Im 20. Jahrhundert erlebte nicht nur die Politik, sondern auch die Kunst in Europa ihre großen Brüche, Umbrüche, Abbrüche, Zusammenbrüche. Es begann mit dem Ersten Weltkrieg, dem ersten großen Völkermorden dieses bisher mörderischsten aller Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte. Die Idylle von Biedermeier und Gründerzeit zerbrach und das Entsetzen über das Menschen-Mögliche gebar den Schrei der Verzweiflung, der sich in Formen des Expressionismus Ausdruck verschaffte. Dann kamen die kommunistischen Diktaturen im Osten und die nationalistischen Diktaturen im Westen und der Zweite Weltkrieg. Es kam das große Sterben in den Schützengräben der Fronten und in den Bombennächten der Städte. Es kamen die Bomben von Hiroshima und Nagasaki und das Bewusstsein, dass alles Leben auf dieser Erde von einem Tag auf den anderen ausgelöscht werden kann. Und es kamen die unfassbaren Nachrichten über die Schrecken von Auschwitz, Treblinka, Maidanek, Babi Yar … über das Grauen im Archipel Gulag und das Sterben am Kältepol menschlicher Existenz, über den Tod in den Dschungeln von Vietnam und in den Reisfeldern von Kambodscha, über das Wüten der Stammes-Krieger und Kindersoldaten in den Weiten Afrikas und über das lautlose Sterben von Millionen an Hunger und AIDS.
Der Glaube an Sinn und Würde des Menschseins zerbrach und mit ihm zerbrach die Kunst und zerriss in zwei Teile: der „ernsten“ Kunst und der „leichten“ Unterhaltung. Letztere ging daran, das innere Beben mit dröhnender Lautstärke, ekstatischen Rhythmen und unaufhörlicher Allgegenwart zu übertönen, mit immer exzessiveren Darstellungen von Gewalt und Pornografie zuzudecken oder mit einer bis ins lächerliche kommerzialisierten „Volkskunst“ rosarot zu übermalen, sich in eine Fantasiewelt als Gegenmodell zur entleerten Wirklichkeit zu flüchten (Harry Potter, Herr der Ringe usw.) und schließlich in absurder Blödelei aufzulösen.
Die sogenannte „ernste“ Kunst zelebrierte den Schrei der Verzweiflung in grellen Farben und zersprengten Formen, in Sprachfetzen und Gewaltszenen, in schrillen Klängen und aggressiven Dissonanzen immer wieder neu. In der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde alles, die Dinge, die Menschen, die Beziehungen … als gestört, verstört und zerstört dargestellt. Alles war zerrissen, verzerrt bis zur Unkenntlichkeit, alles war schreiend und grell, erschrocken und erschreckend, kaputt und kaputt machend. Über Jahrzehnte durfte keiner, der als Künstler ernst genommen werden wollte, es wagen, irgendetwas Schönes, Wohltuendes, Harmonisches darzustellen. Hohn, Spott und Verachtung wären so einem „Heile-Welt-Propheten“ sicher gewesen. Kunst, die ernst genommen werden wollte, wurde zur Selbstinszenierung des eigenen Lebensüberdrusses, zum Erbrechen des eigenen Lebensekels. Sie wollte nicht mehr Mitteilung irgendeinen Inhalts sein, sondern sinnloses Selbstgespräch, das nur noch die eigenen inneren Spannungen hinausschreit und kein hörendes Gegenüber mehr braucht und sucht.
Am Anfang waren das Erschrecken und der Schrei der Verzweiflung wirklich echt gewesen; aber auch später, als der Schrecken längst verklungen, die Sinne längst abgestumpft, die verstörte Künstlerseele längst beruhigt war, blieb die große Geste des Negativen, des alles Verneinenden erhalten. Der Schrei der Verzweiflung, der einmal echt gewesen war, wurde zum elektronisch verstärkten Spektakulum, wurde zur gefeierten Modeerscheinung. Der Schrecken wurde kommerzialisiert, wurde zum Geschäft, zum Geschäft mit Mord und Gewalt, mit Blut und Tod, mit jeder Form menschlicher Abartigkeit und Verirrung.
Unter dem Deckmantel von „Kunst“ werden heute Gewalt und Mord gewinnbringend vermarktet, werden Bosheit und menschenverachtende Einstellungen Quoten-steigernd eingesetzt, werden ethische Perversionen stolz als Markenzeichen der Freiheit präsentiert. Weltweit sitzen Zehntausende, Hunderttausende kluge und kreative Menschen in ihren Büros und an ihren Bildschirmen und haben nichts anderes zu tun, als sich Szenen von Gewalt und Mord auszudenken, die noch ein wenig extremer, noch ein wenig grausamer, noch ein wenig brutaler und verrückter sind, als es die in der letzten Folge der Filmserie, des Computerspiels usw. waren (sonst schaut ja niemand mehr hin und die Werbeeinnahmen gehen verloren!!).
So endete die Kunst des 20. Jahrhunderts. Jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, stehen Kunst und Kultur nicht etwa an einem Abgrund, wie manche meinen, sondern eher in einem übel riechenden Morast. Aus der großen Geste der Verneinung (Schopenhauer, Nietzsche …), die im 19. Jahrhundert existenzielles Erschrecken und intellektuelle Begeisterung zugleich hervorrief, ist im Kulturbetrieb der Gegenwart eine müde wegwerfende Bewegung geworden, die ihren Überdruss in bemüht witzigen Pointen portioniert und quotenträchtig vermarktet. Die modernen Nachfolger der großen pessimistischen Philosophen sind die Spaßmacher von heute, die mit wortwitziger Niedertracht (Niedertracht hier wörtlich gemeint als etwas, das immer nach dem Niedrigsten trachtet) sich über alles und jeden lustig machen, alles und jeden in den Dreck ziehen, denen menschliches Erleben und Erleiden, Wollen und Mühen höchstens eine hämisch-abfällige Bemerkung wert sind und denen selbst das Großartigste und Heiligste gerade noch für einen Beifall heischenden Witz taugt.
Das einundzwanzigste Jahrhundert hat seine Kunst noch nicht gefunden. Es wird sie erst finden, wenn es aus der egozentrischen Versponnenheit in der eigenen Gefühlswelt wieder herausfindet und sich wieder dem Mitmenschen zuwendet. Die Alternative für die Kunst des 21. Jahrhunderts heißt nicht „Heile-Welt-Illusion“ oder Verzweiflung, sondern Egomanie oder Mitteilung an ein Du.
Die Kunst des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird erst dann das Zwanzigste überwinden, wenn sie bereit ist, das Unbehauste und Entstellte menschlicher Existenz (das es neben allem Guten und Schönen eben auch gibt) ehrlich wahrzunehmen und anzunehmen, aber dann den Schmerz darüber umzuwandeln in ein hingabebereites „Ja“ zum Du. Erst wenn es de rKunst gelingt, das Angesicht des Nächsten wieder zu suchen und anzuschauen, seinen Schmerz und seine Freude wahrzunehmen, seine Wunden und seine Schönheit zu berühren und eine achtsam zugewandte Kommunikation mit ihm zu beginnen, wird sie neue Worte, Geschichten, Formen, Farben und Klänge finden, wird sie neue, wirklich andere Ausdrucksformen entwickeln als das zutiefst destruktive Lebensgefühl des 20. Jahrhunderts es vermochte. Kunst ist intellektuelle und spirituelle Energie. Sie kann, wie jede Energie, zerstörend oder aufbauend eingesetzt werden.
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Bodo Fiebig 2020-9