Reich Gottes und Demokratie? Was sollen denn die miteinander zu tun haben? Größer könnten die Gegensätzlichkeiten doch kaum sein! „Demokratie auf biblischer Grundlage“, das klingt in manchen Ohren so widersprüchlich und unsinnig wie „Freiheit auf der Grundlage von Diktatur“. Die Idee vom „Gottesreich auf Erden“ ist für die meisten Menschen in den demokratisch verfassten Ländern der Gegenwart eher ein Schreckgespenst als eine verlockende Aussicht. Wir haben da die Vorstellung von fanatischen „Gotteskriegern“, die mit Hass und Gewalt einen harten und intoleranten „Gottesstaat“ verwirklichen wollen, in dem die Freiheit der Meinungen, des Glaubens und der Lebensführung mit dem Knüppel religiösen Zwangs zerschlagen wird.
Dass es so etwas gibt, ist offensichtlich (wenn auch gegenwärtig nicht mit biblischem Hintergrund; heute gehören Christen und Juden zu den meistverfolgten religiösen Minderheiten weltweit). Und dass es religiös motivierte Gewalt auch in der Geschichte des Christentums gab, ist unbestritten. Also: „Reich Gottes? – Nein, danke!“
Aber entspricht das, was der Begriff „Reich Gottes“ an Vorstellungen in uns weckt, auch dem, was in der Bibel damit gemeint ist? Was steckt denn wirklich hinter dieser so kompakt und abweisend wirkenden Formel? Es hilft nichts: Wir müssen, wenn wir dieser Frage nachgehen wollen, die biblischen Texte selbst zu Rate ziehen (siehe auch das Thema „Dein Reich komme” im Bereich „Jesus – die Botschaft“, dort wird der biblische Hintergrund ausführlicher dargestellt).
Für unser Thema ist es wichtig, zunächst einmal wahrzunehmen, was in der Bibel mit „Reich Gottes“ eigentlich gemeint ist. Erst im Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft in der ganzen „Heiligen Schrift“ Alten und Neuen Testaments wird eine durchgängige Grundlinie erkennbar. Und wir werden sehen: Die (biblische) Rede vom „Reich Gottes” gibt für das Leben im „Volk Gottes” nicht eine gewalttätig intolerante und monarchisch zugespitzte Herrschaftsstruktur vor, sondern eine spirituell-demokratische Verfassung, durch die allen Menschen die gleiche Würde und Vollmacht zugeschrieben wird. (Das mag bei manchen unter uns auf heftigen Widerspruch stoßen. Aber wir sollten bereit sein, eine „Fakten-basierte Analyse“ wenigstens zuzulassen.)
1 Ordnungen für die Freiheit
Das, was man „Reich Gottes” nennen könnte, wurde zum ersten Mal nach der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten ansatzweise konkret. In den Großreichen der Antike (Ägypten, Babylonien, Assyrien …) war es ganz selbstverständlich: Da bestand die „Bevölkerung“ des jeweiligen Herrschaftsbereichs zu einem beträchtlichen Teil aus kleineren oder größeren Sklavenvölkern (meist „Kriegsbeute“, die man bei der Eroberung fremder Länder mit „erbeutet“ hatte) gegenüber einer Oberschicht aus Sklavenhaltern. Diese Sklavenvölker waren es, die jene großartigen Bauwerke (z. B. die Pyramiden von Gizeh) bauten, die wir heute noch bewundern. Der 12-Stämme-Verbund, den man später „das Volk Israel“ nannte, war über lange Zeit so ein Sklavenvolk im Herrschaftsbereich des Pharao in Ägypten. Und diesem Sklavenvolk gelang etwas ganz Unglaubliches: Es konnte als Ganzes dem Herrschaftsbereich seiner Sklavenhalter entkommen. Wie das möglich wurde, kann man im „Alten Testament“ der Bibel nachlesen (im 2. Buch Mose).
Diese eben entkommenen Sklaven wussten, was Unfreiheit und Unterdrückung bedeuten. Sie sehnten sich nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Und sie sahen keine andere Möglichkeit das zu verwirklichen, als dem zu folgen, der sich als so mächtig erwiesen hatte, dass er sie der mächtigsten Großmacht der damaligen Zeit (dem pharaonischen Ägypten) entreißen konnte. Und dieser Mächtige, den sie den „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ nannten, der wollte sie in eine (in der Geschichte der Völker bis dahin nie dagewesene) Freiheit führen, nicht in neue Unterwerfung und Abhängigkeit.
Hier am Berg Sinai, schon in der Freiheit (aber noch unterwegs im Unbekannten) ordnete sich das Zusammenleben der Überlebenden unter der Leitung dieses Gottes eben nicht als Monarchie und nicht als Priesterstaat, sondern als lose Gemeinschaft der Befreiten ohne übergeordnete und starke Herrschaftsstrukturen. Ihre „Verfassung“ (die sie direkt von ihrem Befreier bekamen) bestand aus einer „Rechtsordnung der Mitmenschlichkeit“ (2. Mose 20, 8-17) Wir nennen sie die „zehn Gebote“: Gedenke des Ruhe-Tages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht ein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. (…) Man muss sich das einmal bewusst machen: Arbeitsschutz-Rechte für alle, für alle Menschen und sogar für die Nutztiere, und das in der frühesten Antike! Woanders wurden die erst viele Jahrtausende später eingeführt und auch dann nur teilweise. Im Judentum, (in und außerhalb Israels) gelten sie ununterbrochen von damals (vor mehr als 3000 Jahren) bis heute.
Auch die folgenden Gebote sind Freiheits-Rechte
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. (Fast überall sonst in dieser Zeit wurde bedingungsloser Gehorsam der Kinder gegenüber den Eltern verlangt. Und dieser bedingungslose Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern war schon das „Übungsfeld“ für den bedingungslosen Gehorsam, den sie als Erwachsene ihren Herrschern schuldig waren. Das hier angewiesene „Ehren“ erwartet zwar auch Achtung gegenüber dem, was die Eltern sagen, aber eben nicht totale Unterwerfung.)
Du sollst nicht töten. (Zum Beispiel als Blut-Rache und Gegen-Rache, um die Familien-Ehre wieder herzustellen, eine der häufigen Todesursachen jener Zeit, wenn nicht gerade Krieg war).
Du sollst nicht ehebrechen. (Die Liebes-Gemeinschaft der Ehe ist mehr als ein „Abkommen auf Zeit“, sondern ein Vertrauensbund ohne Zeitbegrenzung und somit „Ebenbild“ des Treue-Bundes, den Gott den Menschen anbietet.)
Du sollst nicht stehlen. (Eigentum soll geschützt sein, ja, aber Habgier und maßloser Reichtum werden in der ganzen Bibel Alten und Neuen Testaments verurteilt).
Du sollst nicht falsche Zeugenaussagen machen gegen deinen Nächsten. (Unrecht durch „Fake“, also durch Wahrheitsverfälschung, ist nicht erst ein Übel unserer Zeit.)
Du sollst nicht etwas haben wollen, was zu deinem Nächsten gehört: Sein Haus, seine Familie, seine Mitarbeiter, sein Eigentum … (Unrecht durch Raub, siehe oben „du sollst nicht stehlen“, ist fast überall verboten, aber das geschickte „an-sich-bringen“ fremden Gutes durch „legale“ Tricks und durch das „Recht des Stärkeren oder Reicheren“ ist fast überall erlaubt, nicht aber bei den „Geboten“ Gottes).
Voraussetzung dafür, dass so eine „Rechtsordnung der Mitmenschlichkeit“ tatsächlich gelingen könnte, war, dass die Befreiten unter der An-Leitung und An-Weisung ihres Befreiers blieben und nicht in die Lebensordnung von Sklavenhaltern und Sklaven zurückfielen (eine Lebensordnung, die ja auch in den Religionen der Sklavenhalter begründet war und die die Übermacht der einen und die Rechtlosigkeit der anderen begründeten und festigten). Deshalb sagt dieser „Befreier-Gott“ (2. Mose 20, 2-7): Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir auch keine Götzenbilder machen (…) bete sie nicht an und diene ihnen nicht! (…) Und: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht missbrauchen (… missbrauchen z. B. auch nicht dadurch, dass man die eigenen Bestrebungen als den Willen Gottes ausgibt, um sie besser durchzusetzen.)
Diese Gemeinschaft entlaufener Sklaven mit der „Rechtsordnung der Mitmenschlichkeit“ stand dann in den folgenden Jahrhunderten unter der Leitung von sogenannten „Richtern“ und „Propheten“. Die waren ohne eigene Machtbasis, ohne Soldaten, Waffen und Geheimpolizei, aber ausgestattet mit der Vollmacht Gottes, in seinem Namen zu reden und zu handeln. Und die Stämme Israels mussten selbst entscheiden, ob sie diesem Reden und Handeln folgen wollten oder nicht. Und das, obwohl in allen umliegenden Völkern und Kulturen der damaligen Welt das monarchische Prinzip von Befehl und Gehorsam durchgängig Gültigkeit hatte! Zusammengehalten wurde dieser lose Verband von selbständigen Stämmen durch die oben genannten „Weisungen” (Gebote), die aber nicht von menschlichen Herrschergestalten kamen (die immer in der Gefahr sind, zu unmenschlichen Despoten zu werden), sondern von Gott selbst, von dem Gott, der allen Menschen Recht schafft und die Armen und Benachteiligten besonders liebt.
Diese Gebote wurden Israel gegeben, damit es als „Volk in der Freiheit“ eine Orientierung und Hilfe hätte für das Zusammenleben in einer Volksgemeinschaft, die Träger einer weltumfassenden Verheißung sein und werden sollte. Als die Israeliten noch Sklaven waren, brauchten sie keine eigenen Ordnungen. Die Gesetze ihrer Sklavenhalter-Herren waren für sie allein gültiges Recht (bzw. Un-Recht). Nun aber, in der Freiheit, war es unbedingt notwendig, eine eigene Rechtsordnung zu haben, aber nicht als Zwang durch eine menschliche „Herrschaft“, sondern als göttliches An-Gebot und als „Ordnungsrahmen der Freiheit“. Die Grundzüge dieser Rechtsordnung bekam das entstehende Volk in Form von „Weisungen“ (Geboten), von Gott selbst auf steinerne Tafeln graviert (also auf einem unvergänglichen Material bleibend festgehalten).
Aber wie soll sich das „Reich Gottes“ konkret in den Verhältnissen und Abläufen dieser Welt darstellen, und was soll das alles mit „Demokratie“ zu tun haben? Dazu müssen wir nun einen Blick in das spätere „Neue Testament“ werfen („Testament“ heißt eigentlich „Bund“; Gott hatte einen ersten Bund mit seinem ersterwählten (und bleibenden) Volk Israel geschlossen und dann später diesen Bund erweitert mit hinzuberufenen Menschen aus allen Völkern der Menschheit).
2 Die Rede Jesu vom nahegekommenen Gottesreich
Am deutlichsten begegnet uns die biblischen Reich-Gottes-Vorstellung in der Predigt Jesu. Die Botschaft Jesu im Neuen Testament hat ein zentrales Thema: Dieses wird am Anfang der Evangelien (bei Mt, Mk, Lk) nach der einleitenden Vorgeschichte genau angegeben:
Mt 4,7: Von da an begann Jesus zu verkündigen: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!“
Mk 1,14+15: Er verkündigte das Evangelium Gottes und sprach: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“
Lk 4,43: Er sagte zu ihnen: „Ich muss auch den anderen Städten das Evangelium vom Reich Gottes verkündigen, denn dazu bin ich gesandt worden“.
Das „Reich Gottes“ (oder „Himmelreich“ – die beiden Begriffe sind in ihrer Bedeutung gleich, die Juden zur Zeit Jesu haben nur aus Scheu, den Namen Gottes zu gebrauchen, diese Umschreibung verwendet: Man sagte „Himmel“, wenn man „Gott“ meinte) steht im Zentrum der Botschaft Jesu. Im Neuen Testament bezeichnet allerdings der Begriff „Reich“ nicht in erster Linie ein Land, ein Staatsgebiet (etwa wie bei „Deutsches Reich“ oder „Frankreich“), sondern ein Herrschaftsverhältnis. „Gott-Königtum“, bzw. „Königsherrschaft Gottes“ wären sinngetreue Übersetzungen der Begriffe „Reich Gottes“ oder „Himmelreich“. Eine ausführlichere inhaltliche Darstellung der Verkündigung Jesu vom „Reich Gottes“ ist im Thema „Dein Reich komme“ enthalten. Hier geht es nur noch darum, die „Lebensregel“ oder „innere Ordnung“ dieses „Reiches“ anzusprechen.
Jesus wird einmal gefragt (Mt 22, 36-40, hier etwas freier übersetzt): „Welches ist das höchste (oder wichtigste) der Gebote“ (und was ist überhaupt das Wichtigste, das in der ganzen Bibel steht)? Und Jesus antwortet: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deinem Sinnen und Verstehen. Das ist das höchste und wichtigste der Gebote. Aber das andere ist genau so wichtig: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten ist das Zentrum der biblischen Botschaft zusammengefasst.“ Das ist die „Lebensregel“, die „innere Ordnung“, das „Grundgesetz“ im „Reich Gottes“, d. h. im Volk und Land seiner „Königsherrschaft“ (und Jesus, im Neuen Testament, zitiert dieses „Doppelgebot der Liebe“ aus dem Alten Testament, so gilt es für Juden und Christen gleichermaßen).
Das ist aber keineswegs ein völlig neues Thema im Gesamtzusammenhang der biblischen Botschaft: „Der Herr ist König, des freue sich alles Erdreich und seien fröhlich die Inseln, soviel ihrer sind.“ So beginnt eines der „Lieder vom Königtum Gottes“, einer jener Psalmen, die Gott als König über alle Völker, als Herrscher über die ganze Erde und Herrn über alles Geschaffene preisen (Psalmen 47, 93 und 96-99; der oben angeführte Satz ist der Eingangsvers von Psalm 97). Er ist ein König, dessen „Herrschaft“ für die Bewohner von „Erdreich (Festland) und Inseln“ ein Grund zu Freude und Fröhlichkeit ist (im Gegensatz zur „Herrschaft“ von vielen menschlichen Herrschern). Solange Menschen den Gott der Bibel und Schöpfer der Welt als ihren obersten „Herren“ annehmen, sind sie der Willkür menschlicher Herrscher nicht hilflos und bedingungslos ausgeliefert.
Diese oben angesprochenen Gott-ist-König-Lieder stimmen ein Grundmotiv der ganzen Heiligen Schrift Alten und Neuen Testamentes an: Der in der Bibel sich offenbarende Gott ist nicht nur der Schöpfer, der in einem gewaltigen universellen Schöpfungsimpuls die Welt ins Sein rief und ihre billionenfachen Entwicklungsabläufe in Gang setzte. Er ist auch König, ein väterlich fürsorgender Herrscher, der sein Werk nicht aus den Händen gibt und seine Geschöpfe nicht aus den Augen verliert. Er ist der Eine, der für seine Schöpfung einen Weg weiß und ein Ziel kennt, der sie vor unumkehrbarer Verfehlung bewahren und vor endgültiger (Selbst)-Vernichtung retten kann. Und „Reich Gottes“ bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes, als eine Lebensform menschlicher Gemeinschaft, in der dieser gute Wille Gottes für die Menschen und für die ganze Schöpfung zum Vollzug kommt.
Das „Reich Gottes“ ist nach biblischer Sicht die alles entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Menschheit zu ihrer Sinnerfüllung und die Schöpfung zu ihrer Vollendung kommen können. Darum ging es schon vom Anfang der Menschheitsgeschichte an. Am deutlichsten zeigte sich das bei der Volk-Werdung Israels am Sinai nach dem Auszug aus Ägypten: Reich Gottes ist da, wo ein Volk sich bewusst und freiwillig dem Herr-Sein Gottes unterordnet und seinen Weisungen, seiner „Rechtsordnung der Mitmenschlichkeit“ folgt. Nicht um des bloßen Gehorsams willen, sondern weil nur so die Menschheit zu sich selbst und zu ihrer Bestimmung finden kann (siehe die Themen „sein und sollen“ und „Die Frage nach dem Sinn“).
Trotzdem bleibt diese Frage vorläufig noch offen: Kann es wirklich so etwas geben wie eine „Demokratie auf biblischer Grundlage“? Hieße das nicht, zwei völlig verschiedene Kräfte vor den gleichen Karren zu spannen? Oder sind „Reich Gottes“ und „Demokratie“ nicht nur als Idee, sondern auch als reale Lebensform der Gemeinschaft miteinander vereinbar? Im folgenden Beitrag „Die Ur-Form der Demokratie“ soll das konkret werden.
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Demokratie auf biblischger Grundlage? Version 2022-8
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