Konkrete Visionen für das Miteinander der Völker und Staaten in einer globalisierten Welt? Ist das nicht ein bisschen hoch gegriffen? Nun ja, vielleicht genügt es für den Anfang konkrete Fragen zu stellen:
– Nationalstaaten für eine globale Gesellschaft?
– Regionalität oder Globalität?
1 Nationalstaaten für eine globale Gesellschaft?
Braucht eine globale Gesellschaft noch eine einzelstaatliche Verfasstheit? Sind nicht die Grenzen von Ländern längst zu Hindernissen geworden für den freien Verkehr von Menschen und Gütern, von Informationen und Ideen? Brauchen wir noch die überkommene Einteilung der Erde in getrennte Nationalstaaten? Solche Fragen sind nicht einfach zu beantworten, weil da sehr komplexe und differenzierte Realitäten mit großem historischen Gewicht dahinter stehen. Trotzdem will ich hier einige Aspekte dieser Fragestellung ansprechen.
Die heute üblichen Nationalstaaten sind eine relativ junge Erscheinung der Neuzeit. Jahrtausendelang hat die Menschheit ohne sie existiert. Die Formel „Ein Volk mit gemeinsamer Geschichte, eigener und einheitlicher Sprache und Kultur in seinem eigenen Land mit eigener Regierung und eigenem Recht” hatte kaum jemals in der Realität der Länder und Völker seine Gültigkeit. Es gab in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte kaum jemals irgendwo auf dieser Erde ein abgegrenztes Land, in dem „schon immer“ ein einheitliches Volk mit gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur lebte (in Europa jedenfalls nicht mehr seit der Völkerwanderung im 3. bis 6. Jahrhundert). Fast alle Völker sind Mischvölker mit Mehrheiten und Minderheiten, und fast alle sind von irgendwo her in das Land eingewandert, in dem sie jetzt leben (oder haben es gewaltsam erobert). Man muss sich dessen bewusst sein: Fast alle heute existierenden Ländergrenzen sind (soweit sie nicht durch die Weltmeere oder unübersteigbare Gebirge gezogen wurden) durch frühere Gewaltakte (Krieg und Eroberung) entstanden.
Schon früheste Menschen-Gemeinschaften, Familienclans, Gruppen und Horden von einigen Dutzend oder Hundert Mitgliedern, welche die Steppen und Wälder nach essbaren Pflanzen und jagbaren Tieren durchstreiften, waren keine einheitlichen „Völker”. Auch da gab es schon Binnenstrukturen mit bestimmenden Mehrheiten, geduldeten Randgruppen und unterdrückten Minderheiten, meist versklavte „Kriegsbeute”.
Die Hochkulturen und Großreiche der Frühgeschichte am Nil, am Euphrat und Tigris oder am Indus waren keine „Nationalstaaten” im heutigen Sinn. Meist bestanden sie aus einem Völkergemisch unter der Herrschaft einer Familiendynastie, die aus der jeweils stärksten und kulturell bestimmenden Volksgruppe kam. Noch deutlicher war die differenzierte Herkunft des „Volkes” in den Reichen der klassischen Antike (z. B. im Reich Alexanders des Großen oder im Römischen Reich, die zum allergrößten Teil aus ursprünglich eigenständigen Ländern und Völkern mit eigener Kultur bestanden) oder bei den König- und Kaiserreichen des europäischen Mittelalters: Die bestanden oft aus Dutzenden von eroberten (seltener auch freiwillig angeschlossenen oder angeheirateten) Gebieten und Volksgruppen, die von der Zentralmacht einer Herrschergestalt und deren Dynastie oder der Kraft eines Herrschaftssystems zusammengehalten wurden (z. B. die Dynastie der Habsburger unter Karl V. im ausgehenden Mittelalter, die, neben der Kaiserwürde im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ unter anderen so verschiedene Länder und Völker umfasste wie Österreich, die Niederlande, Spanien, Teile Südamerikas und die Philippinen im Pazifik; die vollständige Liste seiner Herrschertitel und Ländereien ist seitenlang) .
Eine „ethnische Säuberung” eines Landes (wie man es im Zwanzigsten Jahrhundert hier und da anstrebte und manchmal auch mit Gewalt durchzuführen versuchte) wäre zu keiner Zeit der Geschichte tatsächlich irgendwo möglich und „erfolgversprechend” gewesen; man hätte jeweils einen großen Teil dessen, was man für das eigene Volk hielt, mit „wegsäubern” müssen. Die (theoretisch postulierte) Grundlage der Nationalstaaten (das eine und einheitliche Volk, das sich seinen eigenen Staat schafft) war und ist fast nirgendwo existent.
Es ging ja auch in Wirklichkeit den Herrschenden (gerade auch in den nationalistisch geführten Staaten) nie um ihr „Volk“. Die Nationalisten des sogenannten “Dritten Reiches“ in Deutschland z. B. schickten bewusst und ohne zu zögern Millionen Männer ihres eigenen Volkes in einen völkermordenden Krieg, nicht um damit ihr Volk zu stärken (sie nahmen es ja bewusst in Kauf, dass ihr Volk durch den von ihnen selbst herbeigeführten Krieg millionenfach geschwächt wurde), sondern, um ihren eigenen Machtanspruch zu bestätigen und in Gebiete auszuweiten, in denen andere Völker lebten. Und als dann Millionen deutsche Männer, Frauen und Kinder umgekommen waren und die Städte in Trümmern lagen, kommentierte Hitler nur wegwerfend: „Das deutsche Volk war meiner nicht wert.“
Die Idee vom Nationalstaat wurde in der Geschichte der Menschheit immer dann lebendig, wenn innerhalb eines Herrschaftsbereichs Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Volksgruppen benachteiligt, ausgegrenzt und unterdrückt wurden. Dann wurde der Wunsch übermächtig, ein eigenes Gemeinwesen einzurichten und weiterzuentwickeln, in dem die bisher Unterdrückten gleichberechtigte Teilhaber (wenn nicht gar die nunmehr vorherrschende Klasse) sein konnten. Der Nachteil dieser Idee ist, dass sie auf der Selbstbehauptung und Konkurrenz der Völker beruht. Der stärkste Nationalstaat hat die Macht, die schwächeren zu unterwerfen und tributpflichtig zu machen. Das Zeitalter der Nationalstaaten wurde zwangsläufig zum Zeitalter der Völker-Kriege.
Was aber könnte an die Stelle der Nationalstaaten treten, um der globalen Gesellschaft innere Struktur und äußeren Zusammenhalt zu geben? Gegenwärtig gibt es zwei total gegensätzliche Antworten auf diese Frage: Entweder fortschreitende Zerstückelung der sozialen Einheiten oder Aufbau von globalen Superstrukturen. Beide „Lösungen“ sind in Wirklichkeit sehr fragwürdige Konzepte:
Die Zerstückelung der Lebensräume ist (besonders in Europa) schon im Gang. Die Selbständigkeits-Bestrebungen der Basken oder Katalanen in Spanien, der Schotten in Großbritannien, die ethnische und politische Zersplitterung des Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens, die Loslösungs-Tendenzen in Norditalien usw. In vielen Regionen Europas und der Welt regen sich Kräfte, die mehr Selbständigkeit für ihre regional begrenzten geografischen, ethnischen und kulturellen Besonderheiten fordern. Leider sind diese Bestrebungen so angelegt, dass sie nicht zur Überwindung nationaler Egoismen führen, sondern dass das „Nationale“ nur auf immer kleinere „Wir-Identitäten“ bezogen wird. Immer mehr und immer kleinere eigenständige Nationalstaaten sind aber keine gute Antwort auf globale Herausforderungen.
Die Gegenbewegung favorisiert die Bildung übernationaler, weltweit agierender Zusammenschlüsse (politische Staatenbündnisse oder wirtschaftliche Weltkonzerne, eventuell auch eine religiös begründete „Weltvereinigung“), welche die gegenwärtigen Tendenzen zur Globalisierung politischer und wirtschaftlicher Belange vorantreiben, manchmal auch vorwegnehmen. So entstehen globale Superstrukturen, die sich mit eindrucksvollen Kürzeln schmücken: UN, EU, WTO, NATO, Google, Meta … Von den meisten „normalen“ Menschen, die nicht direkt in diesen Einrichtungen arbeiten, werden sie allerdings eher als globale anonyme und gesichtslose Macht-Monster empfunden, die immer mehr Zuständigkeiten an sich reißen und unter deren Diktat die Identität der Einzelnen wie der Gemeinschaften verflacht und sich allmählich auflöst.
Beides, Zerstückelung der „Wir-Gemeinschaften“ in immer kleinere National-Identitäten oder Bildung globaler Superstrukturen, beides beschreibt keinen erfolgversprechenden Ausweg aus dem „Nationalitätenproblem“. Regionalität und Globalität, wie passt das zusammen?
2 Regionalität oder Globalität?
Selbstverständlich muss es heißen: Regionalität und Globalität. Es geht um die Balance zwischen beiden Bestrebungen, zwischen Freiheit der Einzelnen (und der einzelnen Gemeinschaften) einerseits und der Zusammengehörigkeit aller andererseits. Unsere Zukunft braucht beides. Kommt diese Balance aus dem Gleichgewicht, droht entweder eine globale Diktatur oder weltweites Chaos. Und wir merken, dass unsere staatlichen Institutionen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen.
„Aber, es muss doch irgendwelche erkennbaren Strukturen und Zuständigkeiten geben für die notwendigen Einrichtungen und Verwaltungsabläufe in der Gesellschaft“, sagt man „und es muss öffentliche Institutionen geben, um entsprechende Regelungen zu erarbeiten und umzusetzen!“ Selbstverständlich (denn Anarchie wäre nichts anderes als die Rückkehr zum Gewaltrecht des Stärkeren), nur müssen sich solche Strukturen nicht an nationalen Grenzen orientieren, über die irgendwann einmal auf den Schlachtfeldern der Vergangenheit zugunsten der Mächtigsten, Aggressivsten und Rücksichtslosesten entschieden wurde (siehe oben „Nationalstaaten für eine globale Gesellschaft?„). Wenn wir einmal den Versuch machen würden, die Kriege und Gewaltakte der Jahrhunderte und deren Folgen herausrechnen aus den Landkarten der Erde, so blieben ganz andere Strukturen übrig, als wir sie heute kennen, nämlich geografisch begründete und kulturgeschichtlich gewachsene regionale Einheiten, keine Machtgebilde, sondern Lebens-, Arbeits-, Kultur- und Begegnungsräume für ihre Bewohner und Besucher.
Es wird in einer globalisierten Weltgemeinschaft immer mehr darauf ankommen, solche regionalen Lebens-, Arbeits-, Kultur- und Begegnungsräume zu stärken gegenüber den Vereinnahmungs- und Überwältigungsstrategien der politischen und wirtschaftlichen „Global Player“. Aber auch gegenüber nationalen Egoismen, welche meinen, etwas Eigenes bewahren zu können, indem man das Fremde abwehrt oder unterwirft.
Dabei geht es um „bewahren“, nicht um „auf-bewahren“. Bewahren heißt, etwas Wertvolles zu erhalten, wobei man versucht, den werttragenden „Kern“ der gesellschaftlichen Identität zu schützen und zu pflegen, zugleich aber die „Hülle“ der Äußerlichkeiten immer wieder neu den äußeren Gegebenheiten und Notwendigkeiten anzupassen.
Etwas „aufbewahren“ heißt hingegen, es in einem geschlossenen Behälter zu konservieren, damit es mit der „verderblichen Außenluft“ nicht in Berührung kommt. Etwa wie es eine Hausfrau macht, die ihre Beerenernte in Einweckgläsern konserviert, luftdicht verschlossen und kühl im Vorratskeller, und die ab und zu nachschaut, ob nicht doch eines der Gläser undicht und der Inhalt schimmelig geworden ist, dann muss sie ihn leider wegwerfen (wobei ja auch die Hausfrau das Konservieren nicht zum Selbstzweck macht, vielmehr wird sie das Glas zur gegebenen Zeit öffnen und den Inhalt weiterverarbeiten). Es geht darum, das Vorhandene weiterzuentwickeln, um das Wesentliche zu bewahren, nicht darum, das Gegenwärtige zu isolieren und für alle Zeit unverändert aufzubewahren.
Die Frage ist dabei, ob man die eigene kulturelle Gestaltungskraft in Sprache, Kunst, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik, Rechtsprechung … für stark genug hält, sich in einer offenen Gesellschaft zu behaupten, ja das Eigene im Ganzen zur Geltung zu bringen. Selbstisolierung, um das Eigene nicht zu verlieren, ist ein Zeichen von Schwäche, die sich selbst diese Stärke nicht zutraut. Freilich gibt es auch unter den kulturellen Gestaltungsmächten auch große und kleinere, starke und schwächere, reiche und ärmere. Und das bedeutet eben nicht, dass die großen, starken und reichen Kulturen selbstverständlich auch die besseren und wertvolleren sind, und die kleineren, schwächeren und ärmeren wären immer auch die schlechteren und wertloseren. Man muss also auch bei den Kulturen (wie bei den einzelnen Personen) darum, die Gleichwertigkeit zu schützen, um die Verschiedenartigkeit zu entfalten.
Vereinfacht ausgedrückt: Die Kulturen der Völker sind der Schatz der Menschheitsgeschichte; die Nationalstaaten sind deren Kriegserbe.
Das bedeutet nicht, dass man nun anfangen sollte, die bestehende nationalen Grenzen abzuschaffen und mit großartige Geste noch bestehende Schlagbäume niederzureißen, das würde nur zu unaufhörlichen Streitereien führen. Aber man könnte nach und nach Schritte gehen und Veränderungen in Gang setzen, durch welche die bestehenden nationalen Grenzen immer bedeutungsloser werden und die Regionen gestärkt und mit mehr Eigenständigkeit ausgestattet. In Europa nach dem zweiten Weltkrieg und vor allem nach dem Ende des sogenannten „kalten Krieges“ hat man ja schon damit begonnen. Heute sind die innereuropäischen Grenzen längst nicht mehr so trennend, wie vor einigen Jahrzehnten. Bei der Stärkung der Regionen allerdings ist man kaum vorangekommen. Gemeint sind dabei:
- Kleinregionen, die einige Dörfer und kleinere Städte oder auch eine Großstadt (oder Teile davon) umfassen, in einer Landschaft, die sich als geografische Einheit wahrnehmen lässt, mit einer Bevölkerung, die eine relativ dichte und direkte interne Kommunikation „von Mensch zu Mensch“ praktiziert, deren Sprache einen unverkennbaren gemeinsamen Akzent hat und die kulturelle Lebensweisen pflegt, welche sich in engem Kontakt untereinander und in vielfältiger Zusammenarbeit entwickelt haben, auch wenn sie von ihrer Herkunft und ihren Ausdrucksformen sehr verschieden sein können. Solche Kleinregionen bilden am ehesten das ab, was man in der deutschen Sprache gemeinhin unter „Heimat“ versteht. Für die Gegend in Nordostbayern, wo ich lebe, könnte man da als solche Heimatregionen das Fichtelgebirge nennen, den Frankenwald, das Vogtland (das zum Teil in Bayern und in Sachsen liegt) oder das Sechsämterland mit engen historischen Verbindungen in die Gegend um Asch in Tschechien …
- Mittelregionen, die, aus mehreren Kleinregionen bestehend, sich durch Besonderheiten der Mentalität und der Sprache, der Lebens- und Arbeitsweisen ihrer Bewohner, der Siedlungsformen und Baustile, der Traditionen und des Brauchtums, der Kunst und der Literatur als kulturgeschichtlich gewachsene Einheit erkennen lassen (freilich auch mit einer Vielfalt an neueren kulturellen Einflüssen, die sich mit dem Bestehenden zu einer jeweils neuen und erweiterten Kulturform verbinden), in einer Landschaft, die geografisch und klimatisch eine bestimmte, aber keineswegs überall einheitliche Prägung hat.
Ein für mich, da ich in Bayern lebe, „naheliegendes“ Beispiel für solche „Mittelregionen“ wären innerhalb des heutigen deutschen Bundeslandes Bayern die Regionen „Altbayern“ und „Franken“ und „Schwaben“, wobei das bayerische Schwaben in einen sprachlichen, kulturellen und geschichtlichen Zusammenhang gehört, der das Bundesland Bayern überschreitet (woraus erkennbar wird, dass auch die meisten heutigen Bundesländer Kunstgebilde sind, die gewachsene Strukturen und kulturelle Zusammengehörigkeiten zerschneiden). Trotzdem: Die genannten Regionen haben jeweils in sich sehr enge und weit zurückreichende historische Beziehungen und eine deutlich ausgeprägte sprachliche und kulturelle Identität.
- Großregionen, die, aus mehreren Mittelregionen bestehend, durch eine gemeinsame Sprache und Geschichte ihrer Bevölkerung geprägt sind und sich darstellen als je besondere Einheit von zusammenhängenden Landschaften mit ihren Menschen und deren Kultur. (z. B. die europäisch-deutschsprachige Region, ebenso wie die europäisch-französisch-, polnisch-, italienisch- … sprachigen Regionen usw., oder wie die südamerikanisch-portugiesisch- oder spanischsprachigen und die mehrheitlich von ihren Ureinwohnern bewohnten Regionen Südamerikas usw.). Diese Großregionen müssten jedoch keine Machtgebilde sein (die um so mächtiger wären, je größer und reicher sie sind und die dann benachbarte Regionen überfallen und „erobern“ könnten), sondern Lebens-, Arbeits-, Kultur- und Begegnungsräume, die von der Kooperation ihrer Klein- und Mittelregionen leben und die ihrerseits in Kooperation mit anderen Großregionen die Bevölkerung und Kultur, die Lebens- und Arbeitswelt der Kontinente bilden.
Solche Strukturierung der Länder und Kontinente in Klein-, Mittel- und Großregionen, wertet die geografischen, kulturellen und historischen Grundlagen der Gesellschaften auf und die machtpolitischen und kriegerischen Vorgänge der Vergangenheit und deren Auswirkungen ab. Diese Regionen haben selbstverständlich einen geografischen Zuschnitt und ihre Institutionen regionale Zuständigkeiten, aber sie brauchen keine „Grenzen“, die Nachbarn trennen und Verbindungen abschneiden. Die Abspaltungstendenzen z. B. der Schotten in Großbritannien, der Katalanen in Spanien … zeigt, wie stark die Identifikation der Menschen mit ihren historisch gewachsenen Lebensräumen ist und wie groß das Verlangen nach kultureller Selbstbestimmung unter dem Druck einer unsensibel vereinnahmenden Zentralregierung werden kann.
Die sprachlichen und kulturellen Minderheiten in diesen Klein-, Mittel und Großregionen können und sollen dort ihre Besonderheiten pflegen, müssen aber doch insofern offen für die jeweilige Mehrheitsgesellschaft sein, dass sie in ihr kommunikationsfähig sind und sie sich in die jeweils geltende Rechtsordnung und Gesellschaftsform integrieren können und wollen.
Wo Mehrheitsgesellschaften durch gewaltsame Eroberung und Kolonisierung fremder Länder und Kontinente entstanden sind (z. B. in Amerika oder Australien), müssen die Lebens- und Besitzrechte, die Sprache und Kultur der Ureinwohner (soweit sie als solche noch historisch identifizierbar sind) besondere Berücksichtigung finden, müssen die Überlebenden Anerkennung und Unterstützung erfahren, müssen Enteignung und Entrechtung gerechten Ausgleich finden, müssen die Reste der ursprünglichen Bevölkerung als Kultur- und Lebensgemeinschaft gerechte Lebensbedingungen, entsprechende Freiräume zur Gestaltung und Ausformung ihrer eigenen kulturellen Identität und eigenverantwortliche (auch politische) Entscheidungsspielräume bekommen.
Die Entwicklung der Europäischen Union zeigt wenigstens in Ansätzen, dass eine solche „Struktur ohne Grenzen“ möglich ist und dass sie für alle Beteiligten von großem Vorteil sein kann. Aus einer Gruppe von Nationalstaaten mit je eigener und eigensüchtiger Politik, die Jahrhunderte lang Völker-Kriege geführt haben, ist eine Gemeinschaft mit offenen Grenzen geworden (Schengen-Raum), mit (im Euro-Raum) gemeinsamer Währung und (in Ansätzen) gemeinsamer Politik. Und wir sehen: Das tut der je besonderen Sprache, Kultur und Identität der Völker und Volksgruppen keinen Abbruch. Frankreich ist nicht weniger französisch und Deutschland nicht weniger deutsch seit Frankreich und Deutschland sich nicht mehr voneinander isolieren und sich nicht mehr gegenseitig bekriegen. Aber die französischen und deutschen Regionen beiderseits der gemeinsamen Grenze haben an Eigengewicht, Selbstbewusstsein und regionalpolitischer Kompetenz gewonnen, seit sie sich nicht mehr voneinander abgrenzen. Die Schweiz hat im Kleinen diese Koexistenz von Sprachen und Volksgruppen schon seit Jahrhunderten erfolgreich vorgelebt, ohne dass die Identität der Regionen und deren kulturellen Besonderheiten dabei verloren gingen.
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Struktur ohne Grenzen, Version 2022-8
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