Bereich: A Vision und Konkretion

Thema: Das Jerusalem-Projekt

Beitrag 5: diakonisches Netzwerk (Bodo Fiebig13. September 2022)

„In was für einer Welt leben wir eigentlich?“, fragen wir entsetzt oder empört, wenn wieder einmal ein schlimmer Zustand offensichtlich geworden ist. Die Bibel, eines der ältesten und meistgelesenen Bücher der Menschheitsgeschichte, gibt Antwort auf diese Frage: Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker …, so ruft der Prophet (Jesaja 60,2) aus angesichts der schlimmen Zustände in seiner Zeit. Und uns geht es da heute auch nicht viel besser. Im Gegenteil: Wir wissen auch einiges zu sagen über die Finsternis, die das Erdreich bedeckt.

Wir wissen von Kriegen und Bürgerkriegen, von Eroberungen und Völkermord, von Vertreibung und ethnischen Säuberungen, von ideologischem und religiösem Fanatismus. Wir wissen von Un­ter­drückung und Rechtlosigkeit, von Gewalt und Folter und Krieg in vielen Ländern dieser Erde.

Wir wissen von der entsetzlichen Armut und dem Hunger, in dem ganze Völker leben, und dem maßlosen Reichtum einiger weniger direkt daneben, und dass die Armut der Einen ebenso wenig zufällig, naturgegeben und gottgewollt ist wie der Reichtum der Anderen. Wir wissen von Machtmissbrauch und Korruption, die ganze Länder in Chaos und Elend versinken lassen.

Wir wissen von der weltumspannenden Macht des internationalen Verbrechens, das mit Raub und Mord, mit Entführung und Erpressung, mit Rauschgift und Menschenhandel, mit Wirtschaftskriminalität und Ausbeutung, mit Waffenschmuggel und Terrorismus so viele Milliarden verdient, dass es die Wirtschaft und die Politik ganzer Länder unterwandern und überwuchern kann.

Wir wissen auch von Habgier und Gewinnsucht in unserem eigenen Land, von Betrug und Skrupellosigkeit, von offener Parteilichkeit und heimlicher Bereicherung, sodass wir bald nicht mehr wissen, wem wir noch trauen können und was aus den übervollen Regalen der Geschäfte wir eigentlich noch unbedenklich essen dürfen.

Wir wissen auch, oder ahnen zumindest, von dem heimlichen Leid und der heimlichen Gewalt, vor allem an Frauen und Kindern, hinter den glatten Fassaden mancher Häuser mitten in unseren Städten und Dörfern.

Und wir wissen von einer geld- und quotengierigen Medien- und Vergnügungsindustrie, die selbst aus dem Grauen des Krieges, der Gemeinheit des Verbrechens, dem Schrecken der Gewalt und dem Elend ethischer Perversion noch riesige Gewinne schlägt.

Wo alle Bindungskräfte auf das eigene Ich oder die Vorteile der eigenen Gruppe gerichtet sind, werden die Abstoßungskräfte gegenüber den „anderen“ übermächtig. „Ich für mich gegen dich; wir für uns gegen euch! Du hast etwas, das ich nicht habe, also werde ich es dir nehmen! Du bist anders, deshalb bist du weniger wert. Ihr habt andere Ansichten, Gewohnheiten, Ziele, also werden wir euch bekämpfen! Ihr gehört nicht zu uns, deshalb werden wir uns über euch erheben und euch unterdrücken – wenn es sein muss auch ausrotten.“ Kain erschlägt Abel. Jeden Tag, tausendfach irgendwo auf der Erde. So entstehen Menschheitskatastrophen wie die von Auschwitz oder Hiroshima und so entsteht die permanente Menschheitstragödie des unbeachteten Leidens von Millionen.

1 Gesellschafts- und Friedensdiakonie

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? So fragt der Beter von Psalm 121, und er antwortet selbst: Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat. Dieser Herr, der Himmel und Erde gemacht hat, will aber seine „Hilfe“ nicht einfach so vom Himmel fallen lassen, sondern weist die Seinen an, sich der Leidenden anzunehmen (Jes 58, 6-8): Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte… Das bedeutet ja nicht, dass Gott selbst tatenlos zuschaut, aber er will seine Hilfe auch durch Menschen sichtbar und erfahrbar machen.

Jesus bestätigt im Neuen Testament genau diesen Anspruch an jeden Einzelnen und an jede gläubige Gemeinschaft: Mt 25, 31-36: … Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Seit Jahrhunderten haben sich Gläubige in den christlichen Kirchen und in Einrichtungen des Judentums um Menschen gekümmert, die in Not waren oder die „unter die Räuber gefallen”: um Arme, Kranke, Behinderte, Alte, um Witwen und Waisen, um die Opfer von Gewalt und Krieg. Das war und ist Diakonie am Leben der Menschen. Das Vorbild dieser Diakonie ist der barmherzige Samariter aus dem Gleichnis Jesu (Lk 10, 30-36). Diese Samariter-Dienste haben sich als menschlich und gesellschaftlich so notwendig und hilfreich erwiesen, dass sie heute in den meisten Ländern von staatlichen Einrichtungen übernommen werden: Krankenhäuser, Altenheime, Waisenhäuser, Behinderteneinrichtungen … Die Kirchen sind, zumindest in den hoch entwickelten Ländern, nur noch am Rande damit befasst durch diakonische Einrichtungen, die nach den Vorgaben der staatlichen Sozialsysteme arbeiten.

Statt dessen ist aber heute eine neue, ganz große Herausforderung hinzugekommen, für die es noch keine staatlichen Institutionen gibt: Nicht mehr nur das Leben, sondern vor allem das Zusammenleben der Menschen ist gefährdet und gestört. Und das gilt weltweit, in Europa genau so wie in Afrika oder Asien, wie in Amerika oder Australien und es reicht bis in das letzte Südsee-Inselparadies in Pazifischen Ozean: Die traditionellen Bindungen haben sich aufgelöst und neue tragfähige Strukturen in der nun „globalisierten“ Welt sind noch nicht gefunden. Der Zusammenhalt der Familien und der Generationen ist weithin zerbrochen. Den Schutzraum der Großfamilie, des Familienklans, der Nachbarschaften, der Dorfgemeinschaft, auch der Arbeitsgemeinschaft einer Firma, in der man viele Jahre, ja möglichst ein ganzes Berufsleben tätig ist, gibt es (vor allem in größeren Städten) kaum noch.

Die Vereinzelung des Menschen inmitten von immer größeren und immer unüberschaubarer werdenden sozialen Einheiten macht ihn hilflos und anfällig gegenüber dem Zugriff globaler Mächte und Beeinflussungsstrategien. Die sogenannten „sozialen Netzwerke” im Internet täuschen soziale Zugehörigkeit und Nähe nur vor, in Wirklichkeit fördern sie eher die Vereinzelung der Menschen und zwingen diese Einzelnen dann in Strukturen, Kommunikationsweisen und Abhängigkeiten, die nicht vom Interesse der Menschen an Gemeinschaft bestimmt werden, sondern von den Gewinn- und Machtinteressen der jeweiligen Netzwerk-Anbieter.

Was heute nötig ist, ist nicht mehr nur eine Diakonie am Leben der Menschen, sondern auch eine Diakonie am Zusammenleben der Menschen, in den Ehen und Familien, in Nachbarschaften, in überörtlichen Gemeinschaften und Netzwerken … Der barmherzige Samariter von heute muss nicht nur die Wunden des unter die Räuber Gefallenen verbinden, er muss ihm vor allem wieder den Zugang zu einem sozialen Gefüge verschaffen, in dem er Nähe, Gemeinschaft und Geborgenheit erfahren kann. Das können staatliche Einrichtungen nicht schaffen.

Was heute nötig ist, wäre eine Gesellschafts- und Friedensdiakonie, durch die Menschen neu lernen könnten, wie man in Gemeinschaft leben kann und wie verschiedene Gemeinschaften mit verschiedenen Traditionen, Mentalitäten, Lebensweisen und Ausdrucksformen in Einheit und versöhnter Verschiedenheit leben können. Die Kirchen haben das ja selbst erst mühsam lernen müssen. Auch sie waren vielfach gespalten und zerrissen, standen sich manchmal sogar in feindlichen Lagern gegenüber, und sie sind erst in unserer Zeit dabei, allmählich wieder zu ihrer ursprünglichen Einheit zurückzufinden. Dadurch aber haben sie einen Erfahrungsvorsprung bezüglich der Nöte unserer Gegenwart, den sie heute in die globalen Prozesse einbringen können. Die Kirchen könnten der Lebensraum sein, in dem Menschen das Leben in einem Beziehungsgefüge von Gemeinschaften in persönlicher Begegnung und Nähe und zugleich auch in weltweiter kommunikativer Vernetzung erfahren, ohne dabei von den Macht- und Gewinninteressen internationaler Kommunikationskonzerne vereinnahmt zu werden. (Siehe dazu auch das Thema „Fragen der Zeit und Antworten des Glaubens“ im Bereich „Grundfragen des Glaubens“)

2 Vernetzter Dienst

In der Anfangsphase der Christenheit, also zur Zeit der Urgemeinde gab es ein intensives Zusammenspiel zwischen dem spirituellen Zentrum in Jerusalem, das durch die ersten Jünger und Apostel gebildet wurde und einem weiten Netzwerk von missionarischen und diakonischen Tätigkeiten in den verschiedenen Ländern der Umgebung bis hin nach Europa, Nordafrika und Mesopotamien.

So ähnlich kann man sich dieses Zusammenspiel auch im 21. Jahrhundert vorstellen: Es müsste ein spirituelles Zentrum geben für das eine weltweite Gottesvolk aus Juden und Christen (und zwar da, wo Gott selbst das vorgesehen hat: in Jerusalem), das in intensiven Kontakt und Austausch steht mit den Gläubigen in aller Welt. Und es müsste gleichzeitig Stationen weltweiter Diakonie geben, ein Netzwerk weltweit verstreuter, aber innerlich verbundener Menschen und Gemeinschaften, von dessen Einheit in versöhnter Verschiedenheit und von dessen Einsatz in diakonischer Gesinnung eine gesellschaftsverändernde Wirkung ausgeht. Ein solches Netzwerk diakonisch gesinnter Menschen, Gruppen und Initiativen wäre wie eine Manifestation der Liebe Gottes, verwirklicht durch die eine Gesellschafts- und Friedensdiakonie in den konkreten Situationen der Länder und Völker und in den verschiedenen Regionen der Erde.

Auf solche Weise würde sich die Berufung des Menschseins als „Diakonie der Liebe“  (siehe dazu auch das folgende Thema „Reich Gottes und Demokratie“) viel konkreter, vielfältiger und wirkungsvoller darstellen, als durch eine machtvolle Ämter-Hierarchie. Wobei spezielle Dienst-Berufungen damit nicht unnötig oder gar falsch wären; sie bedürfen aber immer der Ergänzung durch die ständige Mitarbeit vieler zum Wohle des Ganzen im Netzwerk weltweiter Diakonie.

Für eine solche Vernetzung bilden die modernen Kommunikationstechniken und das Internet nie dagewesene Voraussetzungen. Dass Gott diese Vernetzung gerade in unserer Zeit hat technisch möglich werden lassen, stellt für biblisch Gläubige in der Gegenwart eine besondere Herausforderung und Verantwortung dar. Mit den Möglichkeiten weltweiter technischer Vernetzung können sehr viele Menschen in verschiedenen Ländern und Kontinenten gleichzeitig in Kontakt treten und Informationen austauschen. Das bietet großartige Möglichkeiten für die Verwirklichung einer weltweiten Zusammenarbeit. Im Miteinander verschiedener Kirchen und Glaubensgemeinschaften könnten soziale Netzwerke aufgebaut werden, deren Strategie und Arbeitsweise nicht auf Gewinn ausgerichtet sind.

Eine solche Gesellschafts- und Friedensdiakonie wäre weltweit verbreitet und vernetzt, aber regional organisiert und verankert, sie wäre dezentral angelegt, aber in ständiger Verbindung zum spirituellen Zentrum in Jerusalem.

Apostolat (ausgehend von einem spirituellen Zentrum in Jerusalem) und Diakonat (als weltweit vernetzte Dienstgemeinschaften) sind die grundlegenden Ämter in der Gemeinschaft des Gottesvolkes. Wieweit sie dann auch von den Organen staatlicher oder überstaatlicher Gemeinschaften angenommen und gehört werden, hängt von der jeweiligen Situation ab, entscheidet aber langfristig darüber, wieweit sie sich dort aufbauend und segnend auswirken können. (Darauf soll in den folgenden Themen „Reich Gottes und Demokratie“ und „Die Qualitative Demokratie“ näher eingegangen werden)

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