Der gesamte Zeitraum von der Geburt bis zum Eintritt ins Erwachsenenalter gliedert sich in mehrere Abschnitte, die jeweils eine besondere Gestaltung der Erziehung und Unterrichtung der jungen Menschen erfordern. Hier werde drei solche Abschnitte angesprochen: Kleinkind-Phase, Großkind-Phase und Jugendlichen-Phase. Dabei werden die Übergänge von einer Phase zur nächsten nicht an starren Altersgrenzen festgemacht, sondern jeweils an der individuellen Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen.
1) Kleinkind-Phase
Diese erste Phase dauert vom Ende der Wöchnerinnen-Zeit, in der die Mutter im häuslichen Umfeld so weit es nötig ist, fachliche und persönliche Unterstützung (durch Angehörige und /oder außerfamiliäre Fachleute) erfährt, bis zur ersten kindlichen Ablöse-Phase, durch die das Kind von sich aus fähig und bereit wird, sich ohne die Gegenwart der primären Bezugspersonen (d. h. im Allgemeinen der Eltern, Geschwister, Großeltern …) in eine Gruppe Gleichaltriger zu integrieren.
Der in dieser ersten Phase der kindlichen Entwicklung häufig entstehende Interessenkonflikt scheint fast unlösbar: Einerseits ist es unbestreitbar, dass in diesen ersten Jahren die Beziehung des Kindes zur leiblichen Mutter (bzw. zum leiblichen Vater) innerhalb einer liebevollen und stabilen Familiengemeinschaft die beste Grundlage für den Aufbau der Beziehungsfähigkeit des jungen Menschen für das ganze weitere Leben bildet. Andererseits zeigt die Erfahrung, dass manche Mütter oder Väter nicht fähig sind, diese überaus wichtige Phase für die Erziehung ihres Kindes optimal zu gestalten, dass mache Elternbeziehung nicht tragfähig und belastbar ist, sondern eher selbst eine Belastung darstellt, dass manche Familienkonstellationen ein eher schädigendes als hilfreiches Umfeld bildet, dass manche allein erziehenden Mütter oder Väter mit der komplexen Situation der Erziehung eines Kleinkindes neben den beruflichen Anforderungen überfordert sind … In solchen Fällen müsste man eher eine professionelle Erziehung des Kleinkindes in einer entsprechenden Einrichtung empfehlen.
Frühe Erziehung in der Familie durch die Familienangehörigen oder in öffentlichen Einrichtungen mit professionellen Erziehern? Diese Frage ist heftig umstritten. Wer behauptet, häusliche Erziehung wäre in jedem Falle besser als öffentliche Erziehung, liegt ebenso falsch, wie jene, die das genaue Gegenteil (also das Primat der öffentlichen Erziehung) für einzig richtig halten. Die realen Situationen in denen Eltern, Kinder, Geschwister und Verwandte leben, können so unterschiedlich sein, dass jede Gleichmacherei verfehlt wäre. Wer aber (wie es gegenwärtig häufig geschieht) die unbestreitbaren Einzelfälle von familiärem Versagen in der Erziehung instrumentalisiert, um familiäre Erziehung grundsätzlich als unfähig, ja schädlich zu diffamieren, zeigt nur seine ideologische Voreingenommenheit.
Optimal und deshalb anzustreben wäre ein System der frühkindlichen Erziehung, das beide Aspekte miteinander verbindet, und zwar in einer Weise, die den Vorrang der Erziehung durch die Familie nicht in Frage stellt. Dazu müssten die Mütter in der ersten Zeit nach der Geburt des Kindes von beruflicher Arbeit freigestellt werden und eine entsprechende Ausgleichszahlung erhalten. Wie lange diese Freistellung dauert, dürfte nicht für alle gleichermaßen festgelegt sein, sondern müsste sich an den tatsächlichen Bedürfnissen des Kindes und seiner Hauptbezugsperson orientieren und müsste dementsprechend im Gespräch von Eltern, Erziehern und anderen Fachleuten (z. B bei Behinderung des Kindes) vereinbart werden.
Nach dem Ende der Wöchnerinnen-Zeit wäre die wichtigste familiäre Bezugsperson des Kindes verpflichtet, zusammen mit ihrem Kind eine von entsprechend ausgebildeten Erziehern geleitete Mutter-Kind-Einrichtung zu besuchen. Im Miteinander der Mütter (evtl. auch Väter) und mit Anleitung durch die Erzieher/innen sollen mögliche Defizite in der Erziehungskompetenz der Eltern ausgeglichen werden. In regelmäßigen Abständen sollten in geeigneter Weise auch weitere Bezugspersonen (z. B. die Väter) in die Betreuung der Gruppe mit einbezogen werden. Entscheidend wichtig für diese Phase ist es, dass die primäre Betreuungsperson (in allgemeinen die leibliche Mutter) auch in einer solchen Mutter-Kind-Einrichtung direkte und vorwiegende Bezugsperson für das Kind bleibt, gleichzeitig aber im Gespräch und Erfahrungsaustausch mit anderen Müttern und ausgebildeten Erziehern jede notwendige Unterstützung für ihre Erziehungsarbeit erfährt. Diese Phase könnte für kompetente, verantwortungsbewusste und persönlich gereifte Mütter (oder Väter) nach wenigen Wochen beendet werden, für andere, weniger kompetente und gefestigte Eltern auch mehrere Monate andauern.
In einem weiteren Abschnitt von mehreren Monaten bis (im besonderen Bedarfsfall) mehreren Jahren, sollte die Mutter (bzw. eine andere bleibende Bezugsperson) an einem Tag in der Woche von einer/m entsprechend ausgebildeten Erzieher/in in ihrer Wohnung besucht und angeleitet werden. In diese Anleitung sollten, so weit wie möglich, auch die Väter, Geschwister und andere Familienmitglieder mit einbezogen sein. Die finanzielle Absicherung der Eltern und der ganzen Familie müsste (wo das nötig ist) in der gesamten Kleinkindphase durch öffentliche Zuwendungen gewährleistet sein.
Erst nach der ersten kindlichen Ablösephase (etwa im 3. bis 5. Lebensjahr, manchmal aber auch später) durch die das Kind von sich aus fähig und bereit wird, sich ohne die Gegenwart der primären Bezugspersonen (d. h. im Allgemeinen der Eltern, Geschwister, Großeltern …) in eine Gruppe Gleichaltriger zu integrieren, sollten Kinder allein in Kindertagesstätten aufgenommen werden. Dort sollte auch der Übergang in die Schulzeit vorbereitet werden. Auch in dieser Phase bleiben die Eltern die Hauptverantwortlichen für die Erziehung ihrer Kinder; das bedeutet, dass die Erzieher eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern suchen müssen.
Wie lange diese Phase andauert, und wann sie mit dem Schuleintritt beendet wird, darf nicht pauschal für alle Kinder mit dem gleichen Alter festgelegt werden, sondern muss sich an den tatsächlichen Gegebenheiten orientieren und im Gespräch von Eltern, Erziehern und (falls nötig, z. B. bei Behinderung des Kindes) anderen Fachleuten jeweils individuell vereinbart werden. In geeigneten Abschnitten dieser Gespräche sollte das Kind (je nach dessen Fähigkeiten) mit einbezogen und gehört werden.
2) Großkind-Phase
In die Großkind-Phase fällt ein erster und wesentlicher Teil der schulischen Bildung. Diese sollte im Gleichgewicht von zwei Anliegen getragen werden: Erziehung und Unterrichtung. Beide Anliegen brauchen ihre eigenen Schwerpunkte und Arbeitsweisen und selbstverständlich bleibt auch in der Großkindphase die häusliche Erziehung weiterhin Grundlage für die Entwicklung des Kindes.
Erziehung (in der Schule) darf nicht als „Nebenprodukt“ des Unterrichts erwartet werden. Das bedeutet: Auch die Erziehung muss im Rahmen der schulischen Bildung ihre eigenen Lebensräume und Lebensformen und ihre eigene institutionelle Verankerung haben. Deshalb wird hier die Einrichtung von Lebensgruppen und Lerngruppen innerhalb der Schule vorgeschlagen. Beide sind grundsätzlich verschieden angelegt und zwar so, dass eine bewusst geplante und gestaltete Erziehung (im schulischen Rahmen) vor allem in den Lebensgruppen geschieht; bewusst geplante und gestaltete Unterrichtung vor allem in den Lerngruppen. Das schließt natürlich nicht aus, dass in den Lerngruppen neben dem sachlichen Lernen auch Erziehung geschieht, und dass auch in den Lebensgruppen etwas gelernt wird. Hier findet sogar der Schwerpunkt des sozialen Lernens statt. Trotzdem brauchen die beiden Bereiche „Erziehung“ und „Unterrichtung“ auch je besonders geprägte Umfeldbedingungen.
Die Zusammensetzung der Lebensgruppen und der Lerngruppen wäre grundsätzlich verschieden: Die Lebensgruppen bestehen aus Jungen und Mädchen; sie sind altersgemischt zusammengesetzt (von der Einschulung bis vor den Beginn der Jugendlichen-Phase – siehe unten), und sie sind auch der Begabung nach gemischt (von geistiger Behinderung bis hochbegabt). Diese Lebensgruppen sollen über die ganze Großkind-Phase hinweg in ihrer Zusammensetzung möglichst stabil bleiben. Die Lebensgruppen werden von Erziehern geleitet. Die Arbeit der Lebensgruppen muss intensiv mit den Eltern der Kinder geplant und nach Inhalten und Stil immer wieder neu abgestimmt werden. Begegnungen und gemeinsame Unternehmungen (z. B. Gruppenreisen, Projekte usw.) verschiedener Lebensgruppen werden von den beteiligten Erziehern und ihren Gruppen in Absprache mit den Eltern geplant und durchgeführt.
Die Zusammensetzung der Lerngruppen kann sich von Unterrichtseinheit zu Unterrichtseinheit ändern. So kann dasselbe Kind z. B. in einer Unterrichtseinheit in Mathematik mit vielen älteren Kindern zusammen sein (weil es eine gute Mathematik-Begabung hat) und anschließend in einer sprachlichen Unterrichtseinheit mit vielen Jüngeren zusammenarbeiten (weil da Defizite und Nachholbedarf vorhanden sind). Angestrebt wird dabei eine Gruppenzusammensetzung, deren Teilnehmer auf einem vergleichbaren Lernniveau zusammenarbeiten können. Die Lerngruppen werden von Lehrern geleitet. Die Unterrichtseinheiten umfassen mehrere Lerneinheiten, die über mehrere Wochen verteilt sind. Die Unterrichtseinheiten müssen für eine bestimmte Schule alle gleich lang dauern (z. B. einen Monat*), denn nur so wäre der Wechsel für alle Schüler einer Schule zum gleichen Zeitpunkt in die jeweils für die Schüler optimalen Lerngruppen möglich.
* Unterrichtseinheiten von einem halben oder ganzen Jahr bis zum nächsten „Zeugnis“ sind von Kindern dieser Altersstufe nicht zu überschauen und bieten keinen Anreiz, auf ein Ziel hin zu arbeiten, weil dieses Ziel für sie geradezu „unendlich“ weit weg ist.
Die einzelnen Lernabschnitte sollen so gestaltet sein, dass sie am Ende der Unterrichtseinheit zu einem Abschluss führen, der dann den Kindern auch mit einem entsprechenden „Zeugnis“ bestätigt wird. Diese Zeugnisse enthalten keine Noten, sondern eine Beschreibung der Lernfortschritte und Arbeitskompetenzen und Empfehlungen zur weiteren Lernplanung. Die Zuordnung zu den wechselnden Lerngruppen wird von den Erziehern und den Lehrern zusammen mit den Kindern und in Absprache mit den Eltern organisiert.
Jeder Schultag sollte beide Aspekte schulischer Bildung beinhalten: gemeinsames Leben, soziales Lernen und kreatives Gestalten in den festen Lebensgruppen und gemeinsames sachliches Lernen und Arbeiten in wechselnden Lerngruppen. Normalerweise wird ein Schultag mit einer gemeinsamen Zeit in den Lebensgruppen beginnen, daran werden sich mehrere Arbeitsphasen in wechselnden Lerngruppen anschließen, bis der Schultag mit einer gemeinsamen Zeit in den Lebensgruppen abschlossen wird. Bei jüngeren Kindern wird der Anteil der Zeit in den Lebensgruppen größer sein als bei älteren.
Der Übergang in die dritte Phase der Erziehung und Bildung (Jugendlichen-Phase) wird im Gespräch der Eltern und des Kindes mit den Erziehern und Lehrern (und wenn nötig anderen Fachleuten) gemeinsam vereinbart und geplant. Er folgt im Allgemeinen der zweiten natürlichen Ablösungsphase (der Pubertät, jedoch nicht vordringlich an der körperlichen, sondern besonders auch an der geistigen und persönlichen Reife gemessen). Ausschlaggebend ist dabei nicht eine bestimmte Zahl von Lebensjahren, sondern die tatsächliche Entwicklung des Kindes.
3) Jugendlichen-Phase
In der Jugendlichen-Phase werden die festen Lebensgruppen und wechselnden Lerngruppen grundsätzlich fortgesetzt. Die Lebensgruppen werden aber jetzt in der Zusammensetzung neu angelegt, wobei die Jugendlichen wesentlich über die Zusammensetzung der Gruppen mitbestimmen (wobei hier ein Verfahren angewendet werden muss, welches verhindert, dass einzelne Jugendliche am Ende als Verlierer dastehen, die keine Gruppe haben will. Solche Verfahren gibt es und sind leicht durchführbar).
Die Erzieher achten nun auf zunehmend eigenverantwortliche Gestaltung des Gruppenlebens und der Lernplanorganisation durch die Jugendlichen. Die Jugendlichen können in Absprache mit den Erziehern auch gruppenübergreifende Unternehmungen planen oder sie können sich zu bestimmten Anlässen in reine Jungen- und Mädchengruppen aufteilen, so dass Mädchen bzw. Jungen mehrerer Gruppen dann gemeinsame Unternehmungen planen.
Die Lerngruppen dieser Phase sind noch stärker ausdifferenziert. Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, die inhaltlichen Schwerpunkte ihrer Lerneinheiten im Gespräch mit ihren Eltern, Lehrern und Erziehern in größerem Maße selbst zu bestimmen und zu organisieren (vergleichbar mit dem Vorlesungs- und Seminarbetrieb an Hochschulen). In diese Zeit fallen auch Betriebspraktika bzw. Phasen der handwerklichen Lehre oder anderer Formen der beruflichen Vor- und Ausbildung, die von den Jugendlichen in Absprache mit Erziehern und Lehrern und den ausbildenden Betrieben geplant und durchgeführt werden.
In allen drei Phasen (Kleinkind-Phase, Großkind-Phase und Jugendlichen-Phase) sollen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen soweit irgend möglich in die entsprechenden Gruppen integriert werden.
Der Eintritt in die Volljährigkeit wird nicht pauschal für alle durch das gleiche Alter vorgegeben. Die Bestätigung der Volljährigkeit sollten Jugendliche dann bekommen, wenn sie von Erziehern, Lehrern und Ausbildern in Absprache mit den Eltern und im begründenden Gespräch mit den Jugendlichen selbst für ausreichend gereift befunden werden, wobei entscheidend die Persönlichkeitsentwicklung, die geistige und soziale Reife zählt und weniger die körperliche Entwicklung.
Im Allgemeinen sollte dies zwischen dem 16. und 24. Lebensjahr geschehen. Es gibt Jugendliche, die mit 16 Jahren in weit größerem Maße vernünftig, selbstständig und verantwortungsbewusst leben, entscheiden und handeln können als manche andere, die schon über zwanzig sind, deshalb ist die Zuerkennung der Volljährigkeit allein nach dem Alter nicht sinnvoll. Eine Volljährigkeit „nach erwiesener Eignung“ wäre auch für viele Jugendliche ein starker Anreiz zu sozial verantwortungsvollem Verhalten.
Die Zuerkennung der Volljährigkeit würde in diesem System kein festes Lebensalter und keine abgeschlossene Berufsausbildung, wohl aber ein ausreichendes Maß an persönlicher Reife, an sozialer Verantwortung und Kommunikationsfähigkeit, an demokratischer Haltung, staatsbürgerlicher Bildung und eigenverantwortlicher Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit voraussetzen. Das Zeugnis der Volljährigkeit würde zur vollgültigen und eigenverantwortlichen Teilnahme am öffentlichen Leben berechtigen (z. B.Wahlrecht, Wählbarkeit, juristische Rechtsfähigkeit, Übernahme von öffentlichen Ämtern, Berechtigung den Kfz-Führerschein zu machen usw.). Die Entscheidung über die Zuerkennung der Volljährigkeit muss von den Jugendlichen und ihren gesetzlichen Vertretern im Zweifelsfall bei ordentlichen Gerichten anfechtbar sein.
Es sollte allerdings auch möglich sein, dass einem jungen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren eine schon zugesprochene Volljährigkeit noch einmal für eine bestimmte Zeit (in einem gerichtlichen Verfahren) entzogen wird, wenn der Betreffende sich als noch nicht ausreichend gereift und gefestigt erweist (z. B. durch wiederholte kriminelle Handlungen). Bei schwerer geistiger Behinderung würde dem Jugendlichen mit Erreichen des 24. Lebensjahres ein Betreuer zur Seite gestellt, der mit ihm und für ihn in Absprache mit den Eltern notwendige Entscheidungen treffen kann.
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Bodo Fiebig 2020-9