Ergehen in diesem Volk) ausrüsten, sondern alle Menschen, die sich seiner Leitung anvertrauen.

Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein“ (2.Mose 19,5). Wir sehen in diesen Worten: Die ganze Erde ist Reich Gottes, Schauplatz seiner Herrschaft, und innerhalb dieser globalen Gottesherrschaft sollte das Volk Israel (später zusammen mit der weltweiten Messias/Christus – Gemeinschaft) eine königlich-priesterliche Verantwortung wahrnehmen: Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (im Alten Testament 2. Mose 19,6)  und ebenso auch im Neuen Testament 1. Petr. 2,9): Ihr aber seid (…) die königliche Priesterschaft

Das war die erste Weisung, die schon alles umfassende „Thora“ für Israel, noch ehe es die 10 Gebote bekam. Diese königlich-priesterliche Berufung Israels (und später auch der christlichen Gemeinde) soll entscheidend dazu beitragen, dass (in der Zielperspektive der Vollendung) die ganze Erde sichtbar und erfahrbar Ort göttlichen Segens werden kann, und die ganze Menschheit „Volk Gottes“. Eine Menschheitsgemeinschaft, in der alle Menschen teilhaben an der „königlich-priesterlichen Verantwortung“ für das Ganze der Menschheit und Schöpfung.

Wenn das Volk Gottes Alten und Neuen Testaments seiner Ursprungsberufung gerecht werden will, dann muss es Lebensformen der Gemeinschaft finden und entwickeln, in denen es als Ganzes eine königliche und priesterliche Verantwortung wahrnimmt; dies aber nicht als Herrschaft der Macht, sondern als Diakonie der Liebe.

4 Die doppelte Verantwortung

Im Folgenden soll die doppelte Verantwortung des „königlichen Priestertum für alle“ in die Beziehung zu unseren modernen Vorstellungen von Demokratie gestellt werden.

Jeweils am Anfang ihrer Geschichte als Volk Gottes wird sowohl dem alttestamentlichen wie auch dem neutestamentlichen Gottesvolk ihre eigentliche (und gemeinsame!) Berufung zugesprochen (2.Mose 19,6): Ihr (angesprochen ist das Volk Israel am Sinai) sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Und 1. Petr 2,9: Ihr aber (angesprochen sind die „auserwählten Fremdlinge in der Zerstreuung“ -vgl. 1. Petr 1,1- also die christliche Gemeinde aus Juden und Nichtjuden, die in einer heidnischen Umwelt lebte) ... ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums … Königtum und Priesterschaft, das ist die gemeinsame Berufung des ganzen Gottesvolkes Alten und Neuen Testaments.

Dass hier alle Glieder des Gottesvolkes gleichermaßen mit dem Geist Gottes begabt sind und gleichzeitig alle menschlichen Hierarchien für überholt erklärt werden, das ist eine ungeheuerliche Provokation aller „Amtsträger“ und aller leitenden Institutionen aller Zeiten und wurde von den Inhabern von Machtpositionen immer als Affront empfunden. Sowohl „weltliche“ als auch „geistliche“ Amtsträger und Machthaber waren fast immer geneigt, die charismatisch-freien Äußerungen des Geistes Gottes durch „Laien ohne Amt und Würden“ zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen und gleichzeitig unter dem Deckmantel scheinbar demütiger Unterordnung unter Gott (z. B. als Kaiser und Fürsten „von Gottes Gnaden“ oder als „Stellvertreter Christi“) manchmal sehr menschlich-eigennützige Herrschaftsstrukturen zu errichten.

Freilich: Billig ist die Verwirklichung so einer „Reich-Gottes-Demokratie“ in Form eines „königlichen Priestertums“ des ganzen Volkes nicht zu haben. Sie setzt voraus, dass das „Volk Gottes“ seine Berufung auch wirklich annimmt und konkret verwirklicht. Der biblische Begriff „königliches Priestertum“ beinhaltet eine doppelte Verantwortung:

(Königliche Verantwortung): Verantwortung für Recht, Sicherheit, Wirtschaft, Versorgung, Umwelt usw. für das ganze Volk und für jeden Einzelnen. Die königliche Verantwortung hat die Aufgabe, das Leben der Menschen zu ermöglichen, zu fördern und zu schützen.

und (priesterliche Verantwortung): Verantwortung für Vergebung und Versöhnung zwischen Gott und den Menschen und zwischen den Menschen verschiedener Herkunft und Prägung, Geschlechter, Stände, Kulturen … untereinander. Die priesterliche Verantwortung hat die Aufgabe, die Beziehungen zu Gott zu intensivieren und das ZusammenLeben und den Frieden zwischen den Menschen zu ermöglichen, zu fördern und zu schützen. Auf diese doppelte Verantwortung soll nun noch einmal im Einzelnen hingewiesen werden:

4.1 Königliche Verantwortung

Königtum heißt Regierungsvollmacht und Auftrag zu ordnendem Handeln, durch das äußere Sicherheit und inneres Recht, Versorgung und Fürsorge usw. gewährleistet sein soll. Ein Volks-Königtum, wie es die Bibel hier anspricht, würde bedeuten, dass alle Glieder der Gemeinschaft mit allen ihren Begabungen gleichermaßen Anteil haben können (sie sind ja nicht verpflichtet) an der Verantwortung und der Vollmacht, an den Rechten und Pflichten, den Chancen und Ressourcen des Gemeinschaftslebens. In der Demokratie ist das Volk als Ganzes Inhaber dieser Vollmacht, die erst durch freie Wahlen an „Volksvertreter“ delegiert werden kann, wobei auch dann noch das Volk als Ganzes und jeder Einzelne im Volk Inhaber der Vollmacht bleibt und die Mehrheit der Bürger eines Landes sie ihren Volksvertretern auch wieder entziehen kann.

Hier (beim Aspekt „königliche Verantwortung“) kann ich mich kurz fassen, denn diese Art von Verantwortung kennen wir ja in allen demokratischen Regierungsformen. In der Realität der demokratischen Verfassungen der Gegenwart gibt es vielfältige Strukturen und Institutionen, die für die sachlichmaterielle Versorgung und soziale Sicherung der Menschen zuständig sind: Ministerien für Wirtschaft und Finanzen, für Arbeit und Gesundheit, für Sicherheit und Recht, Erziehung und Unterricht usw.

„Minister“ sind (wörtlich übersetzt) eigentlich „Diener“ oder „Diakone“, und „Ministerien“ sollten eigentlich so etwas wie „Dienstorganisationen“ sein (keine Herrschaftsinstrumente). Freilich: Die Dienstorgane der Gemeinschaft neigen auch in der Demokratie zur Verselbstständigung und Verabsolutierung und verstehen sich dann als „Regierung“, d. h. als Herrschaftsapparat. Ihnen hängen noch immer die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte an, in denen Verantwortung ganz selbstverständlich immer mit Macht- und Gewaltausübung verbunden war. Im biblischen Verständnis aber gibt es Regierungs-Verantwortung nur als Diakonie. Demokratisch legitimierte Verantwortung in allen Bereichen von sachlicher Ordnung und Verwaltung, das kennen wir von allen funktionierenden Demokratien.

Sehr ungewohnt ist uns aber der Gedanke einer „ priesterlich-spirituellen Verantwortung“ in einem „öffentlichen Gemeinwesen“ und deshalb muss hier etwas ausführlicher darauf eingegangen werden. Und wir werden merken: In der Realität der heutigen Demokratien sind die beiden oben genannten Verantwortlichkeiten sehr unterschiedlich stark ausgeprägt.

4.2 Priesterliche Verantwortung

Priesterschaft heißt Versöhnungsvollmacht und Auftrag zu spiritueller Verantwortung. Priesterliche Verantwortung ist zuständig für den Frieden mit Gott und für den Frieden unter den Menschen. Sie ist verantwortlich für die spirituell-ethische Begründung der Demokratie und deren Verankerung in der Sinn-Ebene des Daseins. Ein Volks-Priestertum, wie es die Bibel hier anspricht, würde bedeuten, dass alle Glieder der Gemeinschaft mit allen ihren Begabungen gleichermaßen Zugang bekommen zu den Segnungen und Herausforderungen einer unmittelbaren Gottesbeziehung. Durch das allgemeine Priestertum des ganzen Gottesvolkes ist auch diese Vollmacht dem ganzen Volk Gottes verliehen und jedem Einzelnen im Volk und kann erst dann durch Wahl oder Beauftragung an begabte und berufene Mit-Glieder delegiert werden. Wobei auch hier solche Berufungen niemals „auf Lebenszeit“ ausgesprochen werden können, weil ja immer die Gesamtheit des Gottesvolkes, die „Gemeinschaft der Heiligen“ und jeder der „Heiligen” in dieser Gemeinschaft, Inhaber der Vollmacht bleiben müssen, die sie den „Berufenen“ mit Mehrheit auch wieder entziehen können. So eine priesterliche Vollmacht des ganzen Gottesvolkes war und ist aber auch den meisten Christen kaum bewusst.

Im europäischen Mittelalter wurde jahrhundertelang erbittert darum gestritten, wem die höchste Autorität gebührt, der „weltlichen“ Herrschaft, also den Kaisern, Königen und Fürsten (die ja auch für sich in Anspruch nahmen „von Gottes Gnaden“ eingesetzt zu sein), oder dem „geistlichen“ Amt, also dem Papst mit seinen Bischöfen und Priestern. Aber diese Fragestellung geht an der biblischen Offenbarung vorbei: Weder Kaiser noch Papst sind die von Gott einsetzten Instanzen, durch die Gott „alle Völker auf Erden segnen“ will, sondern das allgemeine königliche Priestertum des ganzen Gottesvolkes.

Im Laufe von Entwicklungen im 18. bis 20. Jahrhundert, durch die das Königtum durch (mehr oder weniger) demokratische Strukturen abgelöst wurde*, entstanden nun Wahlämter für die sachlich notwendigen Belange des Gemeinwesens (Ministerien für die verschiedenen Sachbereiche). Gleichzeitig wurde die „Trennung von Kirche und Staat“ vollzogen, durch die eine priesterliche Verantwortung für das Ganze des Gemeinwesens abgeschnitten wurde. Diese „Trennung“ wurde herbeigeführt, um Konkurrenzsituationen zwischen beiden zu vermeiden. (Dass da noch viele andere Aspekte eine Rolle spielten, ist hier nicht Gegenstand der Erörterung). So hatten z. B. Kirchen zeitweise die Aufsicht über das Schulwesen und die Personenstandsregister (Geburten, Eheschließungen, Todesfälle …), so dass staats-hoheitliche Aufgaben und geistliches Amt vermischt waren. Diese Überschneidungen zu trennen, war richtig und notwendig.

* (z. B. in Europa nach der „Französischen Revolution“, siehe dazu auch das Thema „Die Revolution und ihre Kinder“)

In der Folge gibt es aber nun gar keine verantwortlichen Institutionen einer spirituellen Verantwortung mehr für die Gesellschaft als Ganzes in den demokratischen Staaten Europas. Mit der Trennung von Kirche und Staat wurde jede Art von spiritueller Verantwortung aus dem staatlich-gesellschaftlichen System ganz ausgeschlossen. Die Glaubensgemeinschaften sollten nun nur noch für ihre eigenen internen Angelegenheiten zuständig sein und sich aus allen öffentlichen Belangen heraushalten.

Die Verfassungen der Demokratien (z. B. das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland) enthalten zwar manchmal noch einen „Gottesbezug“ in der Präambel, dieser wird aber von vielen abgelehnt und im konkreten politischen Handeln zumeist stillschweigend übergangen. Die Verfassungen bestehen jetzt nur noch aus Rechtssatzungen und das Anliegen von Vergebung und Versöhnung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe (also eine spirituell-priesterliche Verantwortung) ist längst ganz aus dem Blickfeld verschwunden. Die „spirituelle Verfassung“ der Menschen wurde zur Privatsache, und weil es private Verantwortung immer nur für die eigenen privaten Belange geben kann, wurde eine spirituelle Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes unmöglich. Man meint, ein moderner Staat könne und müsse „weltanschaulich neutral“ sein und könne auch ohne spirituelle Verantwortung (und das bedeutet in der Konsequenz auch: ohne ethische Verantwortung) auskommen.

Das bedeutet: Die Frage nach einer geistlichen Leitung ist in den gegenwärtigen Demokratien völlig ungeklärt. So etwas wird meist nicht für nötig erachtet, oft auch vehement abgelehnt. Man gesteht den christlichen Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften das Recht zu, sich zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen zu äußern, verweist sie aber gleichzeitig in eine Nische von unverbindlicher Meinungsäußerung. Eine demokratische Willensbildung und Willensäußerung in Bezug auf ethische und weltanschauliche Grundlagen der Gesellschaft findet nicht statt. Das überlässt man den sogenannten „gesellschaftlichen Kräften“ (z. B. Parteien), ohne danach zu fragen, woher die kommen, auf welcher Grundlage sie arbeiten und welche Ziele sie verfolgen, und man gibt ihnen Raum, auch wenn sie erkennbar und massiv antidemokratische Bestrebungen vertreten und fördern. Die Folge davon ist: Es gibt keinen gesellschaftlichen Grundkonsens, wenn es um ethische und gesamtgesellschaftliche Fragestellungen geht.

Die Erwartung, dass der ungeregelte und sich selbst überlassene gesellschaftliche Diskurs „von allein“ tragfähige geistig-weltanschauliche Grundlagen für stabile Demokratien entwickeln würde, ist eine sträflich naive Illusion. Das Scheitern dieser Illusion erleben wir gegenwärtig auf allen Ebenen: Aggressive, autoritäre, zum Teil wirre, zum Teil menschenfeindliche Vorstellungen versuchen sich mit verbaler, oft auch körperlicher Gewalt Bahn zu brechen. Und die „Gesellschaft“ sieht erschrocken, fassungslos und hilflos zu und hat keine Vorstellung, wie man sich dessen erwehren könnte.

Machtbewusste, autoritäre und gewalttätige Strömungen sind gegenüber verantwortungsbewussten, ausgleichenden und friedlichen Bewegungen immer im Vorteil. Ihnen nachzugeben, wäre so, als ob man im gewohnten Wettbewerb der Parteien bei anstehenden Wahlen den lautesten und aggressivsten Gruppen die Möglichkeit gäbe, per Faustkampf zu entscheiden, wer als „gewählt“ gilt, oder als ob die Gewichtung der Stimmen anhand der Lautstärke der Schreier vorgenommen würde. Allen wäre klar: So kann man keine demokratischen Wahlen für die sachliche Arbeit von demokratischen Institutionen gestalten.

Wenn es um die spirituelle Verfassung demokratischer Staaten geht, meint man aber, genau so zu guten Ergebnissen zu kommen. Man überträgt hier die liberalistische Vorstellung vom „Freien Markt“ auf die geistige Verfassung von Völkern und Staaten. Und übersieht dabei, dass ja schon im Bereich von Wirtschaft und Finanzen der ungezügelte „freie Markt“ zu Unterdrückung und Ausbeutung der Schwächeren durch die Marktmacht der Größten, Reichsten und Rücksichtslosesten führt. Wie viel mehr im Wettstreit der Ideen, Ideale und Ideologien!

Wir müssen es wieder wahrnehmen: Auch für die spirituelle Verfassung von demokratischen Gesellschaften braucht es bestimmte geregelte Verfahren, wie da die Meinungen und Überzeugungen zu einem friedlichen Ausgleich und zu einem tragfähigen Grundkonsens kommen können. Dabei ergibt sich ein Problem: Solange die Demokratie als eine rein inner-menschlich organisierte Gesellschaftsform verstanden wird, ist sie immer in einer sehr schwachen Position. Das „Recht des Stärkeren“ wird sich überall durchsetzen, wo ihn nicht die „Stärke des Rechts“ Widerstand leistet. Die Stärke des Rechts braucht aber, um stark zu sein, ein Fundament, das sie sich nicht  selbst geben kann (weil sie sonst doch wieder vom Egoismus der Macht vereinnahmt würde). Die Demokratie ist auf Dauer ohne ein von außen gestützes spirituelles „Innengerüst“ und ohne ein ethisches “Fundament“ nicht widerstandsfähig gegenüber den neuen (und alten, jetzt aber globalen) Mächten der „Selbstermächtigung“.

Wenn wir aber in der Demokratie eine vom Schöpfer der Welt gegebene Grundordnung für das Miteinander von Menschen erkennen, und wenn diese Grundordnung durch „Weisungen“ gestützt ist, die sich die Machthungrigen nicht selbst  erobern können (weil sie von Gott kommen), dann kann da ein starkes und tragfähiges Fundament für demokratische Gemeinwesen entstehen.

Erst allmählich beginnt man zu verstehen, dass ein „spirituelles Vakuum“ in einem Gemeinwesen einen Sog erzeugt, welcher Einstellungen und Vorgehensweisen anzieht und verdichtet, die eben dieses Gemeinwesen (und vor allem seine freiheitlich-demokratische Grundordnung) von innen heraus zerstören wollen und können. Das erleben wir gegenwärtig im Übermaß: Jede geistige Strömung hat gleichberechtigt Zugang zur Öffentlichkeit, auch dann, wenn es sich um Hass und Hetze, um bewusste Lüge und bewusst gesteuerte Irreführung, um Diskriminierung und Verleumdung handelt. Und das wird vor allem von jenen Kräften genutzt, welche die Demokratie zerstören und gewalttätige Diktaturen an die Macht bringen wollen.

Das bedeutet nicht, dass Glaubensgemeinschaften versuchen sollten, nun wieder Einfluss auf konkrete politische Entscheidungen zu nehmen, aber doch, dass auch Demokratien gemeinsame spirituelle und (daraus abgleitet) ethische Grundlagen brauchen. Ja, noch mehr: Dass die ganze Menschheitsgemeinschaft in einer zunehmend globalisierten Welt nicht ohne ein gemeinsames, spirituell begründetes ethisches Fundament auskommen kann (siehe dazu auch das Thema „Die Krise der Demokratie“ im Bereich „Herausforderungen der Gegenwart“).

Was in den heute existierenden Demokratien also weitgehend fehlt, ist die „priesterliche Verantwortung“ (oder mit unseren heutigen Begriffen: ein spirituell-ethisches Element, das für Frieden und Versöhnung eintritt und das über alle Unterschiede von Völkern, Kulturen und Religionen hinaus eine „Ethik der Mitmenschlichkeit“ entwickeln hilft. Die Demokratie braucht so eine Ethik als Fundament für ein verantwortungsbewusstes Miteinander und Füreinander in den verschiedensten Situationen und Herausforderungen des Gemeinwesens in ihrer Zeit. Und es fehlt (auf globaler Ebene) gleichzeitig eine spirituelle Institution, die mit einer allgemeinen globalen ethischen Verantwortung die nationalen Demokratien stützt (siehe im Thema „Das Jerusalem-Projekt“ den Beitrag „Das spirituelle Zentrum“). Es fehlt also eine globale qualitativ-ethische Ergänzung für die nationalen und rein quantitativ-sachlich geregelten Demokratien der Gegen­wart (siehe dazu den Beitrag „apostolische Verantwortung“ zum Thema „Das Jerusalem-Projekt“, das Thema „Die Krise der Demokratie“ im Bereich „Herausforderungen der Gegenwart“ und das hier folgende Thema „Die Qualitative Demokratie“).

5 Reich-Gottes-Demokratie

Festzuhalten ist also, dass nach der biblischen Offenbarung Alten und Neuen Testaments im Volk Gottes sowohl das priesterliche als auch das königliche Amt primär und dauerhaft gültig ein dem ganzen Gottesvolk verliehenes, also mit unseren „modernen“ Worten gesprochen, ein demokratisches Amt sein soll. Ja, das „Reich Gottes“ (das mit der Volkwerdung Israels am Sinai seine erste irdisch-handgreifliche Konkretisierung erfuhr und das mit der nachösterlichen Christenheit in eine Weltdimension hineinwuchs) ist die Urform der Demokratie, kein „Gottesstaat“, in dem eine Ämterhierarchie von Priestern regiert, und kein „Königtum von Gottes Gnaden“ mit dem dazu gehörigen (auf den „Alleinherrscher“ zugeschnittenen) hierarchischen Beamtenapparat und entsprechender Militär-Macht, sondern die königlich-priesterliche Verantwortung und Berufung des ganzen Volkes.

Selbstverständlich wäre es falsch, „Reich Gottes” und „Demokratie” einfach gleichzusetzen. Auch in Demokratien kann es viel Widergöttliches geben. Auch Demokratien können gottlos werden und dadurch auch menschenfeindlich. Die Demokratie (nicht Anarchie!) ist aber trotzdem diejenige Organisationsform menschlicher Gemeinschaft, die dem Anliegen des Reiches Gottes zumindest potenziell am nächsten kommt, sie ist das „Gefäß”, das am leichtesten mit den Inhalten gefüllt werden kann, die Gott in seinem Reich für das Miteinander der Menschen vorgesehen hat.

Reich Gottes und Demokratie sind kein Widerspruch. Vielmehr ist die Demokratie diejenige Organisationsform staatlicher Gemeinschaft, die dem Grundanliegen des biblisch verkündigten Gottesreiches am besten entspricht, und das „Reich Gottes“ ist die best-mögliche Grundlage für eine globale Demokratie, in der die ganze Menschheit zu einer umfassenden Gemeinschaft des Miteinander und Füreinander werden kann. Das war die Absicht, die Leit-Idee, der Gott folgte, als er das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit führte.

Diese „Urform der Demokratie“ beinhaltet nicht nur, wie in modernen Demokratien üblich, eine Beteiligung des ganzen Volkes an der Regierungsvollmacht, sondern sie verlangt auch eine Demokratisierung der spirituellen Berufung und Verantwortung. Die „Ämterfrage“ stellt sich dabei in den „Kirchen“ und „Gesellschaften“ gleichermaßen: Wird hier wirklich dem ganzen „Volk“ ein weitgehendes Mitsprache- und Mitentscheidungs-Recht zugestanden, oder werden hinter hochgehaltenen scheindemokratischen Etiketten doch die wesentlichen Dinge in den Hinterzimmern der Macht entschieden? Davon hängt auch ab, ob die jeweiligen Gemeinwesen auch von der ganzen Fülle der von Gott verliehenen Begabungen profitieren.

Das gilt auch für den spirituellen Aspekt. Das „allgemeine Priestertum“ wird in den großen christlichen Kirchen zwar theoretisch anerkannt*, praktisch wird es aber vom besonderen, herausgehobenen Amtspriestertum des Klerus überdeckt und zum Teil auch verhindert. Auch in den protestantischen Kirchen wird das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ zwar als theologisches Markenzeichen hochgehalten, aber in der Realität meist nur in sehr bescheidenem Umfang angewendet.

* Z. B. in der röm. kath. Kirche (im „Katechismus der katholischen Kirche“, München 1993, unter Ziffer 1546): „Die ganze Gemeinschaft der Gläubigen ist als solche priesterlich (…). Durch die Sakramente der Taufe und der Firmung werden die Gläubigen zu einem heiligen Priestertum geweiht.“

Diese „undemokratische Realität hinter offiziell demokratischen Verfassungen“ hat seine Parallelen auch in der gesellschaftlich-politischen Realität. Auch die Formen von parlamentarischer Demokratie, die wir in den gegenwärtigen demokratischen Verfassungen kennen, ermöglichen nur eine sehr eingeschränkte Teilhabe des Volkes an der Regierungsvollmacht. Der im Abstand von mehreren Jahren stattfindende Wahlakt ist nur ein sehr dürftiger Ausdruck für die viel umfassendere Vollmacht, die in der Bibel Alten und Neuen Testaments mit „Königlicher Priesterschaft“ des ganzen Gottesvolkes gemeint ist. Da geht es um das sich Auswirken und um das Zusammenwirken aller von Gott verliehenen Gaben und Talente in allen und durch alle, zum Segen für die ganze Gemeinschaft und für alle Völker und Generationen der Menschheit. (Siehe dazu auch die Beiträge zum Thema „Die Qualitative Demokratie“)

Die Demokratie kann dann zur sichtbaren (wenn auch immer unvollkommenen) Vor-Verwirklichung des noch verborgenen Gottesreiches werden, wenn sie eine „königliche Priesterschaft“ ermöglicht, durch die alle Mitglieder der Gemeinschaft auch tatsächlich und handgreiflich eine weitgehende Mit-Teihabe (an den Chancen und Ressourcen der Gemeinschaft), Mit-Verantwortung (an den Entwicklungen der Gegenwart und den Herausforderungen der Zukunft) und Mit-Vollmacht (an den Entscheidungsprozessen und Handlungsmöglichkeiten) bekommen. Und wenn die Mitglieder der Gemeinschaft zugleich und tatsächlich eine möglichst weitgehende Mit-Teilhabe (an den geistlichen Gaben und Berufungen), Mit-Verantwortung (an den Entwicklungen der Gegenwart und den Herausforderungen der Zukunft bezüglich der ethischen Begründung und der Sinnorientierung* des Menschseins) und Mit-Vollmacht (an den Entscheidungsprozessen und Handlungsmöglichkeiten der Glaubensgemeinschaften) bekommen.

* Siehe das Thema „Die Frage nach dem Sinn“ im Bereich „Grundfragen des Lebens“.

In einer ethisch-spirituell begründeten Demokratie kann nicht die formale Beteiligung des Volkes durch den einmaligen Wahlakt im Abstand von mehreren Jahren die einzige Form der Teilhabe am Aufbau und der Entwicklung des Gemeinwesens sein. Vielmehr muss jeder Einzelne die Möglichkeit haben, auch direkt seine Meinungen, Fähigkeiten und Ziele in die gesellschaftlichen und spirituellen Prozesse mit einzubringen (ob alle diese Möglichkeiten dann auch nutzen, ist deren eigene Entscheidung). Nur so könnte das „königliche Priestertum“ des ganzen Volkes Realität werden.

Wie ernst Gott das selbst meint, ist an folgendem Beispiel erkennbar: Als im Laufe des 20. Jahrhunderts nach fast zweitausendjähriger Vertreibung und Zerstreuung die verheißene Sammlung des Volkes Israel in seinem verheißenen Lande sich tatsächlich vollzog, da gestaltete Gott den äußeren politischen Rahmen für die Wiedererstehung Israels als Demokratie inmitten einer Region, die aus lauter Feudalherrschaften und Diktaturen bestand.

Welche konkreten Formen diese „demokratische Verfassung“ des Reiches Gottes in dieser Welt und Zeit annehmen könnte, davon wird noch die Rede sein (siehe die folgenden Themen „Die Qualitative Demokratie” und „Konkrete Visionen“). Freilich wird eine solche „Reich-Gottes-Demokratie“ nur dann funktionieren, wenn dort auch wirklich versucht wird, dem Willen Gottes für seine Schöpfung zu entsprechen. Überall da, wo einzelne Machthaber oder kleine Machteliten für sich selbst die oberste Machtposition beanspruchten, haben sich ihre Herrschaftssysteme in allen Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte als bedrückende Diktaturen erwiesen.

Die von Gott von Anfang an gemeinte und gewollte Form von sachlicher und spiritueller Verantwortung (in Israel als dem Modellvolk des Gottesreiches und später auch in der Christenheit, und in der Zielrichtung dann für „alle Geschlechter auf Erden“) ist ein königliches Priestertum des ganzen Volkes, in dem die Liebe Gottes in allen das Miteinander der Menschen regiert und in dem die Liebe Gottes auch durch alle Versöhnung und Frieden stiftet.

Die vom Schöpfer des Alls für die Gemeinschaft des Menschseins auf dieser Erde vorgesehene Gemeinschaftsordnung ist eine in der Verantwortung vor Gott von den Menschen gestaltete Demokratie.

Nun könnte man mit Recht hier den Vorwurf einbringen, dass man auf diese Weise das Christentum in eine Position der Vorherrschaft über alle anderen spirituellen Haltungen und Begründungen der Völker und Kulturen setzen wollte. Das ist aber nicht gemeint und nicht gewollt. Die Religionen und Weltanschauungen der Menschheit werden nicht als „Konkurrenten“ beim Kampf um die „Seelen“ der Menschen angesehen (siehe dazu das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“). Eine Reich-Gottes Demokratie wäre um so viel größer als ein „christlicher Staat“, wie das „Reich Gottes“ größer ist als die christliche Kirche.

Wie diese Überlegungen vom theologischen Gedankenspiel zum konkreten Handeln und Leben umgewandelt werden könnten, davon wird in den folgenden Themen „Die Qualitative Demokratie“ und „Konkrete Visionen“ die Rede sein.

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Die Ur-Form der Demokratie,  Version 2022-8

c 2014 Bodo Fiebig, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.

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