Das Damaskustor war das schönste und besterhaltene Tor in der Jerusalemer Altstadtmauer. Vor der Außenseite des Tores waren Treppen und Sitzstufen zu einer Art Amphitheater gestaltet, das für Freiluftveranstaltungen genutzt werden konnte, aber meistens den Händlern der Basargeschäfte auf der Innenseite des Tores als Erweiterung ihrer Verkaufsflächen diente. So reihten sich hier Marktstände für Obst und Gemüse, Andenken und Sonnenhüte aneinander, durch die sich ein unablässiger Menschenstrom zum Tor hinein- und heraus drängte.
Thomas Hoffmann, der schon eine ganze Weile dem Treiben zusah, saß auf der obersten Stufe am Rand des Platzes, den Verkehr der Sultan-Suleiman-Straße im Rücken. Er wollte sich noch einige Gedanken notieren, ehe er sich auf dem Weg zum Felsendom auf dem alten Tempelplatz machte, um dort seinen Gesprächspartner zu treffen, konnte sich aber nicht recht konzentrieren. Das mochte daran liegen, dass er die ganze Sache nicht durchschaute, um die es hier ging.
Wieder einmal hatten diese seltsamen „Apostel” eine Entwicklung angestoßen, die man noch vor wenigen Monaten für völlig undenkbar gehalten hätte. Überhaupt hatte sich das Umfeld der Apostel überraschend schnell deutlich strukturiert und entfaltet: Die Versammlung aller zwölf hatte schon nach relativ kurzer Zeit als „Apostelkonzil” im Bewusstsein vieler Christen, aber auch darüber hinaus, einen festen Platz. Dazu kam eine gleiche Anzahl von „Propheten”, die aber nach außen kaum in Erscheinung traten. Die zwölf Apostel und die zwölf Propheten bildeten zusammen den „Rat der 24 Ältesten” und normalerweise wurden Stellungnahmen der Apostel nur dann veröffentlicht, wenn sie von diesem Rat einstimmig verabschiedet worden waren. Schließlich kamen noch sogenannte „Apostolische Gesandtschaften” hinzu, insgesamt 72 Männer und Frauen, die, meistens zu zweit, im Auftrag der Apostel bestimmte Orte in verschiedenen Ländern aufsuchten, um dort die Lebensordnung Gottes für die Menschen zu verkündigen und auf dieser Grundlage in problematischen Situationen richtungsweisende Vorschläge zu machen, Fehlentwicklungen aufzudecken und zwischen verfeindeten Parteien zu vermitteln.
Natürlich wusste Thomas, dass es für diese Einrichtungen Vorbilder im Neuen Testament gab, trotzdem konnte er das Ganze nicht recht einordnen. Die etablierten Kirchen und ihre leitenden Personen und Gremien schwankten zwischen wohlwollender Zustimmung und Distanz. Viele Christen verschiedenster Konfession hielten sie für eine Art Wiederherstellung der urgemeindlichen Ordnungen. Und auch in „weltlichen” Organisationen wurde der Rat der Apostel gehört, oft auch angenommen.
Diesmal ging es wohl, soweit hatte Thomas die Sache verstanden, um das Verhältnis zwischen Christentum und Islam. Seit Jahrzehnten hatte sich hier ein Spannungsfeld aufgebaut. Die von vielen Moslems als schmerzlich empfundene wirtschaftlich-technologische Überlegenheit des „christlichen Westens” hatte bei radikal-islamistischen Gruppen eine Gegenreaktion hervorgerufen, die einerseits die moralische Überlegenheit der moslemischen Gesellschaftsordnung betonte, andererseits ein Hass- und Gewaltpotential aufbaute, dessen Auswirkungen in immer neuen Wellen die Welt erschütterten. Diese aggressive Grundstimmung in der islamischen Welt war zwar in letzter Zeit etwas abgeflaut; unter der Oberfläche brodelte aber ein Gemisch aus Faszination und Ablehnung gegenüber dem „westlichen“ Lebenstil, aus noch immer ungeklärten Fragen im israelisch-palästinensichen Konflikt, aus politischen Ansprüchen regionaler und globaler Mächte und aus milliardenschweren Wirtschaftsinteressen am Ölreichtum der islamischen Länder. Und hier in Jerusalem bündelten und erhitzten sich alle diese negativen Energien wie unter einem Brennglas. In diese Situation hinein traf die Nachricht von unauffällig geführten aber intensiven Gesprächen zwischen den Aposteln und einigen moslemischen Gelehrten.
Thomas stand auf, stieg die Stufen hinunter und drängte sich durch die Menschenmenge zum Damaskus-Tor. Auf der Innenseite der Mauer ging er ein Stück die abschüssige Straße hinunter und bog dann halb links in die lange El-Wad-Straße ein. Er sah ein, dass es jetzt keinen Sinn hatte, sich genauer auf das Gespräch vorzubereiten. Er hatte einfach zu wenig Informationen, worum es hier eigentlich ging. Am Ende der Straße wandte sich Thomas nach links und erreichte nach wenigen Schritten das „Kettentor”, vom dem aus er über einige Treppen direkt auf die erhöhte Fläche kam, in deren Mitte der Felsendom stand.
Thomas war von diesem Bauwerk immer wieder fasziniert. Wie ein blau schimmerndes Juwel lag es in der Nachmittagssonne mit der matt glänzenden goldenen Kuppel darüber. Er überquerte den Platz vor dem Dom, auf dem sich einige Touristengruppen die Besonderheiten des Bauwerks erklären ließen und sah Ismail Marwan am Eingang stehen. Die beiden Männer begrüßen sich mit orientalischer Höflichkeit. Ismail Marwan war erst vor etwa einem Jahr zum neuen Mufti von Jerusalem bestimmt worden. Er galt als weltoffen und vielseitig gebildet und war einer der profiliertesten Vertreter der neueren Entwicklungen im Islam.
Er führte Thomas ins Innere des Doms und blieb an einer der Säulen im inneren Pfeilerkranz stehen. Dann deutete er auf eine lange Reihe alter arabischer Schriftzeichen, die mit goldfarbenen Mosaiksteinchen auf grünem Grund unter der Kuppel eingesetzt waren. „Sehen Sie diese Schrift dort oben?” „Ja, aber ich kann sie leider nicht lesen.” „Das habe ich auch nicht erwartet”, erwiderte der Mufti lächelnd. „Das ist eine sehr alte arabische Inschrift in sogenannter kufischer Monumentalschrift. Sie stammt noch aus der Zeit des Erbauers, Abd al-Malik, des 5. Kalifen der Omaiyadendynastie. Der Felsendom ist das älteste noch wesentlich im Originalzustand erhaltene Bauwerk des Islam weltweit.” „Sind das Koranverse?” „Zum Teil sind das Texte, die auch im Koran vorkommen, aber sie sind wesentlich älter als alle Textüberlieferungen des Koran, die wir haben. Der Felsendom wurde im Jahre 72 der islamischen Zeitrechnung, das heißt 72 Jahre nach 622, dem Jahr der Hidschra, fertiggestellt, also nach moderner Zeitrechnung 694. Alle heute noch verfügbaren Korantexte sind deutlich später entstanden.” „Und was sagt diese Inschrift?” „Sie beginnt mit der ‚Basmala‘, dem Lobpreis Allahs; aber was danach kommt ist hochinteressant. Bisher wurden diese Worte so verstanden: ‚Mohammed ist der Knecht Gottes und sein Gesandter‘. Genauere Textanalysen* zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben aber ergeben, dass das Wort ‚muhammad‘ hier nicht als Eigenname (Mohammed = der Gepriesene) gelesen werden darf, sondern es muss heißen: ‚Gepriesen sei der Knecht Gottes, sein Gesandter‘. Und im nächsten Satz folgt dann die Erklärung, wer mit diesem Knecht und Gesandten Gottes gemeint ist: ‚… Denn Jesus Christus, Sohn der Maria, ist der Gesandte Gottes und sein Wort …“
* Christoph Luxenberg „Neudeutung der arabischen Inschrift im Felsendom zu Jerusalem” in: Karl-Heinz Ohlig/Gerd-R. Puin (Hg.) „Die dunken Anfänge – Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam”, Schiler Verlag 2005. Siehe auch Christoph Luxenberg „Die syro-aramäische Lesart des Koran“, Schiler Verlag, 2. Aufl. 2004
Thomas Hoffmann war verblüfft. „Das würde ja bedeuten, dass einer der ältesten Texte aus der islamischen Welt ein Lobpreis Jesu ist!” „Ja, Jesus hatte ja schon immer im Islam eine besondere Bedeutung. Der ganze Text, den Sie da oben sehen, ist eine Art theologische Proklamation, in der es um ein christologisches Verständnis Jesu geht. Der Verfasser, der Kalif Abd al-Malik, hat hier seine theologische (und das hieß damals auch machtpolitische) Position an der Innenseite dieses Bauwerks anbringen lassen.“ „Aber wieso das denn, er war doch als Kalif Repräsentant des Islam!” „Richtig, aber ‚Islam‘ bedeutete damals offensichtlich noch nicht das, was wir heute unter diesem Begriff verstehen. Wir müssen davon ausgehen, dass der Islam unter den Omaiyaden-Kalifen einer speziellen Ausprägung des syrisch-arabischen Christentums noch sehr nahe war.”
Thomas war erst einmal fassungslos. Solche Worte aus dem Munde des obersten Geistlichen des Islam in Jerusalem, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. „Aber der Islam grenzt sich doch selbst deutlich vom Christentum ab.” „Nein, das stimmt nicht ganz.” Ismail Marwan fasst seinen Gast am Arm und bedeutete mit einer Handbewegung, dass sie den Dom verlassen sollten, weil jetzt gleich mehrere Touristengruppen hereindrängten und die Reiseführer in mehreren Sprachen ihre Erklärungen begannen. Die beiden gingen ein Stück um den Dom herum und setzen sich in den Schatten des „Kettendoms”, eines kleineren Kuppelbaus neben dem Felsendom. „Nein, das stimmt nicht ganz”, wiederholte der Mufti seinen angefangenen Satz. „Der frühe Islam grenzt sich nur von einer ganz bestimmten Form des Christentums ab. In mehreren Konzilien ab 325 hatte die römisch-byzantinische Kirche die trinitarischen Dogmen erarbeitet und durchgesetzt: Ein Gott in drei Gestalten; Vater, Sohn und Heiliger Geist. In den Westkirchen, Rom und Byzanz, wurden die trinitarischen Dogmen zur zentralen Aussage über Gott. Nun gab es aber zu dieser Zeit und in den folgenden Jahrhunderten ein weit ausgreifendes und auch zahlenmäßig bedeutendes Ost-Christentum im heutigen Syrien, Irak, Iran und noch weiter bis nach Indien und China, mit einem zeitweiligen Schwerpunkt in Marw im heutigen Turkmenistan“. Ismail Marwan lächelte kurz und deutete eine winzige Verbeugung an. „Mein eigener Name ‚Marwan‘ stammt von dort und bedeutet „einer aus Marw“. Er lehnte sich zurück und zog die Ärmel seines Gewandes in Form. „In diesem Ost-Christentum wurden die trinitarischen Gottesvorstellungen teilweise gar nicht akzeptiert, teilweise erst später nachvollzogen. Der frühe Islam ging aus einem syro-arabischen Christentum hervor, das die trinitarischen Dogmen nicht mitvollzogen hatte und sich nun aktiv dagegen wandte. So heißt es in der Inschrift im Felsendom unter anderem: ‚Ihr Angehörigen der Schrift, verfehlt euch nicht in eurem Urteil und sagt aus über Gott nur das Rechte (…) So glaubt an Gott und seinen Gesandten und sagt nicht ‚drei‘, hört auf damit, es wäre besser für euch. Denn Gott ist ein einziger -gepriesen sei er- wie sollte er auch ein Kind haben, gehört ihm doch alles, was im Himmel und auf der Erde ist! Und Gott allein genügt als Beistand‘. Die Ablehnung betraf also nicht das Christentum als Ganzes, sondern ein byzantinisch dominiertes West-Christentum mit seiner trinitarischen Gottesvorstellung“.
Thomas war immer noch verwirrt und wusste nicht, wie er das Gehörte einschätzen sollte. „Aber wie sind Sie auf diese Gedanken gekommen? Ich nehme an, dass solche Ideen nicht an islamischen Hochschulen gelehrt werden.” „Noch nicht”, entgegnete Ismail mit einem Lächeln, „aber vielleicht bald. Diese neueren Forschungsergebnisse werden schon an vielen islamischen Universitäten heiß diskutiert. Ich selbst habe die ersten Anstöße zu dieser Sichtweise in einigen Gesprächen mit dem Apostel Johannes bekommen. Er war es auch, der mir die entsprechende Literatur besorgte. Aber noch wichtiger war für mich, dass Johannes mir einen Weg zeigte, mit diesen Einsichten konstruktiv umzugehen.” „Und wie sollte das aussehen?” Ismail Marwan schwieg einen Augenblick, dann sah er Thomas in die Augen und sagte leise aber fest: „Ich sehe die Notwendigkeit, dass der Islam wieder zu seinen Wurzeln zurückfindet, von denen er ausgegangen ist.”
Thomas schaute seinen Gesprächspartner ungläubig an. „Sie meinen, der heutige Islam würde sich selbst aufgeben und Teil der christlichen Kirche werden?” Ismail schüttelte den Kopf. „Nein, ganz gewiss nicht! Die heutige weltweite Christenheit ist bis auf zahlenmäßig sehr kleine Gruppen ihrer Theologie nach eine Westkirche geworden. Das schließt auch die reformatorischen Kirchen und die neuen christlichen Bewegungen mit ein. Der Islam kann und wird nie ein Teil dieser Kirche werden. In seinen Ursprüngen sind aber Grundtöne der Frömmigkeit und Glaubensaussagen der großen und bedeutenden frühen Ostkirche erhalten geblieben. Wenn der Islam zu diesen Wurzeln wieder zurückfindet, dann könnte er die Schätze einer genuin orientalischen Weise von Gott zu denken und zu reden wieder zur Geltung bringen.
„Von welchen Schätzen reden Sie?” Thomas konnte sich da überhaupt nichts Konkretes vorstellen. „Sehen Sie”, der Mufti lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Die römisch-byzantinische Theologie, und in ihrer Folge auch das Gottesbild der Christen bis heute, sind eine Symbiose der jüdischen Wurzeln des Christentums mit den Denkmustern der griechischen Philosophie und des römischen Rechts. Bei der Formulierung der christologischen Dogmen der Westkirche ging es um das Sein, um die richtige Gotteserkenntnis und das richtige Glaubensbekenntnis, in der Ostkirche dagegen ging es vor allem um das Leben und das Tun. Übrigens ist das eine theologische Richtung, die auch den noch stark jüdisch geprägten Denkweisen der christlichen Urkirche sehr nahe war.“
Ismail Marwan beugte sich wieder vor. „Ich bin überzeugt, dass ein Islam, der wieder zu seinen Wurzeln im Glauben und Leben der frühen Ostkirche zurückfindet und sich zu ihnen bekennt, eine notwendige Ergänzung wäre zur westlichen Prägung der heutigen Christenheit und ein Segen für die ganze Menschheit. Leben und Tun nach dem Vorbild Jesu, das ist es, was die Menschheit heute braucht.” Er unterbrach sich einen Augenblick und fuhr dann mit energischer Stimme fort: „Die Welle von Hass und Gewalt, von Todesdrohung und Todessehnsucht, die Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts von islamistischen Gruppen ausging, hat nicht nur die Welt erschüttert, sondern hat vor allem die moslemischen Völker selbst innerlich und äußerlich an den Rand eines Abgrunds geführt. Der Islam ist eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft, in der Lebensbejahung und Friedensbereitschaft einen hohen Stellenwert haben können, und nicht eine Art religiöse Terrororganisation, als die er heute oft dargestellt wird. Fehlentwicklungen, die es tatsächlich gibt, müssen korrigiert werden. Die emotionale und religiöse Grundstimmung der geistigen Eliten des Islam muss Leben und Frieden wieder höher achten als Kampf und Tod. Wie das erreicht werden kann? Ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass der Islam zu dem zurückkehrt, was in der Kuppel des Felsendoms geschrieben steht: ‚Gepriesen sei der Knecht Gottes, sein Gesandter … denn Jesus Christus, Sohn der Maria, ist der Gesandte Gottes und sein Wort.’”
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Damaskus-Tor, Version 2022-8
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