Bei der Überwindung feudalistischer Systeme haben mutige Menschen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gleiches Wahlrecht für alle Bürger in den meisten Ländern Europas durchgesetzt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bestimmt in Artikel 1, Absatz 1 und 2: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. (…) Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft (…)“, und in Artikel 3, Absatz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das bedeutet: Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Wenn das tatsächlich für alle Menschen gelten soll, dann muss das auch für Kinder gelten. Kinder sind ja nicht „Menschen-Anwärter“, die erst noch in ihre Rolle als Personen mit Menschenwürde und Menschenrechten hineinwachsen müssten, sondern müssen in jedem Alter als „fertige“ Menschen und vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und Inhaber aller Menschen- und Bürgerrechte gelten. Dort, wo Kinder diese Rechte noch nicht selbst wahrnehmen können, werden sie von ihren Eltern vertreten.
Ausgerechnet bei einem der Grundrechte jeder demokratischen Gesellschaft, beim Wahlrecht, gilt dies aber nicht: Kinder haben keine Stimme. In allen anderen Bereichen haben die Eltern (und wo es keine Eltern mehr gibt, andere gesetzliche Vertreter) das Recht, für ihre Kinder rechtswirksam tätig zu werden. Nur beim Wahlrecht gilt das nicht. Hier gelten Kinder als Un-Personen und bleiben unberücksichtigt. Nun kann man einwenden: Die Kinder sind ja noch nicht fähig zu politischer Willensbildung und können deshalb das demokratische Recht auf gleichberechtigte Teilhabe noch gar nicht wahrnehmen. Das mag auf kleine Kinder zutreffen. Aber warum soll es bei allen anderen Rechten selbstverständlich sein, dass Eltern ihre Kinder vertreten, nur nicht beim Wahlrecht?
In der Vergangenheit kam es mehrfach vor, dass Regierungen (mit ganz unterschiedlicher Parteien-Zusammensetzung) erst durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts gezwungen wurden, mehr für Familien mit Kindern zu tun. Von sich aus waren sie dazu nur eher widerwillig bereit. Das kann uns nicht überraschen, sondern liegt einfach daran, dass das politische Gewicht (das wesentlich von der Zahl der entsprechenden Wähler-Stimmen abhängt) bei Familien mit Kindern zu gering ist. Eine Familie mit vier Kindern hat nur zwei Stimmen, genau so wie ein kinderloses Paar oder zwei Singles. Das heißt: Kinder sind wahlpolitisch „stimmlos“ und ohne Gewicht, so, als gäbe es sie gar nicht. In einer zunehmend alternden Gesellschaft drohen Kinder und Familien mit Kindern völlig bedeutungslos zu werden, denn das wahlentscheidende und immer weiter wachsende Übergewicht der Älteren wird jede politische Partei zwingen, deren Anliegen besonders und bevorzugt zu berücksichtigen.
Deshalb ist es dringend notwendig, jetzt das Wahlrecht für Kinder einzuführen. Die Eltern müssen das Recht haben, die Stimmen ihrer Kinder mit in den politischen Prozess einzubringen. Das wäre bei Paaren mit gemeinsamem Sorgerecht für ihre Kinder zwar etwas komplizierter, aber im Ganzen doch unproblematisch: Bei 2, 4, 6 … Kindern würden die Stimmen gleichmäßig auf beide Eltern verteilt; bei 1, 3, 5 … Kindern würde das jeweils einzelne Stimmrecht einem der beiden Elternteile zugelost. Noch einfacher wäre das bei allein erziehenden Müttern und Vätern: Sie hätten für jedes Kind ein Stimmrecht mehr.
Für Jugendliche (je nachdem, wie die entsprechenden Gesetze die Dauer der Jugendlichen-Phase definieren) sollte bei der Wahrnehmung ihres Wahlrechts deren eigene Meinung mit einbezogenen werden. Dabei sollten folgende zwei Grundsätze gelten.
– Die Eltern dürfen keine Entscheidung gegen den ausdrücklich erklären Willen des Jugendlichen treffen.
– Die Jugendlichen dürfen die Eltern nicht zu Entscheidungen zwingen, die diese nicht mitverantworten wollen.
Das könnte man so handhaben: Jugendliche, die ihre Stimme bei einer Wahl einbringen wollen, geben schon Wochen vor der Wahl durch Ankreuzen und Unterschrift eine Erklärung ab, dass sie ihren Eltern ihr Stimmrecht übergeben. Das werden sie aber nur tun, wenn sie in klärenden Gesprächen mit ihren Eltern den Eindruck gewonnen haben, dass diese bei ihrer Wahl die Meinung des/der Jugendlichen berücksichtigen werden. Dabei muss aber trotzdem das Wahlgeheimnis gewahrt bleiben, das heißt, die Jugendlichen können nachträglich die Wahl ihrer Eltern nicht kontrollieren und rückgängig machen. Wenn es zu keiner Einigung auf der Grundlage des Vertrauens zwischen dem/der Jugendlichen und ihren Eltern käme (und deshalb die Jugendlichen die Übergabe-Erklärung nicht unterschreiben würden), dann würde diese Stimme verfallen.
Wahlrecht für alle, unabhängig von ihrem Alter, also auch für Kinder! So könnte die Durchsetzung der Menschenrechte für alle Menschen gestärkt und Millionen von Stimmen, die bis jetzt noch ungehört bleiben, in den demokratischen Prozess der Willensbildung mit einbezogen werden.
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Wahlrecht für alle, Version 2022-8
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