Die biblischen Berichte von den Erfahrungen der Menschen mit ihrem göttlichen Gegenüber zeigen eine immer wiederkehrende Handlungsweise Gottes: Er beginnt etwas Neues, Großes immer ganz klein mit einzelnen oder ganz wenigen Menschen.
Er beginnt die Geschichte des Gottesvolkes mit Abraham und seiner Familie. Er beginnt die Heilsgeschichte für die Völker der Erde mit einem kleinen Stammesverband von entlaufenen Sklaven. Er beginnt die Geschichte des messianischen Königtums mit dem Hirtenknaben David (nachdem das Königtum des großen, starken Saul gescheitert war). Er beginnt die Geschichte der Jesusjüngerschaft mit zwölf einfachen Leuten aus Galiläa und er beginnt die Welt-Geschichte der Christenheit mit einer kleinen Gemeinschaft von messiasgläubigen Juden, der „Urgemeinde” in Jerusalem vor zweitausend Jahren.
In der geschützten Verborgenheit des senfkornkleinen Anfangs formt Gott die Ordnungen und Strukturen, die später dem starken „Baum” der wachsenden Gemeinschaft ihren inneren Halt und ihre äußere Gestalt geben sollen. Das Prinzip des „kleinen Anfangs”, der scheinbar unbedeutenden „Erstlingschaft”, des kleinen, unscheinbaren, aber real anschaubaren und anfassbaren „Modells” für eine große, umfassende, aber noch unfassbare Zukunft ist im Alten wie im Neuen Testament durchgehend erkennbar.
Dabei müssen wir unterscheiden: Die Urgemeinde ist kein „Muster” im Sinne einer „Schablone” als Vorlage zur Vervielfältigung, mit deren Hilfe für alle Zeiten immer genau gleiche Gemeinde-Exemplare produziert werden sollen. Sie ist ein „Modell” (etwa so, wie man ein Modell für ein großes, schönes Haus anfertigt, damit diejenigen, die daran bauen und darin wohnen werden, schon jetzt sehen und „begreifen” können, wie das große Haus einmal werden soll). Ein Modell ist ein verkleinertes und vereinfachtes Vor-Bild für etwas Großes, was erst noch entstehen soll. An ihm kann man schon wesentliche Formen, Merkmale und Details erkennen, aber vieles ist noch offen und veränderbar, je nachdem, wann und wo, von wem und für wen das große Haus dann gebaut wird. In diesem Sinne war die Urgemeinde „Modell” für das „Haus Gottes” (Jesus nennt es das „Reich Gottes”, siehe das Thema „Dein Reich komme”), ein Modell, das aus kleinsten Anfängen nach und nach entstehen und weiterentwickelt werden sollte, bis dann Gott selbst durch seinen „Gesalbten” (Messias) den großen Bau vollendet.
Allerdings gab es zur Zeit des „Zweiten Tempels” in antiken Orient für den Aufbau so eines „Modells” unüberwindbare Hindernisse: In der Geschichte des Volkes Israel war zur Zeit der israelitischen Könige und erst recht zur Zeit der Fremdherrschaft der Babylonier, Assyrer, Perser, Mazedonier, Seleukiden, Römer… der Weg in eine „Demokratie auf biblischer Grundlage“ versperrt (siehe das Thema „Reich Gottes und Demokratie“). So bereitete Gott schließlich die Verwirklichung seines Vorhabens in der Verborgenheit einer kleinen und äußerlich völlig unbedeutenden Gemeinschaft vor: in der Jerusalemer Urgemeinde, der Keimzelle des Christentums (die aus lauter gläubigen Juden bestand). Dort formte er die grundlegenden Beziehungen, Aufgaben, Ämter und Strukturen aus, die für die Lebensgemeinschaft des Gottesvolkes in den realen Verhältnissen dieser Welt und Zeit maßgeblich sein sollen.
Da, in der Urgemeinde, gab es zunächst zwei grundlegende Formen von Zuständigkeit und Verantwortung. Sie repräsentieren auch zwei unterschiedliche Formen von Leitung. Apg 6,1-4a: In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf (Apostel) die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.
Wir sehen: die Urgemeinde entwickelte schon von Anfang an verschiedene Zuständigkeiten für die materielle und die spirituelle Versorgung der Menschen. Die apostolische Berufung war zuständig für die geistliche „Speisung“ der Menschen, die diakonische Berufung war zuständig für deren leibliche Speisung. Es gab eine überregionale, für alle Mitglieder der Gemeinschaft zuständige geistliche Leitung durch die Apostel und eine lokal oder regional verantwortliche Zuständigkeit für die materielle Versorgung durch die Diakone. Die Apostel waren von Jesus, dem Messias Gottes, selbst berufen und eingesetzt, die Diakone wurden von der Gemeinde gewählt (und danach von den Aposteln bestätigt und gesegnet, Apg 6, 5-6). Das bedeutet: Die Apostel sind die Beauftragten Christi für die geistliche Leitung der Gemeinschaft aller Gläubigen weltweit, die Diakone sind Beauftragte der Gemeinde für deren materielle Versorgung und soziale Sicherung an einem bestimmten Ort. Beide, das Apostolat und das Diakonat, haben eine weltweite Verantwortung, aber in verschiedener Weise: Das Apostolat nimmt seine Verantwortung ausgehend von einem spirituellen Zentrum in Jerusalem wahr, die Diakonate dagegen haben jeweils eine örtlich begrenzte Verantwortung, sind aber über das ganze Land (und später über alle Länder der Erde) verstreut und untereinander verbunden, so das sie (als Zielvorstellung) ein weltweites Netzwerk bilden. Beide aber waren und sind gleichermaßen unverzichtbar.
Diese beiden Verantwortlichkeiten sind in den heutigen Demokratien (siehe das Thema „Reich Gottes und Demokratie“) sehr unterschiedlich ausgeprägt: In der Realität der demokratischen Verfassungen der Gegenwart gibt es zwar vielfältige Strukturen und Institutionen, die für die materielle Versorgung und soziale Sicherung der Menschen zuständig sind (also für die „diakonische“ Aufgabe), für Wirtschaft und Finanzen, für Arbeit und Gesundheit, für Sicherheit und Recht, Bildung und Kultur usw. Diese Dienstorgane der Gemeinschaft neigen aber auch in der Demokratie zur Verselbstständigung und Verabsolutierung und verstehen sich dann als Regierung, d. h. als Herrschaftsapparat. Ihnen hängen noch immer die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte an, in denen Verantwortung ganz selbstverständlich immer mit Macht- und Gewaltausübung verbunden war. Im biblischen Verständnis aber gibt es Regierungs-Verantwortung nur als Diakonie.
Die Frage nach einer geistlichen Leitung aber ist in den gegenwärtigen Demokratien völlig ungeklärt. So etwas wird meist nicht für nötig erachtet, oft auch vehement abgelehnt. Man gesteht den christlichen Kirchen und sonstigen Religionsgemeinschaften das Recht zu, sich zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen zu äußern, verweist sie aber gleichzeitig in eine Nische von unverbindlicher Meinungsäußerung. Eine demokratische Willensbildung und Willensäußerung in Bezug auf ethische und weltanschauliche Grundlagen der Gesellschaft findet nicht statt. Das überlässt man den sogenannten „gesellschaftlichen Kräften“, ohne danach zu fragen, woher die kommen, auf welcher Grundlage sie arbeiten, welche Ziele sie verfolgen, und man gibt ihnen Raum, auch wenn sie erkennbar und massiv antidemokratische Bestrebungen fördern. Die Folge davon ist: Es gibt keinen gesellschaftlichen Grundkonsens, wenn es um ethische und gesamtgesellschaftliche Fragestellungen geht.
Die Erwartung, dass der ungeregelte und sich selbst überlassene Diskurs „von allein“ tragfähige geistig-weltanschauliche Grundlagen für stabile Demokratien entwickeln würde, ist eine sträflich naive Illusion. Das Scheitern dieser Illusion erleben wir gegenwärtig auf allen Ebenen: Aggressive, autoritäre, zum Teil wirre, zum Teil menschenfeindliche Vorstellungen versuchen sich mit verbaler, oft auch körperlicher Gewalt Bahn zu brechen. Und die „Gesellschaft“ sieht erschrocken, fassungslos und hilflos zu und hat keine Vorstellung, wie man sich dessen erwehren könnte. Machtbewusste, autoritäre und gewalttätige Strömungen sind gegenüber verantwortungsbewussten, ausgleichenden und friedlichen Bewegungen immer im Nachteil. Das wäre auch so, wenn man im gewohnten Wettbewerb der Parteien bei anstehenden Wahlen den lautesten und aggressivsten Gruppen die Möglichkeit gäbe, per Faustkampf zu entscheiden, wer gewählt ist oder wenn die Gewichtung der Stimmen anhand der Lautstärke der Schreier vorgenommen würde. Allen wäre klar: So kann man keine demokratischen Wahlen für die sachliche Arbeit von demokratischen Institutionen gestalten. Wenn es um die spirituelle Verfassung demokratischer Staaten geht, meint man aber, genau so zu guten Ergebnissen zu kommen.
Es braucht aber auch für die spirituelle Verfassung von demokratischen Gesellschaften bestimmte geregelte Verfahren, wie da die Meinungen und Überzeugungen zu einem friedlichen Ausgleich und zu einem tragfähigen Grundkonsens kommen können. Dabei ergibt sich ein Problem: Solange die Demokratie als eine rein innermenschlich organisierte Gesellschaftsform verstanden wird, ist sie immer in einer sehr schwachen Position. Das „Recht des Stärkeren“ wird sich überall durchsetzen, wo ihn nicht die „Stärke des Rechts“ Widerstand leistet. Die Stärke des Rechts braucht, um stark zu sein, ein Fundament, das sie sich nicht selbst geben kann. Wenn wir aber in der Demokratie eine vom Schöpfer der Welt gegebene Grundordnung für das Miteinander von Menschen erkennen (siehe das Thema „Reich Gottes und Demokratie “ und dort die Beiträge „Demokratie auf biblischer Grundlage“ und „Die Urform der Demokratie„), dann kann so ein starkes und tragfähiges Fundament entstehen.
Wir haben es weiter oben schon angesprochen: Apostolat (ausgehend von einem spirituellen Zentrum in Jerusalem) und Diakonat (als weltweit vernetzte Dienstgemeinschaften) sind die grundlegenden Ämter in der Gemeinschaft des Gottesvolkes, können aber keine „Amtsvollmachten“ innerhalb von Staaten beanspruchen. Wieweit sie von den Organen staatlicher oder überstaatlicher Gemeinschaften angenommen und gehört werden, hängt von der jeweiligen Situation ab, entscheidet aber langfristig darüber, wieweit sie sich dort aufbauend und segnend auswirken können. Eines aber ist heute immer deutlicher erkennbar: Die Demokratie ist auf Dauer ohne eine spirituelles „Innengerüst“ und ohne ein ethisches “Fundament“ nicht widerstandsfähig gegenüber den neuen (und alten, jetzt aber globalen) Mächten der Zerstörung.
Dabei sollte es niemanden entmutigen, wenn die Anfänge einer spirituell fundierten Demokratie und einer weltweiten Gesellschafts- und Friedensdiakonie sehr bescheiden, ja ärmlich aussehen. Gott hat vor, aus kleinen Anfängen Großes werden zu lassen.
.
Bodo Fiebig „Der kleine Anfang“ Version 2018 – 9
© 2014, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
Vervielfältigung, auch auszugsweise, Übersetzung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und jede Form von kommerzieller Verwertung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers