Bereich: A Vision und Konkretion

Thema: Die Tore Jerusalems

Beitrag 3: Mist-Tor (Bodo Fiebig27. Januar 2020)

Thomas Hoffmann kam die steile Straße herauf, die von der alten Davidstadt zur Südmauer der Altstadt führte. Er hatte sich einige neuere Ausgrabungen beim Siloah-Teich angesehen und überlegte, ob sich daraus eine brauchbare Reportage machen ließe. Er war sich aber nicht sicher, und so beschloss er, dieses Thema zurückzustellen. Vielleicht konnte er es verwenden, wenn bei dem Gespräch, auf das er jetzt zuging, nicht Verwertbares herauskam. Er überquerte die Maaleh Hashalom-Staße und betrat die Altstadt durch das Misttor. Dieses Tor hatte seinen seltsamen Namen daher, dass man hier vor Jahrhunderten den Abfall der Stadt hinausgeschafft und ins Hinnom-Tal gebracht hatte. Vom Tor aus kam er direkt auf den großen Platz vor der Klagemauer, dessen abgetrennter Bereich unmittelbar an der Mauer als Synagoge galt, wenn auch als Synagoge ohne Dach über dem Kopf.

Thomas überquerte die weite Fläche, und da er seinen Gesprächspartner nirgends entdecken konnte, setzte er sich auf einen Stuhl, nahe bei den Stufen, die hinauf zum nördlichen Ausgang in Richtung des arabischen Basars führten, in den Schatten eines der Bäume, die man vor kurzem dort gepflanzt hatte. Er sah hinunter, wo einzelne jüdische Männer im Gebet versunken vor der Mauer standen, mit Bewegungen, als würden sie ständig kleine Verbeugungen machen. So lange war er schon in Israel, aber das Judentum war ihm seinem Wesen nach immer noch fremd.

Da sah er Rabbi Blum auf sich zukommen. Rabbiner David Blum sah auf den ersten Blick genau so aus, wie man sich einen jüdischen Rabbi vorstellt, mit weißem langen Bart und Schläfenlocken, schwarz gekleidet und mit einem schwarzen, runden Hut auf dem Kopf. Auf dem zweiten Blick und im Gespräch entdeckte man aber noch anderes: ein humorvolles Blinzeln in den Augen, ein Lächeln um den Mund, eine versteckte Tiefgründigkeit seiner Ansichten und eine tiefe, weiche und doch klangvolle Stimme. Thomas kannte Rabbi Blum schon von mehreren Gesprächen. Er war trotz seines fortgeschrittenen Alters Thora-Lehrer an einer kleinen Jeschiwa im jüdischen Viertel der Altstadt, außerdem hielt er immer noch Vorlesungen über jüdische Geschichte an einer orthodoxen Hochschule und er arbeitete nebenbei in verschiedenen Kommissionen mit, bei denen es um das jüdisch-christliche Verhältnis ging. Thomas holte einen zweiten Stuhl heran und begrüßte seinen Gesprächspartner auf hebräisch.

Thomas war es gewohnt, bei seinen Interviews direkt zur Sache zu kommen, jetzt aber zögerte er und er erkundigte sich erst einmal nach den Enkeln des Rabbi, von denen er wusste, dass sie die Freude und der Stolz des Großvaters waren. Und Rabbi Blum erzählte angeregt und fröhlich von diesem und jenem seiner 14 Enkel, bis Thomas völlig den Überblick verloren hatte. Dann hielt er plötzlich inne, sah Thomas an und frage lächelnd: „Meine Enkel-Geschichten waren aber nicht der einzige Grund, warum Sie um ein Gespräch gebeten haben?” „Nein”, nun musste auch Thomas lachen, „mein Hauptgrund war … ja, wie soll ich sagen, eigentlich eine Verlegenheit. Ich bin jetzt schon fast 15 Jahre hier in Israel, aber ich habe immer noch nicht verstanden, was eigentlich das Besondere daran sein soll: ein jüdisches Volk in einem jüdischen Staat, hier im Land Israel. Warum ist das etwas anderes als bei irgendeinem anderen Volk in seinem Land?”

Rabbi Davids Lächeln verstärkte sich. „Nu, dann sind wir schon zwei, ich verstehe es nämlich auch nicht. Und ich fürchte, es gibt außer uns beiden noch ein paar, denen es so geht.” „Wen meinen Sie da?” „Na ja, die paar Millionen Juden hier in Erez Israel und noch einmal so viele in der Diaspora, irgendwo auf dieser Erde, und dazu ein paar Milliarden Christen und Moslems hier im Land und anderswo …” „Sie meinen, das kann man gar nicht verstehen?” „Ich meine, was es bedeutet, Jude zu sein in einem jüdischen Staat, hier im Land der Väter, das kann man sich nicht ausdenken; man muss es ausleben, jeden Tag neu.” „Aber wie sollte dann das konkret aussehen?“ „Nu, konkret aussehen sollte das so, wie es schon unserem Vater Abraham zugesagt war: ‚…in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden‘4. Das heißt: Durch das Lebensvorbild der Abrahamsnachkommen sollen alle Völker der Erde nach und nach und immer mehr Anteil bekommen an der Schöpfungsberufung der Menschheit: ‚… und Gott schuf den Menschen sich zum Ebenbild‘5 und dadurch auch am Schöpfungs-Segen des Anfangs: und siehe, es wird sehr gut. 6

4 1. Mose 12, 3

5 1.Mose 1, 27

6 1. Mose 1,31

Thomas konnte mit dieser Aussage wenig anfangen, sie war ihm zu nebulös, und er versuchte, das Gespräch wieder in konkrete Bahnen zu lenken. „Man sagt, Israel sei die einzige echte Demokratie im Nahen Osten, aber wäre der Geschichte dieses Volkes nicht eine Theokratie, eine Art ‚Königtum von Gottes Gnaden‘ angemessener?” Rabbi David hob abwehrend die Hände. „Ganz im Gegenteil, das jüdische Volk ist das einzige auf der Welt, dem die Demokratie in die Wiege gelegt wurde.“

Thomas war verblüfft. „Wie meinen Sie denn das?” „Nu, drei Tage bevor die Israeliten am Berg Sinai die Tafeln der Gebote, die Geburtsurkunde ihrer Volk-Werdung empfingen, hat die Stimme vom Berge her schon die Verfassung für dieses Volk verkündigt: Ihr sollt mir sein ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk.‘ Verstehen Sie: kein Volk mit einem König an der Spitze und einem hierarchischen Beamtenapparat, auch nicht mit einer herausgehobenen, abgesonderten Priesterkaste, sondern das ganze Volk soll eine königlich-priesterliche Verantwortung wahrnehmen. Und das, wie es schon Abraham zugesagt war, nicht nur zum Wohl für das eigene Volk, sondern zum Segen für alle Völker auf Erden. Das ist die weitestgehende Form von Demokratie, die überhaupt denkbar ist.”1 „Die aber so nie verwirklicht wurde.” „Nein”, Rabbi Blum schwieg und sah hinunter zur Westmauer des Plateaus, auf dem einmal der Tempel gestanden war. Dann sagte er, mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner: „Vielleicht wird diese Demokratie verwirklicht, wenn der Messias kommt, dort drüben, auf dem Platz hinter der Mauer.”

1Siehe das ThemaReich Gottes und Demokratie”

Thomas fand Rabbi David Blum heute etwas schwierig. Seine Antworten ergingen sich in Andeutungen und Spekulationen. Wie sollte er, Thomas, daraus eine Reportage machen, die ihm irgendeine Zeitung abnehmen würde? Aber da fuhr der Rabbi schon fort:„Man sagt, wenn das Volk Israel nicht freiwillig so lebt, wie Gott es für dieses Volk vorgesehen hat, so wird es vom Satan dazu gezwungen. Allerdings dann nicht auf göttliche, sondern eben auf satanische Weise.” „Wie meinen Sie das?” „Nun, zu einer königlichen Priesterschaft des ganzen Volkes zum Segen für alle Völker gehört doch, dass jeder Einzelne in diesem Volk vor Gott eine königlich-priesterliche Mitverantwortung wahrnimmt.“ „Wofür?“ Thomas wurde ein wenig ungeduldig, weil das Gespräch nicht nach seinen Vorstellungen verlief. „Dafür, dass das Gute geschieht und dem Bösen gewehrt wird. Das ist die Aufgabe eines Königs, und dafür, dass Versöhnung und Frieden möglich wird zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Gott, das ist die Aufgabe des Priesters. Beides ist nur möglich wenn die Menschen die Thora, die Weisungen Adonais kennen und danach leben.” David Blum sah Thomas an und der nickte, obwohl er nicht erkennen konnte, worauf sein Gegenüber hinauswollte. „Sehen Sie, und als das jüdische Volk diese königlich-priesterliche Verantwortung für die Völker der Welt nicht tragen wollte, damals vor zweitausend Jahren, als der Tempel noch auf dem Platz dort hinter der großen Mauer stand, da wurde es in die Verbannung geführt, mitten unter die Völker der Welt. Da musste es dann am eigenen Leibe erfahren, wie groß die Gottesferne war in diesen Völkern und wie nötig die Thora, die Weisung Gottes für ein gelingendes Miteinander. Die zweitausendjährige Verbannung war die Lehrzeit Israels in Bezug auf seine königlich-priesterliche Verantwortung für die Völker der Welt.” Rabbi Davids Worte klangen eindringlich.

Thomas wusste nicht recht, wie er den Rabbi verstehen sollte. „Sie meinen also, das jüdische Volk solle nun seine Berufung als königliches Priestertum annehmen und umsetzen, zum Segen für alle Völker, wie es Abraham verheißen war, aber wie könnte denn das konkret aussehen und welche Fehlentwicklungen müssten überwunden werden?”

Rabbi Blum zögerte ein wenig und sprach dann in der gewohnt ruhigen Weise: „Die Fehlentwicklung begann schon vor mehr als dreitausend Jahren, als Israel einen König haben wollte, um zu sein wie alle anderen Völker auch.* Aber Israel kann und darf nie sein wie alle anderen. Wenn Israel sein will wie alle anderen, dann sagt es sich los von dem, der sich Israel zum besonderen Eigentum erwählt hat. Und dann… dann kann es dahin kommen, dass der, der Israel erwählt hat, für einen kurzen Moment seine schützende Hand abzieht von Israel und die Mächte des Bösen freie Hand haben. Die können zwar nicht verhindern, dass es am Ende doch so kommt, wie es kommen muss, aber sie können den Weg dahin zu einem Weg durch die Hölle machen.”

* 2 1. Samuel 8, 4-7: Da versammelten sich alle Ältesten Israels und kamen nach Rama zu Samuel und sprachen zu ihm: Siehe, du bist alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht in deinen Wegen. So setze nun einen König über uns, der uns richte, wie ihn alle Heiden (= alle Völker) haben. Das missfiel Samuel, dass sie sagten: Gib uns einen König, der uns richte. Und Samuel betete zum HERRN. Der HERR aber sprach zu Samuel: Gehorche der Stimme des Volks in allem, was sie zu dir gesagt haben; denn sie haben nicht dich, sondern mich verworfen, dass ich nicht mehr König über sie sein soll.

„Sie sprechen hier den Holocaust an?” Thomas schaute auf Rabbi Blums Hände, die sich ineinander verkrampft hatten, als müssten sie sich gegenseitig festhalten. Die Antwort des Rabbi kam vorsichtig und zurückhaltend: „Ich spreche an die Verantwortung des Volkes Israel für die spirituelle Verfassung der Völker dieser Erde. „Und sie meinen, Israel ist dieser Verantwortung nicht gerecht geworden?” Rabbi Blum sah wieder hinüber zur Klagemauer und seine Antwort kam wie aus weiter Ferne: „Ich weiß nicht, wie der Ewige, gelobt sei er, uns ansieht. Ich weiß nur, dass Jahrhunderte lang das Volk der Juden dafür verantwortlich gemacht wurde, wenn irgendwo etwas Böses geschah. Ob die Pest ausbrach oder die Ernte verdorrte, immer waren wir dafür verantwortlich und wurden dafür verfolgt und getötet. Das ist die satanische Verkehrung der Verantwortung, die uns Gott gegeben hat.” Rabbi Blum unterbrach sich kurz und fuhr dann mit leiser Stimme fort: „Und zuletzt kam einer, der satanischste von allen, der hat das ganze jüdische Volk, jeden Einzelnen, verantwortlich gemacht für alles Böse, was auf dieser Erde geschieht. Ob Kind oder Greis, ob Millionär oder Habenichts, ob Gelehrter oder Dummkopf, jeder wurde persönlich verantwortlich gemacht. ‚Die Juden sind unser Unglück‘ hieß es. Jeder Einzelne, selbst wenn er noch ein Säugling war, wurde persönlich der Weltverschwörung schuldig befunden, durch die das Böse in diese Welt kommt, und deshalb galt unterschiedslos jedes Jude-Sein als todeswürdiges Verbrechen.”

Rabbi David schwieg und Thomas wagte nicht ihn anzusprechen, denn er sah, dass sein Gesprächspartner tief in Gedanken war. Dann fuhr der Rabbi fort, leise, kam verstehbar: „Ich war noch ein Kind, ein kleines Kind, das schon Mama und Papa sagen konnte, aber nicht viel mehr, als ich verantwortlich gemacht wurde, verantwortlich gemacht für den verlorenen Krieg, für die Inflation und die Weltwirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit, eben für alles Böse, und als beschlossen wurde, dass ich dafür sterben müsste. Aber ich wurde aus Deutschland herausgeschmuggelt auf verschlungenen und gefährlichen Wegen, von fremden, von guten Menschen, aber weg von Mama und Papa. Und ich habe überlebt.”

Der Rabbi sah Thomas an. „Man hört und liest ja immer nur die Geschichten derer, die überlebt haben und man hat den Eindruck, so schlimm war’s ja doch nicht. Aber die Millionen Geschichten, die nicht gut ausgegangen sind, und das waren ja die meisten und die noch schlimmeren, die können nicht mehr erzählt werden. Auch die von meiner Mama und meinem Papa nicht.” Der Rabbi schaute auf die große Mauer, als wäre sie durchsichtig und er könnte dahinter das Land sehen, wo seine Familie gelebt hatte und dort seinen Vater und seine Mutter. Thomas schwieg betroffen und wusste nicht, wie er dieses Gespräch weiterführen sollte. Damit hatte er nicht gerechnet.

Rabbi David ergriff selbst wieder das Wort. „Als ich selbständig denken konnte, da war ich noch jung – heute würde man sagen, ein Jugendlicher mit Flausen im Kopf – da habe ich die Verantwortung angenommen. Ja, ich habe sie angenommen, diese Verantwortung meines Volkes für diese Welt und alle Menschen: Königliches Priestertum – durch dich sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden. Seitdem ist das meine Lebensaufgabe: Mein Volk hinzuweisen auf seine Berufung.”

Beide schwiegen lange, bis Thomas es wagte, eine Frage zu stellen: „Warum dann aber der Hass auf die Juden? Ich dachte, es ging Hitler und den Nazis um die Ausrottung der jüdischen Rasse?”7 David Blum schüttelten den Kopf. „Nein, das war nur die Außenseite des Geschehens, ein Erklärungsmuster, das sich die Täter selbst gaben, vielleicht, weil sie selbst nicht verstanden, was sie taten. Es ging, wie schon im Paradies, um die Frage nach Gut und Böse. Sehen Sie, das Verbot vom Baum der Erkenntnis zu essen bedeutet ja nicht, dass man nicht wissen soll, was gut und was böse ist. Man soll es wissen, man muss es wissen, warum hätte der Ewige, gelobt sei er, sonst die Thora gegeben? Nein, das Verbot von diesem Baum zu essen bedeutet, dass man nicht danach verlangen soll, selbst, das heißt losgelöst von den Weisungen Adonais, erkennen und bestimmen zu wollen was gut und was böse sei. Wenn man zum Beispiel sagt, wie es die Nazis in Deutschland taten ‚Gut ist, was dem Volke nützt‘, dann hat man vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse geraubt und gefressen. Und was dann kommt, sind die Folgen davon: Das Böse wird zum Gesetz.” Rabbi David schwieg einen Augenblick und fuhr dann leiser aber eindringlich fort: Und irgendwann wacht man dann auf wie aus einem schlimmen Traum und steht fassungslos vor einer Totalhingabe des Menschseins an das Böse, wo brave Verwaltungsbeamte mit aller ihrer Fachkenntnis und Umsicht wissend ein unvorstellbares Vernichtungswerk organisierten, wo unbescholtene Familienväter tagsüber Tausende von Menschen, Männer und Frauen, Kinder und Greise, mit unglaublicher Brutalität aus ihren Häusern jagten, erschlugen und erschossen, wer zu entkommen suchte, die Lebenden zu Sammelplätzen trieben, sie dort zwangen, große Gruben auszuheben, dann sich zu entkleiden und vor die Gruben zu stellen, um sie dann zu erschießen, Stunde um Stunde, Schicht um Schicht bis die Gruben voll waren, und wo diese Massenmörder dann am Abend nach getaner ‚Arbeit‘ zu ihren Familien zurückkehrten, um da -ohne Gewissensnot und Scham- ihre eigenen Frauen und Kinder zu umarmen.” Rabbi David Blum atmete schwer und seine knochige Hand umklammerte die Armlehne des Stuhls. Es dauerte eine ganze Weile bis er weitersprechen konnte und seine Stimme klang jetzt rau und erregt.

7 Siehe das Thema: „Hitlers Kampf“

Auschwitz, Belzec, Treblinka, Babi Yar …, das sind Namen für die Kapitulation des Menschseins vor dem absolut Bösen, ja mehr noch für die Inthronisation des Bösen als anbetungswürdige Gottheit. Und es ging dabei im letzten Grunde nicht, ich wiederhole es: nicht um die Ausrottung einer als minderwertig angesehenen Rasse. Die Rassenhetze und Rassengesetze waren zu einem beträchtlichen Teil Mittel zum Zweck, das Eigentliche zu verschleiern. Hitler selbst war kein Antisemit.” Der Rabbi merkte, dass Thomas protestieren wollte und hob abwehrend die Hand. „Hitler war kein Antisemit, er war Antijudaist. Die semitischen Völker, zu denen ja nicht nur die Juden, sondern z. B. auch die Araber gehören, waren ihm kein Problem. Haj Amin el Husseini, Mufti von Jerusalem und glühender Judenhasser, Araber – also Semit -, wurde am 28.11.1941 von Hitler in seiner Reichskanzlei freundschaftlich empfangen. Ihr Judenhass war die gemeinsame Basis; die semitische Rasse des Gastes störte Hitler nicht.”

Thomas hatte sich in den vergangenen Jahren eingehend mit der Geschichte des Holocaust beschäftigt, hatte viel gelesen und in den Archiven von Yad Vashem gearbeitet. Nun merkte er, dass sein Verständnis von diesen Vorgängen ins Wanken geriet. „Sie meinen wirklich, dass es den Nazis im Letzten nicht um den Kampf der Rassen um die Weltherrschaft ging?” Rabbi David legte den Kopf schief und sah Thomas ein wenig spöttisch an: „Adolf Hitler war ein blonder Jüngling, sportlich und muskulös wie die Idealbilder vom Deutschen Mann, wie man sie damals zu Tausenden produzierte, nicht wahr, eben ein typischer Vertreter der nordischen Rasse.” Thomas schüttelte den Kopf und der Rabbi fuhr fort: „Nein, es ging im Letzten und in Wahrheit darum, wer bestimmen kann, was gut und was böse ist: der Schöpfer oder das Geschöpf, der Allmächtige oder die menschlichen Machthaber. Es ging um die totale Verfügbarkeit des Menschen für den Willen der ‚Führer‘. Es gibt eine ganze Reihe von Aussagen Hitlers und seiner wichtigsten Gefolgsleute, die genau das bestätigen. Es ging um eine Neugeburt des Menschseins durch die Ent-Bindung menschlichen Handelns von jeglicher Art von Ethik, es ging um die Geburt einer absoluten Herrschaft. ‚Führer befiehl, wir folgen!‘ Und die meisten merkten erst ganz am Schluss, dass es die absolute Herrschaft des Bösen war.”

Rabbi Blum richtete sich in seinem Stuhl auf und sah Thomas scharf an. „Und die Nazis wussten, dass das keine leichte Geburt sein würde. Man musste dazu jede Auffassung von Gut und Böse, jede Ethik, jede Handlungsmaxime, die irgendwo anders begründet wären, als im Willen der Machthaber selbst, für immer austilgen. Man musste fast zweitausend Jahre christlich-jüdische Kultur in Europa auslöschen. Und das konnte man am besten und wirkungsvollsten, indem man das ganze Volk, offen oder verdeckt, mitschuldig machte am grausigsten Verbrechen, das jemals auf dieser Erde begangen wurde. Indem man den millionenfachen Mord zur guten Tat erklärte, und die Menschen anwies, diese Tat nun auch auszuführen, wollte man ein ganzes Volk zu Mitwissern und Mittätern der eigenen Bosheit machen, ja zu willigen Dienern und Vollstreckern des absolut Bösen. Und in so einem Volk, in der auch solche Vorhaben und Vorgehensweisen noch als notwendig, gerechtfertigt und angemessen hingenommen und ausgeführt würden, gäbe es keine Möglichkeit mehr, ja nicht einmal mehr den leisesten Gedanken daran, sich dem Machtanspruch der Herrschenden jemals zu verweigern. Wie sollten denn Menschen, die Millionen Unschuldiger auf furchtbarste Weise ermordet hatten, je auf die Idee kommen, nein zu sagen – nein zu sagen zu irgendeinem Befehl, weil er zu unmenschlich wäre?”

Rabbi David lehnte sich erschöpft zurück und schloss die Augen. Thomas ließ ihm Zeit. Schließlich richtete sich der Rabbi im Stuhl auf und fuhr fort, immer noch mit geschlossenen Augen, aber mit lauter Stimme, als stünde er vor einem unsichtbaren Auditorium: „Der Hass der nationalistischen Ideologie, die die Gewaltherrschaft der Starken über die Schwachen zum höchsten Ideal erhob, richtete sich im Letzten gegen den Gott der Juden, den Gott, der die Thora gegeben hatte, die Weisungen für eine gottgewollte Menschlichkeit. Und weil man diesen Gott der Juden nicht direkt angreifen konnte, richtete sich dieser Hass stellvertretend gegen das Volk der Juden, gegen das Volk, dem die Thora gegeben war und eine königlich-priesterliche Verantwortung für diese Welt.

Die Juden in Deutschland und Europa wurden von den Nazis verfolgt und umgebracht, weil sie Träger einer Rechtsordung waren, der Thora, der Gebote Adonais, die, weil vom Ewigen her kommend, nicht in die totale Verfügbarkeit der Herrschenden gegeben war: Du sollst nicht morden! Die Juden in Deutschland und Europa wurden ermordet, weil sie eine Lebensordnung repräsentierten, die nicht beliebig manipulierbar war und weil die Herrschenden nicht erwarten konnten, dass die Juden in ihrer Mehrheit sie je aufgeben würden. Die Juden Europas wurden in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau getrieben, weil man hoffte, dort mit ihnen zugleich auch das biblische „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ endgültig zum Schweigen zu bringen. Die Juden Europas starben für ihre Thora.”

Nach dieser Anstrengung sank der Körper des Rabbi im Stuhl zusammen, als wäre alle Kraft aus ihm gewichen. Und auch Thomas Hoffmann war erst einmal mit sich selbst, mit der Verwirrung seiner eigenen Gefühle und Gedanken beschäftigt. So dauerte es eine ganze Weile, bis er versuchte, das Gespräch wieder fortzusetzen. „Und die christlichen Kirchen, welche Rolle spielten sie in diesem Geschehen?”

Rabbi Blum zögerte einen Augenblick, dann fuhr er fort, und Thomas merkte, dass er bemüht war, seine Worte sorgfältig auszuwählen: „Anfangs hatten Hitler und seine führenden Leute noch die Erwartung, dass sie die Christen und die christlichen Kirchen ganz auf ihre Seite ziehen könnten, und sie waren dafür bereit, ihre widergöttliche Ideologie mit einem ganzen Kranz religiöser und pseudoreligiöser Worte und Handlungen zu schmücken. Sie hofften, dass die Christen bereit sein würden, um der Teilhabe an der Macht willen, die zentralen Inhalte ihres Glaubens aufzugeben, und anfangs hatten sie, das haben die christlichen Kirchen eingestanden und beklagt, große Erfolge damit. Am Ende des sogenannten Dritten Reiches aber wurde immer deutlicher, dass die Christenheit als Ganzes, und auch die Christenheit in Deutschland, ihnen nicht in letzter Konsequenz folgen würden. Und wir können an verschiedenen Aussagen mitverfolgen, wie auch der Hass auf die Christen und die Kirchen immer aggressiver wurde.

Erst wenn der letzte Jude vernichtet und der letzte Christ Nazi geworden oder zum Schweigen gebracht wäre, erst dann wäre die Macht der Mächtigen vollkommen, erst dann wäre der Weg frei für eine absolute Herrschaft, die völlig hemmungslos und je nach eigenem Belieben selbst festlegen könnte, was gut und was böse sei, um dann entsprechend zu handeln. Beides – die Vernichtung der Juden und die Unterwerfung, oft auch Selbstunterwerfung der Christen – beides ist in einem furchtbaren Ausmaß geschehen, und es ist nur dem Eingreifen des Allmächtigen selbst zuzuschreiben, das nicht beides endgültig gelungen ist.”

Thomas brauchte einige Zeit um das Gehörte zu verarbeiten, und obwohl er sich nicht als gläubigen Kirchenchristen verstand, und obwohl er wusste, dass Rabbi Blum recht hatte, fühlte er sich doch unerwartet an den Wurzeln seiner eigenen Existenz angegriffen. Er musste dieses Empfinden bewusst abschütteln, bevor er die nächste Frage stellen konnte: „Welche Konsequenzen soll man nun aus diesen Erfahrungen ziehen?” Die Antwort kam schnell und knapp. „Israel muss werden, was es sein soll, das genügt.”

Der Rabbi sah Thomas kurz an. „Sie haben vorhin gefragt, wie die Berufung Israels zu einem königlichen Priestertum konkret aussehen könnte, heute, in unserer Zeit?” „Ja genau.” „Nu, der Prophet Jesaja sagt es so: Von Zion wird Thora ausgehen und das Wort JaHWeHs von Jerusalem. Und er wird Streit schlichten zwischen den Völkern und Recht sprechen für viele Nationen. Da werden sie ihre Schwerter umschmieden zu Pflugscharen und ihre Speerspitzen zu Winzermessern. Es wird kein Volk gegen das andere das Schwert erheben und sie werden nicht mehr lernen, wie man Krieg führt.“8 Sehen Sie, dazu ist das Volk Israel in das Land seiner Väter zurückgekehrt, dass es da seine königlich-priesterliche Berufung neu annehmen kann, und dass dann von ihm Thora, also Weisung, Anweisung, Wegweisung, Richtungsweisung, auch Zurechtweisung ausgehen kann, entsprechend dem Wort des Allmächtigen, zum Segen für alle Völker.” Ein kurzes Lächeln huschte über Rabbi Blums faltiges Gesicht. „Ich sehen Ihnen an, dass Ihnen das noch lange nicht konkret genug ist.” „Ja, da haben Sie recht.” Thomas hatte sich zwar im Laufe der Zeit eine gewisse Bibelkenntnis angeeignet, aber es fiel ihm doch schwer, den Gedankengängen des Rabbis zu folgen.

8 Jes 2, 3b-4 eigene Übersetzung

Versuchen wir es anders,” sagte der Rabbi geduldig wie ein Grundschullehrer, der einem schwachen Schüler das 1×1 beibringen will. „Sie haben von diesen sogenannten ‚Aposteln‘ gehört?” Thomas nickte und Blum fuhr fort: „Ich habe in den vergangenen Monaten mehrere Gespräche mit einigen von ihnen gehabt und ich habe dabei gelernt, manche Dinge neu zu sehen.” „Die orthodoxen Juden stehen doch diesen Aposteln eher kritisch gegenüber?” „Nicht alle, ich zum Beispiel bin auch othodoxer Jude. Und ich sehe, dass diese „Apostel“ genau das tun, was die Sache des Judentums insgesamt wäre. Sie geben klare und vom Wort der Heiligen Schrift inspirierte Weisungen, die solchen Menschen, die nach dem Willen Gottes fragen, Hilfen geben können für ihr Leben, Reden und Tun.” „Aber das machen doch alle Rabbiner auch, sie geben genaue Anweisungen, wie man sich verhalten soll, z.B. was man essen darf und was nicht.”

Rabbi Blum nickte. „Sehen Sie, im orthodoxen Judentum dreht sich fast alles um koscher oder nicht koscher, rein oder unrein, erlaubt oder verboten. Diese Regeln haben aber heute nur innerjüdische Bedeutung. Meist geht es um die Heiligung des Schabbat oder um Vorschriften für die Speisen. Das ist gut, aber es genügt nicht. Gott will, dass von Zion Thora ausgeht für die Völker, für das Leben und Zusammenleben der Menschen auf dieser Erde. Und da geht es nicht nur um milchig oder fleischig, sondern um Frieden zwischen den Völkern und Kulturen, da geht es um Gerechtigkeit zwischen den Armen und Reichen. Da geht es um Erhaltung der Schöpfung oder besinnungslosen Raubbau an der Natur, da geht es darum, dass diese Erde nicht von den Waffen menschlichen Wahnsinns zerstört wird, sondern als Ort des Lebens und der Lebensfreude erhalten bleibt, bis der Messias kommt. Dafür brauchen die Völker heute Weisungen, brauchen eine konkrete Gegenwarts-Thora, die sich aber Wort für Wort und Punkt für Punkt aus der einen Thora in der Heiligen Schrift ableitet. Die Frage ist doch heute, was ist koscher oder nicht koscher im globalen Finanzwesen, im Geschäftsverhalten der internationalen Konzerne, in der Handhabung militärischer Macht, in der Rechtsprechung der Völker, in der modernen Wissenschaft und Forschung, in den Medien von der Tageszeitung bis zum Internet. Auch die ersten Apostel der Christenheit, die ja alle Juden waren, hatten diese Aufgabe: Im Auftrag des Höchsten zu sagen, was erlaubt oder verboten, rein oder unrein, koscher oder nicht koscher ist für das Leben in dieser Welt. Das bedeutet nämlich die Anweisung Jeschuas von Nazareth an seine Jünger zu binden und zu lösen.”9 Rabbi David hatte sich wieder in Fahrt geredet und begleitete seine Worte mit lebhaften Gesten. Thomas Hoffman wartete bis er geendet hatte und hakte dann nach: „Sie meinen also, dass die Berufung zum königlich-priesterlichem Handeln vom Judentum zu diesen christlichen Aposteln übergegangen ist? Ist das nicht eine neue Enterbungs-Theologie?”

Rabbi David schüttelte den Kopf. „Die Apostel sind, das wissen die wenigsten, alle jüdischer Herkunft, auch wenn einige von ihnen aus ihrer persönlichen Lebensführung heraus verschiedenen christlichen Kirchen angehören, auch freikirchlichen Gruppen und messianischen Gemeinden. Einige, die Apostel Simon und Jakob zum Beispiel, rechnen sich selbst dem orthodoxen Judentum zu. Nein, das Apostelamt, durch das Thora ausgehen wird von Zion und das Wort des Herrn von Jerusalem und durch das Adonai selbst Recht sprechen wird zwischen den Nationen und zurechtweisen wird die Völker, damit sie ihre Schwerter umschmieden zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Winzermessern10, das ist und bleibt an Israel und Jerusalem gebunden.”

9 Vgl. Mt 16,19 und 18,18

10 Jes 2, 3b+4a

„Das klingt jetzt wieder wie ein Exklusivanspruch des Judentums”, sagte Thomas ein wenig vorwurfsvoll. Rabbi Blum hob abwehrend die Hände und betonte bei den folgenden Sätzen einzelne Wörter um sie besonders hervorzuheben. „Sehen Sie, man muss unterscheiden zwischen dem Volk der Gottesherrschaft und den Botschaftern der Gottesherrschaft. Das Volk verkündigt die Thora Gottes durch sein Leben und Tun. Die Botschafter der Königsherrschaft Gottes dagegen verkündigen die Thora noch dazu durch das von Gott selbst autorisierte Wort. Die Thora des Lebens und Tuns kann in jedem Land und durch jedes Volk verkündigt werden. Im sogenannten ‚Neuen Testament‘ werden ausdrücklich auch gläubige Gemeinden aus heidnischer Herkunft ‚das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums‘11 genannt. Die Thora des Wortes dagegen, die im Auftrag des Höchsten, gelobt sei er, in die konkreten Situationen und Beziehungen dieser Welt hineingesprochen werden soll, die muss von Zion ausgehen. Rabbiner, theologische Lehrer und kirchliche Amtsträger kann es überall geben, Botschafter aber, die autorisiert sind, für ihren König, den Ewigen und Allerhöchsten zu sprechen, gibt es nur an dem Ort, wo es der König selbst bestimmt hat. Übrigens: Das griechische Wort für Botschafter heißt ‚Apostel‘.

111.Petr 2, 9 , siehe auch Eph 2, 19: „So seid ihr (die Gläubigen aus den Heidenvölkern) nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.”

Die Thora des Wortes und die Thora des Lebens gehören unbedingt zusammen, fehlt eines von beiden, wird auch das andere ungültig. Das Judentum hat zusammen mit denen, die das Neue Testament die ‚Herausgerufenen aus den Völkern‘ nennt, die Thora des Lebens und Tuns zu verkündigen: ‚Ihr sollt mir sein ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk‘. Das ist die Mizwa12, die der Höchste, gelobt sei er, Juden und Christen gemeinsam auferlegt hat, und wenn wir sie annehmen und im Hören auf die Thora des Wortes durch die berufenen Botschafter auch wirklich tun, dann wird der Messias gewiss nicht mehr lange ausbleiben.”

12 Mizwa (hebr.) = Aufgabe, Pflicht

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Mist-Tor,  Version 2022-8

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