Maria Monti war für Thomas ein Rätsel. Wie konnte so eine junge, elegante, kluge und weltgewandte Frau sich auf einmal hinter Klostermaueren zurückziehen? Sie zählte, obwohl sie erst Ende dreißig war, zu den herausragenden Wirtschaftswissenschaflern der Gegenwart. Von ihr stammten die umfassendsten Analysen der internationalen Finanz- und Wirtschaftsverflechtungen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung und die Risiken der Weltwirtschaft. Sie kam aus einer eher kleinbürgerlichen jüdischen Familie italienischer Herkunft in den Vereinigten Staaten und hatte sich mit Intelligenz und ungewöhnlichen Ideen in die Elite ihres Faches hochgearbeitet. Vor gut einem Jahr hatte sie dann völlig überraschend ihre Professur an einer der angesehensten Universitäten aufgegeben und war hierher nach Jerusalem gezogen. Dann hörte man kaum noch etwas von ihr, nur dass sie in einem Kloster lebte und öffentlich kaum mehr in Erscheinung trat.
Thomas betrat die Altstadt durch das Zionstor, ging ein Stück die abschüssige Straße an der Mauer entlang und bog dann in die Habat-Road ein. Nach ein paar hundert Metern überquerte er die Ausgrabungen des römisch-byzantinischen Cardo im jüdischen Viertel und erreichte den Platz vor der wieder aufgebauten großen Hurva-Synagoge. Hier wollte Frau Monti ihn treffen. Thomas hatte keine Ahnung, worum es bei dieser Begegnung gehen sollte. Er kannte sie nur flüchtig von früheren Vorträgen, Pressekonferenzen und Empfängen. Weil er bis zum vereinbarten Zeitpunkt noch eine gute halbe Stunde Zeit hatte, setzte sich Thomas in den Schatten eines Sonnenschirms vor einem kleinen Lokal. Er mochte diesen Platz im jüdischen Viertel. Hier gab es weder die laute, bunte Aufdringlichkeit des Basars, noch die nichtssagende Anonymität der modernen Viertel im Westen der Stadt. Außerdem hatte er Hunger, das Frühstück war wieder einmal sehr dürftig ausgefallen und jetzt war es schon früher Nachmittag. Hier gab es noch die kleinen, typisch osteuropäisch-jüdischen Köstlichkeiten, jenseits von Pommes und Hamburgern. Er bestellte „Latkes”, kleine Pfannkuchen aus geriebenen Kartoffeln mit Apfelmus und Sahne, dazu einen frisch gepressten Grapefruitsaft. So gestärkt fühlt er sich bereit für jede Überraschung. Mal sehen, was da auf ihn zukam.
Was da auf ihn zukam, war zunächst nur der flüchtige Eindruck einer weiblichen Figur, jugendlich, schlank und in den Bewegungen anmutig und selbstbewusst zugleich. Er musste die Neigung unterdrücken, wie in längst vergangenen Jugendjahren die Lippen zu einem anerkennenden Pfeifen zu formen. Erst in diesem Augenblick erkannte er, wer da auf ihn zukam. Es war Maria Monti.
Thomas wäre beim Aufstehen fast über den Fuß des Sonnenschirms gestolpert, fing sich aber, und versuchte, möglichst unbefangen zu wirken, als er sie begrüßte. Er zog einen Stuhl heran. „Möchten Sie sich hier mit dazusetzen oder haben Sie etwas anderes vor?” Maria sah ihn mit einem bezaubernden Lächeln an, das seine Verwirrung noch ein bisschen steigerte. „Nein, nein, das ist ein wunderschöner Platz hier. Außerdem könnte ich auch etwas Essbares vertragen. Was hatten Sie denn? Latkes? Das habe ich seit Jahren nicht mehr gegessen.” Sie winkte die Bedienung herbei. „Ich hätte gern das Gleiche.” Sie setzte sich ihm gegenüber, lehnte sich im Stuhl zurück, sah sich um und schien den Ort ebenso wie die Situation zu genießen.
Thomas wollte sie nicht auf den Grund dieser Begegnung ansprechen, bevor sie gegessen hatte und fing ein harmloses Gespräch über die neue Hurva-Synagoge an, die sich direkt neben ihnen erhob. Sie war an der gleichen Stelle wieder aufgebaut worden, wo die alte gestanden hatte, die von der jordanische Armee nach der Eroberung der jüdischen Altstadt 1948 zerstört worden war. Maria ließ sich darauf ein und so plauderten sie eine ganze Weile, als gäbe es nichts Wichtigeres, als ein nettes Gespräch über dieses und jenes.
Thomas Hoffmann, der es eigentlich gewohnt war, schnell und direkt zur Sache zu kommen, wenn er beruflich unterwegs war, wurde unruhig und versuchte dem Gespräch eine andere Wendung zugeben. „Darf ich Ihnen ein Kompliment machen? Sie sehen heute noch bezaubernder aus, als ich Sie in Erinnerung hatte.” Maria lachte hell auf. „Hatten Sie erwartet, dass ich hier in Nonnen-Tracht erscheine?” „Das vielleicht nicht, aber die Tatsache, dass sie sich in ein Jerusalemer Kloster zurückgezogen haben, hat schon viele überrascht.” Maria rückte ihren Stuhl ein wenig weiter, um dem Schatten des Sonnenschirms zu folgen. „Und nun möchten Sie gern wissen, was das zu bedeuten hat und warum ich Sie zu diesem Treffen gebeten habe, nicht wahr?” „Ehrlich gesagt schon”, antwortete Thomas und versuchte, sich innerlich darauf einzustellen, möglichst viel von dem folgenden Gespräch im Gedächtnis zu speichern, er konnte ja hier nicht gut sein Aufnahmegerät aufbauen.
„Sie werden Ihr Diktiergerät heute nicht brauchen”, sagte Maria als könnte sie seine Gedanken lesen. „Ich möchte Sie auch bitten, über dieses Gespräch nichts zu veröffentlichen.” Thomas runzelte die Stirn. „Sie wollen, dass ich meinem Beruf untreu werde?” Maria lachte. „Nein, ganz und gar nicht. Aber ich möchte Sie nächste Woche zu einem Vortrag mit anschließender Pressekonferenz einladen.” „Wo soll das stattfinden, hier in Jerusalem?” „Ja.” Dann werde ich sowieso da sein.” „Ja, aber ich möchte, dass Sie dann schon wissen, worum es geht, und dass Sie auch verstehen, was ich sage.” „Warum gerade ich, es werden Dutzende Presseleute aus aller Welt da sein.” „Weil Sie einer der wenigen Journalisten sind, die nicht versuchen, aus einer Sachdarstellung eine heiße „Story” zu machen, und sie dabei verzerrt und verfälscht wiedergeben.”
Thomas wusste nicht recht, was er von diesem Kompliment halten sollte. „Sagen Sie das mal den Chefredakteuren der Zeitungen für die ich schreibe,” brummte er, „die beschweren sich immer, dass meine Stories nicht ‚heiß‘ genug sind.” Er versuchte, das Gespräch wieder in die richtige Spur zu lenken. „Was hat Sie eigentlich nach Jerusalem geführt?” „Eine Anfrage, zu der ich nach langem Überlegen nicht nein sagen konnte.” „Verraten Sie mir auch, was das für eine Anfrage war?” „Dazu muss ich wohl ein bisschen weiter ausholen.” Maria Monti nahm einen Schluck vom Grapefruitsaft ehe sie fortfuhr. „Sie wissen vielleicht, dass ich damals, bevor ich mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften begann, ein paar Semester Theologie studiert habe. Und das nicht nur aus Verlegenheit, mich hatte schon immer brennend interessiert, wie die Realitäten der modernen Welt mit den biblischen Themen zusammenpassen. Meine Doktorarbeit habe ich dann über aktuelle soziale und wirtschaftliche Aspekte in der alttestamentlichen Gesetzgebung geschrieben.” Thomas nickte: „Sie sind bekannt dafür, dass sie für die Begründung Ihrer Theorien gern auf biblische Grundlagen zurückgreifen. Aber um welche Anfrage ging es da?” Er wollte das Gespräch gern auf seiner Fährte halten. „Die Anfrage kam aus Jerusalem vom Apostolat. Es ging darum, ob ich bereit wäre, eine Art Gutachten auszuarbeiten, eine Expertenmeinung zu der Frage, wie ein Konzept für die Entwicklung der Weltwirtschaft aussehen könnte, das auf biblischen Grundsätzen beruht. Die Aufgabe hat mich sofort fasziniert und ich habe schließlich zugesagt, obwohl ich wusste, dass mich das für viele Monate aus meiner normalen wissenschaftlichen Arbeit herausreißen würde.” „Und dieses Gutachten ist jetzt fertig?” „Ja, ich habe es vor zwei Wochen den Aposteln vorgelegt.” „Können sie mit einigen Sätzen den Schwerpunkt und die Zielrichtung Ihrer Expertise andeuten, so, dass es auch Laien verstehen können?”
Maria Monti antwortete mit einem kleinen Lächeln, das die strenge Klarheit ihres Gesichts auflöste und es ein wenig mädchenhaft erscheinen ließ. „Es ist für Fachleute immer schwer einzuschätzen, was Laien von ihren Aussagen wirklich verstehen. Aber versuchen wir es anders herum. Sagen Sie als Laie, was Ihnen ganz spontan zu dieser Frage einfällt: Wie müsste man die Weltwirtschaft gestalten, damit sie den Grundsätzen biblischen Handelns entspräche?” Thomas merkte zu spät, dass er in eine Lage geraten war, in die ein Journalist eigentlich nie kommen sollte: dass sein Interviewpartner die Fragen stellte und er antworten musste. Trotzdem versuchte er diesmal, nicht auszuweichen. „Man müsste die Dinge so ordnen, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht die Menschen der Wirtschaft dienen müssen. Und die Wirtschaft sollte darauf ausgerichtet sein, die Vielen mit dem Nötigsten zu versorgen, statt für die Wenigen, die es sich leisten können, immer mehr Waren anzubieten, die niemand wirklich braucht.” „Sehen Sie, da haben Sie in zwei Sätzen genau das zusammengefasst, was ich in meinem Gutachten auf mehreren Hundert Seiten ausgeführt habe. Das Wesentliche ist immer einfach und braucht keine komplizierten Theorien.”
Thomas fühlte sich geschmeichelt, trotzdem war er auf der Hut: Noch einmal wollte er sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen. „Aber ich habe keine Ahnung, was ich mir unter meinen schlauen Sätzen konkret vorstellen sollte. Können Sie mir da helfen?” „Das kann ich hier wirklich nur blitzlichtartig an einigen wenigen Punkten versuchen. Als erstes geht es darum, auch in den globalen Wirtschaftsbeziehungen und im internationalen Finanzgeschäft ein Umdenken in Gang zu setzen. Auch hier muss eine Gesinnung des Miteinander und Füreinander initiiert und gefördert werden. Solange der blanke Egoismus und die Gier nach immer mehr Gewinn und Besitz das Geschehen bestimmen, wird es keine wirkliche Verbesserung geben. Die großen Krisen der Weltwirtschaft waren ja kein blindes Schicksal, sondern das Ergebnis von übersteigertem Egoismus, von ungebremster Habgier und oft auch von kriminellen Machenschaften vieler der Beteiligten. Es gibt deshalb die Überlegung, in den Regionen, wo vor einigen Jahren Diakonate für Versöhnung und Frieden eingerichtet wurden, nun auch „Diakonate für Versorgung und soziale Gerechtigkeit” aufzubauen. Deren vordringliche Aufgabe wäre es, im konkreten Geschehen an Börsen und Märkten immer wieder die Menschlichkeit und Gerechtigkeit anzumahnen und einzufordern, die ein menschenwürdiges Miteinander erst möglich machen. Als Zweites müssten dort Vorschläge erarbeitet und auf die jeweilige Situation hin konkretisiert werden, wie man zumindest mittelfristig erreichen kann, dass jeder Mensch auf dieser Erde genug zum Leben hat.“
„Und Sie haben in Ihren Gutachten konkrete Vorschläge dazu gemacht?” „Ja, unter anderem. Ich habe zum Beispiel als Zielvorstellung eine kostenlose Grundversorgung vorgeschlagen. Das bedeutet: Die elementare Versorgung mit Trinkwasser, Nahrung, Kleidung, Wohnung, Energie, Bildung und Kultur, medizinischer Vorsorge und Behandlung, Pflege und Hilfsmittel bei Alter oder Behinderung, Kommunikationsmitteln, Verkehrsteilnahme, Abwasser- und Abfallentsorgung sowie Rechtsbeistand sollte für alle kostenlos sein. Damit soll jeglicher Mangel an wirklich Notwendigem ausgeschlossen werden. Diese Grundversorgung sollte für alle (weltweit, in allen Regionen) gleichwertig sein, aber nicht unbedingt gleichartig, sondern an die jeweilige Lebenssituation angepasst (z.B. kulturelle und geografische Besonderheiten, Alter, Behinderung usw). Jeder sollte einen unveräußerlichen und unverlierbaren Rechtsanspruch darauf haben. Wer darüber hinaus mehr oder Besonderes haben will, kann dies auf dem freien Markt erhalten und muss dafür entsprechende, frei verhandelbare Preise bezahlen. Das wäre eine neue Definition von sozialer Marktwirtschaft: Soziale Garantie für die Versorgung der Grundbedürfnisse und freier Markt für alles Übrige. Solange diese Grundversorgung nicht gewährleistet wäre, müssten alle Anstrengungen der einzelnen Staaten, aber vor allem auch der Staatengemeinschaft, darauf gerichtet sein, dies zum Positiven zu verändern.”
Thomas unterbrach ihren Redefluss: „Können Sie an ein paar Beispielen zeigen, wie das aussehen würde?” Maria nickte. „Stellen Sie sich vor, für jede Person in jedem beliebigen Land steht eine bestimmte Mindestmenge sauberes Wasser (ausreichend für Trinken, Kochen, Körperpflege, Wäsche) kostenlos zur Verfügung. Wer mehr verbraucht, kann noch eine bestimmte Menge zu einem mittleren Preis beziehen, übersteigt der Verbrauch auch diese Menge, muss dieser Mehrverbrauch zu einem sehr hohen Preis gekauft werden. Bei Versorgungsgütern, für die nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen, zum Beispiel Trinkwasser in trockenen Gebieten, Energie, usw. müsste der Preis für den Mehrverbrauch überproportional steigen, so dass unvernünftiger Verbrauch wirklich sehr teuer wird. Das würde dann bedeuten, dass diejenigen, die viel verbrauchen, die Grundversorgung der übrigen mit finanzieren. Heute ist es oft umgekehrt: Wer viel verbraucht, bekommt den billigeren Tarif, der von den teuren Tarifen der Wenig-Verbraucher mitfinanziert wird. Oder: Es wird ein ausreichend vielseitiges Sortiment regionaltypischer, hochwertiger und gesunder Nahrungsmittel als Grundversorgung kostenlos angeboten. Diese Waren werden an der Ladenkasse über eine persönliche Chipkarte abgerechnet, die pro Woche bestimmte Mengen dieser Waren freigibt. Alles Übrige muss gekauft und bezahlt werden. Luxuswaren, die dazu noch die Gesundheit beeinträchtigen (z.B. hochprozentige Alkoholika, Tabakwaren, …) müssten sehr hoch besteuert werden.”
Thomas war zwar kein Wirtschaftsfachmann, aber das klang ihm doch eher nach einer romantischen, sozialistisch angehauchten Utopie. „Wie wollten Sie denn das durchsetzen, das könnte sich doch kein Land leisten!” Maria antwortete prompt: „Erstens geht es hier gar nicht darum, etwas durchzusetzen; die Apostel haben ja keine Macht im herkömmlichen Sinn. Es geht darum, aufzuzeigen, wie Menschen auf dieser Erde nach dem Willen ihres Schöpfers leben können. Und das bleibt nicht ohne Auswirkungen. Erinnern Sie sich daran, wie es war, als es vor ein paar Jahren darum ging, den Frieden zwischen den Völkern und Kulturen zu fördern, indem man versuchte, in den Köpfen und Herzen der Menschen eine aktive Friedensgesinnung zu entwickeln. Auch damals hielten viele das für eine realitätsferne Utopie. Heute gibt es in vielen Regionen der Erde Diakonate für Versöhnung und Frieden. Und als Folge ihrer Arbeit sind die Produktion und der Handel mit Waffen weltweit deutlich zurückgegangen und es gibt aktuell keine Kriegshandlungen mehr. Allein dadurch werden riesige Finanzmittel frei. Und zweitens: Der finanzielle Aufwand für eine solche kostenlose Grundversorgung wäre viel geringer als der volkswirtschaftliche Schaden, der heute jährlich durch Spekulation und Korruption, durch Misswirtschaft und Ausbeutung in der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt angerichtet wird. Erinnern Sie sich noch daran, welche gigantischen Summen bei der letzten weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise aufgewendet wurden, um ein Banken- und Börsensystem zu retten, das vor allem darauf angelegt war, die Reichen immer reicher zu machen? Wenn es gelänge, eine grundsätzliche Gesinnung des Miteinander und Füreinander, der Verantwortung und der Ehrlichkeit auch im Wirtschafts- und Finanzwesen aufzubauen, dann könnte man mit den dadurch ersparten Milliarden eine solche Grundversorgung mit Leichtigkeit bezahlen. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Grundversorgung für die ärmeren Länder aus einem internationalen Fond finanziert wird; wie der konkret ausgestaltet werden könnte, darüber müsste man reden. – Warum lachen Sie?” „Ich stelle mir gerade vor, wie eine Frau in einem Busch-Dorf in der afrikanischen Steppe mit ihrer elektronischen Chip-Karte einkaufen geht.” Maria zuckte die Achseln. „Geben Sie Ihrer Phantasie ruhig etwas die Sporen, das kann nie schaden.”
Maria Monti legte ihre Hand auf die Seine und sah ihn eindringlich an. „Natürlich kann man immer Argumente finden, wenn man etwas Positives verhindern will, schwieriger ist es, etwas Positives trotz aller Widerstände dennoch zu verwirklichen.” Hörte er da einen verhaltenen Zorn heraus? Thomas wollte sie gewiss nicht ärgern, aber er konnte Aussagen, die er als ungereimt empfand, auch nicht widerspruchslos stehen lassen. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Er spürte die Berührung ihrer Hand und hätte diesen Zustand gern noch etwas ausgedehnt. Da nahm sie ihre Hand weg und lehnte sich wieder zurück. Ihre Stimme klang jetzt kühl und sachlich. „Ich sagte ja schon, dass diese Grundversorgung an die jeweiligen regionalen Bedingungen angepasst werden müsste. In dem Fall ihres afrikanischen Busch-Dorfes würde das bedeuten, dass man die vorhandenen Mittel nicht einsetzt, um die Bevölkerung mit Getreidelieferungen aus dem Ausland zu versorgen, das würde die heimische Landwirtschaft endgültig zerstören. Man müsste vielmehr den Anbau geeigneter Feldfrüchte fördern, indem man den Bauern gute Abnahme-Preise garantiert, die nicht, wie sonst üblich, in den Taschen korrupter Beamter und ausbeuterischer Zwischenhändler verschwinden.”
Thomas musste zugeben, dass sie offensichtlich mehr als nur abstrakte Theorien beherrschte, wollte sich aber noch nicht geschlagen geben. „Und Sie meinen, damit haben Sie ein System gefunden, das Ungerechtigkeit und Ausbeutung verhindern kann?“ Marias Gesicht wurde ernst. Sie sah Thomas an und schüttelte leicht den Kopf. „Nein, es gibt kein betriebswirtschaftliches, volkswirtschaftliches, weltwirtschaftliches System, und kann auch keines geben, das Ungerechtigkeit und Ausbeutung verhindern könnte, solange die Menschen, die in diesem Systemen handeln, von ungerechten und ausbeuterischen Ideen und Antrieben beherrscht sind. So etwas wäre gar nicht möglich. Deshalb ist es entscheidend, dass sich die Gesinnung der Menschen verändert, die Systeme bieten nur die Rahmenbedingungen, die das fördern oder erschweren können.“
Thomas wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr er von ihrer Person und auch von ihren Argumenten beeindruckt war, und deshalb klang seine nächste Frage provozierender als er es eigentlich wollte. „Aber wenn jeder genug zum Leben hätte, wer würde dann noch arbeiten wollen?” Maria lächelte ihr charmantestes Lächeln und Thomas kam sich vor wie ein Schuljunge, der wieder einmal etwas ganz Dummes gesagt hat. Sie beugte sich vor und sah ihm in die Augen. „Vielleicht Sie?” Ihr Gesicht wurde wieder ernst. „Würden Sie ihren Beruf aufgeben, wenn Sie auch ohne ihn nicht hungern müssten?” „Natürlich nicht!” „Aber Sie meinen, alle anderen würden das tun.” „Vielleicht nicht alle, aber viele:” „Vielleicht alle, deren Arbeitsbedingungen so belastend und menschenunwürdig sind, dass sie sie eher als Sklaverei empfinden? Dann würde das einen gewissen Druck ausüben, diese Arbeitsbedingungen zu verbessern. Ausbeuterische Systeme funktionieren ja nur so lange, wie die blanke Not die Menschen zwingt, sich ihnen unterzuordnen. Sobald die Menschen das Lebensnotwendige haben, ist solchen Systemen das Druckmittel genommen und die Grundlage entzogen.”
„Aber es gäbe immer noch genügend, die sich einfach auf die faule Haut legen würden!” „Sicher, aber man könnte eine Regelung einführen, dass alle arbeitsfähigen Menschen, die keine Arbeitsstelle haben, zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden, mit einem geringen Mindestlohn zusätzlich zur Grundversorgung. Dann wäre das Liegen auf der faulen Haut nicht ganz so bequem. Wobei man dann die Erziehung von Kindern, abgestuft nach der Anzahl (oder z.B. auch Behinderung) der zu betreuenden Kinder der Berufstätigkeit gleichstellen und auch entsprechend entlohnen würde, ebenso, in Abstufungen, die Pflege von pflegebedürftigen Angehörigen. ”
Thomas gingen die Argumente aus, aber er war sich sicher, dass entsprechende Fachleute da noch gewichtige Einwände vorbringen würden. Trotzdem begann ihn die Sache zu interessieren. Vielleicht ergaben sich da wirklich Chancen, das größte Elend und Unrecht in vielen Teilen der Erde wenigstens langfristig etwas zu verringern. „Ich werde bei Ihrer Pressekonferenz dabei sein und ich verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes tun werde, Ihre Argumente so korrekt und so eindringlich wie möglich darzustellen.” „Danke, ich habe gehofft, dass Sie das sagen würden.” Maria Monti sah auf einmal gar nicht mehr wie eine hochintelligente, international gerühmte Wirtschaftsprofessorin aus, sondern einfach wie eine schöne Frau, die froh und erleichtert war, jemanden gefunden zu haben, der bereit war, sie sachlich zu verstehen und sie nicht nur auf ihr Geschlecht und ihr Aussehen reduzierte.
Eine Weile sahen sie sich schweigend an und Thomas merkte, dass ihre Gegenwart etwas in ihm zum Klingen brachte, was lange verstummt war. Er war jetzt Mitte Fünfzig und seine Ehe war schon vor fast zwei Jahrzehnten zerbrochen. Alle – wie er selbst fand, sehr ungeschickten – Versuche, danach eine neue dauerhafte Beziehung zu knüpfen, waren schon im Ansatz gescheitert.
Eine Bewegung Marias brachte ihn in die Gegenwart zurück. Sie deutete in die Richtung, in der eben eine Gruppe schwarz gekleideter älterer Herren mit grauen Bärten und Schläfenlocken verschwand. „Gehen wir ein paar Schritte?” „Sehr gern.” Thomas winkte die Bedienung heran, um zu bezahlen. Sie gingen langsam durch die engen schattigen Gassen, die in Richtung der Klagemauer führten. Unterdessen waren sie Teil eines dichten Stromes vom meist dunkel gekleideten Menschen geworden, die alle das gleiche Ziel hatten: Bald würde der Schabbat beginnen, und dann wollten sie auf dem großen Platz vor der Mauer sein. Viele Familien waren zu erkennen, die Männer in feierlichem Schwarz, die Frauen schlicht aber geschmackvoll gekleidet, die Kinder fein herausgeputzt.
Thomas und Maria ließen sich von der Menge mitnehmen bis zu den Stufen, die zum Eingang des Platzes hinabführten. Früher war man hier immer scharf kontrolliert worden. Von hier aus hatte man einen weiten Blick über den Platz, auf dem schon Hunderte von meist orthodoxen Juden in Gruppen beieinander standen oder zum Gebet zur Mauer gingen. Thomas und Maria lehnten sich an das Geländer, der die kleine Aussichtsplattform von den abwärts führenden Stufen trennte. Schweigend sahen sie dem Kommen und Gehen zu. Es wurde dunkel und die Lichter gingen an. Gesänge tönten herauf. An einigen Stellen bildeten sich auf dem Platz Kreise tanzender Menschen. Eine anrührende Mischung aus Freude und Ernsthaftigkeit bestimmte die Atmosphäre.
Nach einer Weile unterbrach Thomas das Schweigen. „Sie sehen aus, als ob Sie etwas bedrückt, kann ich Ihnen irgendwie helfen?” Maria sah ihn kurz an und wandte sich wieder dem Treiben auf dem Platz zu. Sie antwortete nicht, aber Thomas spürte, wie sie sich einen Augenblick an seine Schulter lehnte, als suche sie Halt. Thomas versuchte es noch einmal: „Sie haben Ihre Arbeit in Jerusalem beendet, was haben Sie als Nächstes vor?” Auch diese Frage ließ sie unbeantwortet. Schließlich versuchte Thomas das bedrückende Schweigen zu beenden, indem er das Gespräch wieder auf eine sachlichere Ebene führte: „Sie sagten vorhin, dass Sie ihr Gutachten schon vor zwei Wochen abgegeben haben?” „Ja.” „Werden jetzt bald Empfehlungen für eine spirituelle Neubesinnung in den weltweiten Wirtschafts- und Finanzsystemen veröffentlicht?” „Nein, das wird noch etwas dauern.” „Liegt das daran, dass vor knapp drei Wochen der Apostel Schimon überraschend verstorben ist?” „Nein.”
Thomas konnte sich keinen Reim darauf machen, warum sie plötzlich nur noch so einsilbige Antworten gab, und auch die nur wie unter Zwang. „Aber das Apostelkonzil ist gegenwärtig nicht beschlussfähig. Meines Wissens ist noch kein Nachfolger bestimmt worden.” „Doch.” Thomas zuckte zusammen; was war hier im Gange, von dem er keine Ahnung hatte? „Darf man schon erfahren, wer in das Apostolat berufen wurde?” Maria Monti schwieg. Als sie ihn ansah und sofort wieder wegblickte, hatte ihr Gesicht für einen winzigen Augenblick den Ausdruck wie bei einem erschrockenen Kind. Thomas stellte die nächste Frage ganz aus berufsmäßiger Routine. „Ist es eine bekannte Person?” Maria drehte sich zu ihm um und sah ihn mit halb zusammengekniffenen Augen scharf an, als wollte sie jede Regung seines Gesichts genau verfolgen. „Sie kennen diese … Person.” „Wer ist es?” Die Antwort kam leise, von zitternden Lippen: „Ich.”
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Zions-Tor, Version 2022-8
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