Thomas war schon am Zionsplatz aus der Straßenbahn gestiegen, die seit ein paar Jahren die neuen Stadtteile im Westen mit dem alten Zentrum verband. Er wollte noch ein paar Schritte laufen, bevor er seinen ersten Termin wahrnahm. Der Tag würde ohnehin lang und anstrengend werden. Während Thomas die Jaffa-Straße gegenüber dem Jerusalemer Rathaus entlanglief, nahm er die gewohnten Bilder und Geräusche nur unbewusst wahr. In Gedanken war er schon bei seinem ersten Gespräch. Es war gar nicht so leicht gewesen, einen Interview-Termin mit einem Mitglied des Apostolats zu bekommen, jetzt, wenige Tage vor den entscheidenden Sitzungen. Aber er hatte in den vielen Jahren seines Aufenthalts in Israel so viele Verbindungen geknüpft, dass er fast immer Mittel und Wege fand, Informationen aus erster Hand zu bekommen, während andere noch unsicheren Gerüchten nachliefen.
Wie hatte sich doch in den letzten Jahren die Situation in dieser Stadt verändert! Jerusalem war immer noch Hauptstadt Israels, aber zugleich war es auch zu einer Art spirituellem Weltzentrum geworden. Von allen Teilen der Erde schaute man auf Jerusalem, wenn wichtige Weichenstellungen anstanden, und jetzt war es wieder einmal soweit.
Thomas Hoffmann überquerte den Tzahal-Platz und ging dann im Schatten der alten Stadtmauer in Richtung des Jaffa-Tores. Die mächtigen Steinquader der Mauer vermittelten immer noch ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit, obwohl das im Zeitalter von Interkontinentalraketen mit atomaren Sprengköpfen natürlich völlig irrational und unsinnig war, wie sich Thomas in Gedanken sofort selbst korrigierte. Heutzutage müssten ganz andere Mauern aufgerichtet werden, um den Menschen Schutz und Geborgenheit zu geben. Unwillkürlich blieb er stehen. Vielleicht wäre das ein guter Einstieg in das Interview: Welchen Schutz brauchen wir heute, um den Frieden zu bewahren? Steinmauern werden nicht helfen und Betonbunker auch nicht. Thomas durchschritt den abgewinkelten Zugang des Jaffa-Tores und schaute hinüber zu den Mauerresten der alten Zitadelle. Immer, vor Jahrtausenden genau so wie heute, waren die Angriffswaffen und die Zerstörungskräfte stärker gewesen als die stärksten Bollwerke der Verteidigung.
Bevor Thomas in das Halbdunkel des David-Shuk eintauchte, begrüßte er einen der Händler, der gerade begann, seine Waren auszupacken und gut sichtbar auszulegen. Viele der Händler kannten ihn und schätzten ihn als guten Kunden, der für gute Ware einen guten Preis zu zahlen bereit war. Das hatte ihm schon manchen hilfreichen Tipp eingebracht, denn die Händler in den Basaren der Altstadt hatten offene Ohren und erfuhren manche Dinge eher, als es über die offiziellen Kanäle möglich war.
Nach kurzer Strecke über die steile David-Staße, deren Treppen von Millionen Tritten blank poliert waren, bog er in die lange, ebene Christian-Quarter-Road ein, die jetzt am Morgen noch fast menschenleer lag. Die Rolläden der Geschäfte waren noch herabgelassen und selbst die Geräusche aus den Seitengassen und hinter den verschlossenen Toren klangen noch verschlafen. Jetzt konzentrierte sich Thomas ganz auf die bevorstehende Aufgabe und ordnete in Gedanken noch einmal die geplanten Fragen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Interviews sorgfältig vorzubereiten, sich dann aber im Gespräch von der Intuition des Augenblicks leiten zu lassen.
Thomas betrat das unauffällige Gebäude durch eine schmale Holztür, der man das Alter und den Gebrauch deutlich ansah. Von da aus kam er durch einen kurzen überwölbten Gang in einen kleinen, fast quadratischen Innenhof, der mit alten, glatt getretenen Steinen gepflastert war. Links an der Hauswand rankte eine üppig blühende Bougainvillea. Er schaute sich um, wo er nun weitergehen sollte, sah an einem kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen im Schatten des Gebäudes einen Mann sitzen und ging auf ihn zu, um nach dem Weg zu fragen. Der drehte sich, als Thomas herankam um, stand auf und kam ein paar Schritte auf ihn zu. Thomas war überrascht, als er in dem Mann seinen Gesprächspartner erkannte, ließ sich aber nichts anmerken, als dieser ihn begrüßte, und bedankte sich für die Bereitschaft, ihm ein Interview zu gewähren.
Dieser erste Moment der Begegnung war für Thomas immer einer der wichtigsten im ganzen Interview. Er konnte in diesen wenigen Sekunden abschätzen, was ihn erwarten würde: ein Gespräch, das den Zeitaufwand lohnte, oder eines, das nur altbekannte Standpunkte wiederholte; ein Gesprächspartner, der ihm ehrlich antworten würde, oder einer, der versuchen würde, ihn an der Nase herumzuführen und die Macht der Medien für seine Zwecke einzuspannen. Apostel Andreas war ein Mann mittleren Alters, mittlerer Größe und Statur, nichts Auffälliges, wenn man ihm auf der Straße begegnete. In seinen Augen aber erkannte Thomas eine konzentrierte Wachheit, eine von kluger Überlegung gezähmte Impulsivität und eine Offenheit, die bereit schien, sein Gegenüber anzunehmen und ernst zu nehmen. Das Gespräch könnte also interessant und lohnend werden.
Apostel Andreas deutete auf den Tisch mit den beiden Stühlen: „Wären Sie einverstanden, wenn wir das Gespräch hier draußen führen? Ein schöneres Ambiente als diesen Hof und die Bougainvillea kann ich Ihnen drinnen nicht bieten, und um diese Tageszeit sind wir hier ungestört.” Thomas nickte: „Sehr gern, einen geeigneteren Platz kann ich mir kaum vorstellen.” Sie setzten sich. „Darf ich das Aufnahmegerät benützen?” Thomas hasste es, sich während eines Gesprächs Notizen zu machen und noch mehr, später aus diesen Notizen den Gesprächsverlauf zu rekonstruieren. Andreas deutete mit einer Handbewegung und einem Lächeln an, dass er nichts dagegen hatte.
Thomas begann das Gespräch so, wie er es geplant hatte: „Wir sind hier in der Altstadt von Jerusalem umgeben von mächtigen Mauern. Die konnten vor mehr als einem halben Jahrtausend, als sie gebaut wurden, den Menschen einen gewissen Schutz geben. Aber was kann uns heute schützen im Zeitalter von Interkontinental-Raketen mit Atomsprengköpfen?”
Andreas zog die Augenbrauen hoch: „Sie reden nicht lange um den heißen Brei, nicht wahr? Nun, dann will ich genau so direkt zur Sache kommen. Nein, es gibt keine technischen Vorrichtungen, die uns gegen die modernen Waffensysteme schützen könnten. Keine Raketenabwehr der Welt kann garantieren, dass nicht doch eine Rakete durchkommt. Und was geschieht mit den Sprengköpfen der Raketen, die man erfolgreich abgeschossen hat? Die lösen sich ja nicht in Luft auf. Und wo sie herunterfallen, leben auch Menschen, die gern weiterleben wollen. Man kann auch nicht die ganze Bevölkerung eines Landes in atomwaffensichere Bunker stecken, die noch dazu luftdicht gegen Giftgase und Bio-Waffen abgeschlossen sein müssten. Selbst wenn man dort einige Zeit überleben könnte, menschenwürdig leben könnte man da nicht.”
„Aber wo sind die Alternativen? Die Waffen, deren Vernichtungskraft ausreicht, alles Leben auf diesem Planeten gleich mehrfach auszulöschen, sind ja da, und sie lassen sich nicht wegreden und – verzeihen Sie, wenn ich das so direkt sage – auch nicht wegbeten.” Ein leichtes Lächeln huschte über Andreas‘ Gesicht; er lehnte sich im Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. „Das Problem sind nicht die Waffen, sondern die Menschen, die bereit wären, sie einzusetzen. Genauer gesagt, das Problem sind die Ideen in den Köpfen der Menschen, die es einem verantwortlichen Politiker oder Militär gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, den roten Knopf zu drücken und den Verlust von Millionen Menschenleben in Kauf zu nehmen. Jeder vernünftige Mensch weiß doch seit Jahrzehnten, dass solche Waffen blanker Irrsinn sind, weil ihre Anwendung immer auch den eigenen Tod und den Untergang des eigenen Volkes mit einschließen würde, und trotzdem gibt es sie, und Länder, die sie noch nicht haben, streben mit aller Macht danach, sie zu bekommen. Ihre Machthaber meinen, mit Atomwaffen könne man Politik machen, man brauche sie ja gar nicht einzusetzen, es genüge, wenn man sie habe, dann sei man politisch stark. Aber,” Andreas zögerte einen Augenblick, „es gab noch nie in der Geschichte der Menschheit Waffensysteme, die nicht irgendwann auch mit aller Konsequenz eingesetzt wurden. Insofern ist beten vielleicht doch nicht die schlechteste Idee.”
„Sie meinen also, dass alle Abrüstungsbemühungen von vorn herein zum Scheitern verurteilt sind?” Apostel Andreas schüttelte den Kopf. „Nein, nur die Abrüstung muss in den Köpfen beginnen, dann wird die Abrüstung der Waffenarsenale ganz von selbst folgen. Wenn es heute gelänge, alle Bomben und auch sonst jede Art von modernen Waffen vollständig zu beseitigen, und es wäre keine Friedensbereitschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen, dann würden sie sich eben wie vor Jahrtausenden mit Schwertern und Dolchen umbringen. Und, glauben Sie mir, die Verwundeten und Sterbenden auf den Schlachtfeldern der Antike und ihre hungernden Angehörigen zu Hause haben nicht weniger gelitten.”
Thomas war einen Moment aus dem Konzept gebracht. Seine vorbereiteten Fragen passten auf einmal nicht mehr zum Verlauf des Gespräches. Aus dieser Unsicherheit heraus beschloss er, nun direkt zur Sache zu kommen: „Was also wird das Apostelkonzil und der Rat der 24 Ältesten beschließen, wenn sie nächste Woche zusammenkommen?” Die Antwort kam prompt: „Ich kann und will nichts vorwegnehmen, was Inhalt der Gespräche sein wird. Sie wissen ja, dass im Rat auch das prophetische Amt als unverfügbares Element freier Gottesunmittelbarkeit vertreten ist, da muss man immer dafür bereit sein, dass noch Gesichtspunkte ins Spiel kommen, mit denen noch niemand gerechnet hat. Aber ich will doch die Richtung andeuten, in die unsere Überlegungen gehen.”
Der Apostel unterbrach sich einen Moment und Thomas merkte, wie er versuchte, seine Gedanken in eine angemessene Form zu bringen, bevor er sie aussprach. Dann sah er Thomas an. „Sie sind Europäer, deshalb will ich versuchen, das, was uns bewegt, an einem Beispiel aus der jüngsten europäischen Geschichte zu verdeutlichen. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg gab es immer wieder nationale und internationale Konflikte, die nach Jahren voller Krisen und nach verzweifelten Versuchen sie zu steuern und einzudämmen, doch zu militärischen Auseinandersetzungen geführt haben. Ein Beispiel dafür war der Kosovo-Krieg 1999 (heute würde man als Beispiel den Ukraine-Krieg anführen) . Als alle Befriedungsversuche gescheitert waren, blieb in der Einschätzung der Verantwortlichen nur noch die Militäraktion als Handlungsmöglichkeit, um noch Schlimmeres zu verhindern. Bei der militärischen Offensive wurde dann alles eingesetzt, was das Militär zu bieten hat: Präzisionsbomben und satellitengesteuerte Raketen und, und, und …, ja sogar vieles, was gar nicht primär Sache des Militärs ist, z.B. Hilfe bei der Versorgung der Hunderttausende von Flüchtlingen, mit denen offensichtlich niemand gerechnet hatte.
Vor der militärischen Offensive war die politische Offensive über Monate hinweg zu immer neuen Versuchen gestartet, um doch noch zu einer einvernehmlichen und für alle Beteiligten annehmbaren Lösung zu kommen. Dabei war alles eingesetzt worden, was Politiker zu bieten haben: Konferenzen in großer Runde und Verhandlungen unter vier Augen, Ringen um Machtbereiche und Einflußsphären, Feilschen um Formulierungen und Vertragsdetails, Abstimmen von politischen Maßnahmen und wirtschaftlichen Konsequenzen. Beide Offensiven, die politische und die militärische, haben ihr Ziel nicht erreicht.”
An dieser Stelle unterbrach Thomas seinen Gesprächspartner: „Warum nicht und was wäre die Alternative gewesen?” Andreas fuhr unbeirrt fort: „Sie konnten ihr Ziel nicht erreichen, weil eine dritte Offensive, die lange vor der politischen und militärischen hätte gestartet werden müssen, weitgehend ausgeblieben war: Friedensbereitschaft ist eine geistige Haltung, eine menschliche Gesinnung, die mit wirtschaftlichen Anreizen nicht zu erkaufen und mit militärischen Drohungen nicht zu erzwingen ist. Den europäischen Politikern war offensichtlich völlig entgangen, dass Frieden nicht nur eine politische, militärische und wirtschaftliche Dimension hat, sondern auch eine spirituelle. Das mochte daran liegen, dass den meisten von ihnen selbst diese Dimension des Denkens völlig fremd war.
Die dritte, die spirituelle Offensive, hätte von denen geführt werden müssen, deren ureigenste Berufung die spirituelle Auseinandersetzung und die versöhnende Diakonie ist. Das sind trotz aller eigenen Unversöhntheiten von ihrem Auftrag her die christlichen Kirchen. Sie müssten auf so einem Konfliktfeld das investieren, was sie zu bieten haben: Eine Zielorientierung, die weit über das rein Materielle, also Land und Macht und Reichtum, hinausgeht, ein Geschichtsbewusstsein, das sich nicht an den Kriegen und Siegen der Vergangenheit orientiert, um daraus die Legitimation für eine kämpferische Gegenwart und Zukunft abzuleiten, ein Selbstwertgefühl, das nicht ‚die Anderen‘ herabsetzen muss, um sich selbst zu erhöhen, sondern das die Andersartigkeit der Andern als Teil ihrer ethnischen, kulturellen und regiligösen Identität achten und schätzen kann. Und sie könnten solches friedenstiftendes Um-Denken auf das Fundament eines Glaubens stellen, der jeden Einzelnen und jede Gemeinschaft mit dem Friedefürsten des Gottesreiches in Verbindung bringt, und ihnen damit eine unzerstörbare Würde und eine unverlierbare Hoffnung gibt.”
„Und Sie meinen wirklich, dass so eine ’spirituelle Offensive‘ den Krieg hätte verhindern können?” fragte Thomas skeptisch. „Ich meine, dass eine langfristige und geduldige Friedensarbeit, die dem allmählichen Aufbau einer aktiven Friedensgesinnung in den beteiligten Volksgruppen dient, Voraussetzungen schaffen und Einstellungen vermitteln kann, die eine kriegerische Auseinandersetzung sehr unwahrscheinlich machen. Und dass diese spirituelle Offensive ausblieb, oder, wo sie versucht wurde, nicht intensiv genug geführt und nicht umfassend und ehrlich genug unterstützt wurde, ist eine der Ursachen für die menschliche Tragödie, die dann folgte. Die spirituelle Verengung führte zu der festgefahrenen Situation, in der nur noch militärisches Handeln übrig blieb.
Wer hat die Friedensfähigen und Versöhnungsbereiten in den christlichen Kirchen und Gemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien gesucht? Wer hat sie herausgefordert, gestärkt und unterstützt in dem Bemühen, eine Gesinnung friedlicher Koexistenz und eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen und zu fördern? Wer hat den Versuch gemacht, auch die geistigen Kräfte des Islam oder des Sozialismus, ja auch alle positiven Kräfte einer religionsfernen Menschlichkeit für eine Friedensgesinnung auf dem Balkan zu gewinnen? Und wer wäre bereit gewesen, die notwendigen Mittel für so eine Friedensarbeit bereitzustellen (winzige Mittel im Vergleich zu den Milliarden, die der militärische Einsatz kostete)?“
„Was also haben Sie konkret vor?“ „Was wir vorhaben, ist die Initiierung eines weltweiten spirituellen Friedensdienstes. Wir wollen nach und nach in allen Regionen der Erde Diakonate einrichten als Zentren einer Friedensarbeit, die nicht in erster Linie schon entstandene Krisen zu lösen versucht, sondern die einen vorausgehenden und vorbeugenden Friedensdienst in Gang setzt. Man muss für den Frieden eintreten, solange er noch zu haben ist. Wenn die Schlachten toben, ist es schwer, für Achtsamkeit und Rücksicht zu werben. Ziel solcher Friedensarbeit wäre der Aufbau und die Förderung einer allgemeinen Friedensgesinnung in den Köpfen und Herzen der Menschen. ” „Und sie glauben wirklich, dass die Machthaber und Kriegstreiber dieser Welt so eine Friedensarbeit in ihrem Machtbereich zulassen würden?”
Apostel Andreas sah Thomas mit einem kühl abschätzenden Blick in die Augen, dann sagte er: Schalten sie einen Moment ihr Diktiergerät aus und versprechen Sie mir, die folgenden Sätze nicht weiterzugeben. Thomas nickte nur und schaltete das Gerät ab. Dann fuhr Andreas fort: „Sie sind ja als Korrespondent der internationalen Presse in vielen Ländern herumgekommen. Sie wissen: In allen Ländern der Welt gibt es Abteilungen der Regierungen, die ‚Verteidigungsministerien‘ heißen, oder so ähnlich, auch dort, wo das in Wirklichkeit gehorsame Militärmaschinen aggressiver, kriegslüsterner Diktaturen sind. In keinem Land der Erde gibt es ein „Ministerium für Frieden“. Niemand scheint so etwas für nötig zu halten. Wie soll man da einen spirituellen Friedensdienst etablieren? Aber vielleicht ist das gar nicht so aussichtslos. Ich rechne damit, dass Machthaber, die ihre Macht mit militärischer Gewalt erobert haben, und deren entscheidende Machtstütze das Militär ist, kein Gespür haben für die Kraft und die Wirkung einer spirituellen Friedensarbeit, dass sie so etwas eher für eine nutzlose Spielerei halten, und dass sie deshalb, um nach außen nicht als Friedensfeinde dazustehen, sich nicht sehr gegen so ein „Diakonat für Versöhnung und Frieden” wehren werden. Ich rechne aber auch damit, dass dann, wenn diese Arbeit einmal begonnen hat, Entwicklungen in Gang kommen, die auch solche Machthaber nicht mehr einfach übersehen oder ausschalten können. Vielleicht gibt es ja in ein paar Jahren in allen diesen Ländern ein echtes Friedensministerium? Es ist ja nicht nur eine menschliche Idee, die wir verfolgen. Gott selbst will Frieden stiften zwischen den Menschen und Völkern, den Rassen und Kulturen. Und wenn Jesus die Friedensstifter selig preist, dann rechne ich auch damit, dass er ihr Bemühen nicht ungesegnet lässt. Andreas beugte sich vor und deutete auf das Aufnahmegerät: Sie können es wieder anschalten.”
Thomas war jetzt innerlich elektrisiert, obwohl er sich nach außen nichts anmerken ließ. „Und wie sollte man sich so eine Friedensarbeit konkret vorstellen?” „Da gibt es sehr viele Möglichkeiten, ich will hier nur zwei andeuten: In allen Völkern gibt es nationale Vorbilder, meist Kriegshelden aus der Vergangenheit. An den Kriegern und Siegern der Geschichte orientiert sich das Nationalbewusstsein, der Nationalstolz der Gegenwart. Es ließen sich aber in der Geschichte jedes Volkes und jeder Kultur auch Persönlichkeiten finden, die nicht für den Krieg, sondern für den Frieden Herausragendes geleistet haben, sozusagen Helden des Füreinander statt des Gegeneinander, der Mitmenschlichkeit statt der Unmenschlichkeit. Es wäre schon ein großer Schritt auf dem Weg zu einer Friedensgesinnung, wenn es gelänge, für die verschiedenen Völker diese National- und Kulturgeschichte der Mitmenschlichkeit zu entdecken, sie aufzuarbeiten, darzustellen und den Menschen nahe zu bringen.”
„Sie sprachen noch von einer zweiten möglichen Konkretion?” „Ach ja, entschuldigen Sie. Nehmen wir zum Beispiel diese Stadt Jerusalem. (Sie können aber auch irgendeine andere Stadt irgendwo auf der Erde nehmen.) Da gibt es eine riesige Anzahl von Gruppierungen, die je ein gemeinsames spirituelles Konzept haben. Zum Beispiel die vielen verschiedenen christlichen Kirchen, oder die zahlreichen jüdischen Synagogengemeinschaften, oder Gemeinschaften des Islam und anderer Religionen, oder Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, der Rote Halbmond, der Rote Davidstern, auch die arbeiten ja aus einem spirituellen Impuls heraus, der ihrem Tun eine innere Sinnhaftigkeit verleiht. Und das gilt sogar für scheinbar ganz weltliche Gruppierungen wie Parteien oder Gewerkschaften oder meinetwegen die Feuerwehr. Stellen Sie sich vor, man würde auf sie alle zugehen und sie bitten, zu folgenden drei Fragen Stellung zu nehmen: Erstens: Welches war der innere Anstoß, der geistliche Impuls, aus dem unsere Gruppierung entstanden ist? Zweitens: Wer sind wir heute und wie versuchen wir diesen Ursprungsimpuls heute zu verwirklichen? Drittens: Was können und wollen wir zu einem gelingenden Miteinander in dieser Stadt beitragen? Die Ergebnisse dieser Umfrage könnte man zu einer Art „Stadtatlas für spirituelle Nachbarschaft und aktive Friedensgesinnung” zusammenstellen und veröffentlichen. Schon allein die Beschäftigung mit diesen Fragen würde manche dieser Gruppierungen für eine bewusstere Einstellung zur gemeinsamen Verantwortung für den Frieden öffnen. Gleichzeitig und parallel dazu müsste man diakonische Einrichtungen schaffen, die auch im kleinen, eher privaten Bereich Hilfen für ein gelingendes Miteinander, für Versöhnung und Frieden anbieten, für Ehen und Familien, Nachbarschaften und Kollegien …”
Thomas nickte zustimmend, zögerte dann aber etwas. „Eine Frage hätte ich noch: Wenn ich es richtig verstehe, dann sehen die Apostel ihren Dienst und die Arbeit solcher Diakonate auch als Beitrag zu einer spirituellen Demokratie. Aber für mich sehen die Strukturen eher undemokratisch aus. Wo bleiben da zum Beispiel freie Wahlen“? Der Apostel lächelte anerkennend. „Ich habe erwartet, dass Sie diese Frage stellen würden. Aber im Rahmen dieses Gesprächs kann ich nur ein paar kurze Hinweise geben. In den meisten Demokratien beschränkt sich die Teilnahme der Bürger an der Verantwortung für ihr Land auf den einmaligen Wahlakt alle paar Jahre. Das ist besser als nichts, aber längst nicht das, was in der Bibel mit dem königlichen Priestertum des ganzen Volkes gemeint ist.“ „Aber wie soll denn diese Demokratie dann konkret werden?“ Thomas wollte sich nicht mit ein paar unverbindlichen Formulierungen zufrieden geben. Andreas lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „In einer spirituell begründeten Demokratie kann nicht die formale Beteiligung des Volkes durch den Wahlakt die einzige Form der Teilhabe sein. Vielmehr muss jeder die Möglichkeit haben auch inhaltlich seine Meinungen, Fähigkeiten und Ziele in die gesellschaftlichen Prozesse mit einzubringen.“ „Und wie soll das zugehen?“ Andreas schwieg einen Augenblick und sah dann Thomas an. „Ich will versuchen, es so zu erklären, wie es Jesus im neuen Testament macht, nämlich anhand eines Gleichnisses, und will dafür ein Beispiel nehmen, das Ihnen bekannt sein dürfte: Im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts ging der Siegeszug des Computers um die Welt. Und mit ihm auch der Siegeszug bestimmter Betriebssystem- und Anwendungsprogramme, die innerhalb weniger Jahre durch Ausnutzung ihrer Marktmacht und aggressiver Verkaufsstrategien zum Weltstandard wurden und ihren Besitzern jedes Jahr satte Milliardengewinne einbrachten. Dann aber, Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, tauchten Programme auf, die qualitativ mindestens gleichwertig, zugleich aber kostenlos waren. Wie war das möglich? Nun, es wurde möglich durch die Zusammenarbeit Tausender von freiwilligen Mitarbeitern, die verstreut über die ganze Erde, aber über das Internet vernetzt, unentgeltlich aber mit großem Einsatz jeweils an Teilbereichen dieser hochkomplexen Programme arbeiteten. Dazu gab es relativ kleine Gruppen von Verantwortlichen, die die Arbeitsergebnisse sammelten, auswerteten, koordinierten und schließlich zur Veröffentlichung zusammenstellten. Durch die freiwillige Zusammenarbeit vieler entstand etwas Neues, das nicht mehr ausschließlich am Gewinn orientiert war. So ähnlich, wenn auch mit anderen Inhalten, Motivationen und Zielsetzungen kann man sich die Beteiligung von Einzelnen und Gemeinschaften an einer qualitativen Demokratie vorstellen. Jeder soll das Recht und die Möglichkeit haben, sein Wissen, seine Fähigkeiten, seine Vorstellungen und Ziele jederzeit in den gesellschaftlichen Prozess einzubringen. Gruppen weltweit oder regional vernetzter Teilnehmer könnten an bestimmten Projekten, z. B. an der Lösung wichtiger technischer, wissenschaftlicher, sozialer, politischer… Probleme zusammenarbeiten, die Bürger befragen, Expertenmeinungen einholen, Lösungsansätze entwickeln, Teilbereiche ausarbeiten, Pläne entwerfen, Details klären usw. Dann bräuchte es nur noch relativ kleine Einheiten von gewählten und beauftragten Verantwortlichen in den Diakonaten, die die Beiträge sammeln, auswerten, auch im Lichte des Wortes Gottes in der Bibel bewerten und zusammenstellen. Diese Ergebnisse könnten dann weitergegeben werden an andere Gruppen, die sich anhand der erarbeiteten Lösungsstrategien, und ebenfalls vernetzt und koordiniert, an die Verwirklichung bestimmter Vorhaben machen. Das Apostolat würde nur Vorgaben zur geistlichen Ausrichtung solcher Projekte und Anregungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten und Zielsetzungen herausgeben. Dabei wären auch die Apostel angewiesen auf die Mitarbeit vieler Einzelner und Gemeinschaften, die einen geistlich wachen Blick für das Ganze und für übergeordnete Zusammenhänge haben und die zugleich genügend Fachwissen und Detailkenntnisse mitbringen, um überhaupt zu erkennen, welche Herausforderungen jeweils die dringendsten sind.“
Als Thomas nach dem Interview den gleichen Weg zurückging, beschloss er spontan, vom Zionsplatz aus noch weiter bis zum Mehane-Yehuda-Markt zu Fuß zu gehen. Er brauchte noch etwas Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten und seine Gedanken zu ordnen.
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Jaffa-Tor, Version 2022-8
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