Bereich: E Gemeinschaft biblischen Glaubens

Thema: Juden und Christen

Beitrag 3: Gegenwärtige Spannungsfelder (Bodo Fiebig23. Februar 2018)

Das gegenwärtige Verhältnis zwischen Juden und Christen wird von einer ganzen Reihe von Spannungsfeldern beherrscht, drei davon will ich hier ansprechen: Messianisches Judentum, Judenmission und alter und neuer Antijudaismus.

1 Messianische Juden/ messianische Gemeinde

Vorbemerkung: Ich verwende im Folgenden die Begriffe Juden, Christen, messianische Juden und Judenchristen so, wie es allgemein üblich ist, bzw. wie ich es bei den betreffenden Gruppen selbst gehört oder gelesen habe, wohl wissend, dass diese Begriffe manchmal auch anders verwendet werden. Deshalb will ich in 5 Punkten beschreiben, wie ich diese Begriffe hier verwende.

1) Der Begriff „Messianisches Judentum“ beschreibt nicht nur eine Erscheinung der Neuzeit, sondern ist auch eine Wesensbeschreibung der neutestamentlichen Urgemeinde. Die Urgemeinde wie sie in der Apostelgeschichte beschrieben wird, und aus der später die christliche Kirche hervorgegangen ist, war eine messianisch-jüdische Gemeinde und alle heutigen messianischen Gemeinden bestehen und leben heute noch im Wesentlichen nach den gleichen Grundsätzen wie damals. Die Urgemeinde bestand (zumindest am Anfang) aus lauter Juden, die in Jesus von Nazareth ihren von Gott gesandten Messias erkannt hatten. Das gilt auch heute noch für jede messianisch jüdische Gemeinde. Die heutigen messianischen Gemeinden sehen sich als Wiedererweckung und Erneuerung der Berufung, die diese erste messianische Gemeinde im Heilsplan Gottes hatte (wobei das dann verschieden definiert werden kann), aber im Grundsatz ist dies Teil ihres Selbstverständnisses. Die etablierten christlichen Kirchen tun sich schwer, das Phänomen des messianischen Judentums unserer Gegenwart einzuordnen und anzunehmen. Trotzdem: Diese messianischen Gemeinden aus der heutigen Gemeinschaft der Jesusjünger auszuschließen, hieße den eigenen Ursprung zu verleugnen, denn das messianische Judentum stand am Anfang der Jesusjüngerschaft, noch ehe es eine christliche Kirche gab.

2) Die Mitglieder der Urgemeinde blieben ganz selbstverständlich Juden, als sie eine messianische, das heißt an den Messias Jesus gläubige Gemeinde bildeten. Sie wurden nicht Christen. Damals hat es ja auch so etwas wie „Christen“ und eine „christliche Kirche“ noch gar nicht gegeben. Diese Bezeichnungen entstanden erst deutlich später (Apg 11, 26: In Antiochia wurden die Jünger zum ersten Mal Christen genannt.). Die Gemeinde in Antiochia war aber zu der Zeit schon eine vorwiegend griechischsprachige heidenchristliche Gemeinde, und die nannte man „Christen“.

Zurück zur Urgemeinde in Jerusalem. In Apg 2, 46 heißt es: sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel. Was machten sie da? Dort feierten sie den jüdischen Tempel-Gottesdienst mit. Etwas anderes hätte es dort auch nicht gegeben. Sie hielten dort jedenfalls keine Protestveranstaltungen gegen das Judentum ab, denn im nächsten Vers (47) heißt es: und (sie, die Mitglieder der Urgemeinde) fanden Wohlwollen beim ganzen (jüdischen) Volk. Dieses Wohlwollen hätten sie ganz sicher nicht gefunden, wenn sie dort aufgetreten wären als Leute, die das Judentum ablehnen. Also: Die Jerusalemer Urgemeinde bestand aus Menschen die sich als Juden empfanden, nicht als Christen.

Keinem der Jünger und Apostel des Anfangs wäre es je in den Sinn gekommen, dass sie ihr Judesein ablegen müssten, um zur Jesus-Gemeinde zu gehören. Auch heute lehnen es messianische Juden (jedenfalls alle messianischen Juden, die ich persönlich kenne) ganz entschieden ab, dass man sie Christen nennt, dass sie, als sie Jesus als ihren Messias angenommen hatten, Christen geworden seien. Der griechische Name „Christen“ bezieht sich für sie nur auf Jesus-Gläubige aus den nichtjüdischen Völkern. Sie selbst nennen sich „messianisch-jüdisch“. Und beide, die christlichen und die jüdisch messianischen Jesus-Jünger, gehören zusammen. Die griechisch-lateinische Bezeichnung „Christus“ und das hebräische „Messias“ bedeuten ja beide das Gleiche: nämlich der „Gesalbte“, und gemeint ist beide Male Jesus.

3) Die Urgemeinde in Jerusalem (und erst recht die später gegründeten Gemeinden an anderen Orten) bestand nur ganz am Anfang nur aus Juden. Sehr bald gehörten auch Jesusanhänger aus heidnischen Völkern dazu (z. B. der Hauptmann Cornelius in der Gemeinde von Cäsarea). In Eph 2,14 sagt Paulus (auch ein messianischer Jude): Denn er (Jesus) ist unser Friede, der aus beiden (aus Juden und Heiden) eins gemacht hat und hat den Zaun abgebrochen, der dazwischen war, indem er durch sein Fleisch die Feindschaft wegnahm. Die Urgemeinde sah Jesus als den, der die Feindschaft zwischen Juden und Heiden durch seine Hingabe am Kreuz überwunden hat. Er ist für Juden und Heiden gestorben und auferstanden. Die messianischen Juden sehen sich damals wie heute als Bindeglied, als Brücke zwischen jüdischen und ehemals heidnischen Jesusjüngern und auch als Brücke zwischen Christen und Juden insgesamt.

4) Jahrhunderte nach der Urgemeinde gab es dann Menschen, die man Judenchristen nannte. Das waren Juden, die (meist zwangsweise nach dem Prinzip „Taufe oder Tod“ bzw. Vertreibung, manchmal auch freiwillig) sich einer christlichen Kirche angeschlossen hatten und dabei aber ihr Judesein völlig ablegen mussten. Und das wollen und tun messianische Juden ausdrücklich nicht. Gleichzeitig gibt es aber heute in verschiedenen christlichen Kirchen einzelne Mitglieder oder auch ganze Gemeinden, die ohne Zwang vom Judentum in eine christliche Kirche konvertiert sind. Gegenwärtig besteht z.B. in Jerusalem innerhalb der katholischen Kirche eine Gemeinde aus ehemaligen Juden (die hatte eine Zeitlang sogar einen eigenen Bischof). Das ist eine judenchristliche Gemeinde, keine messianisch-jüdische.

Nebenbei angemerkt: Die Inquisition in Spanien wurde gegründet, um sog. Krypto-Juden, also um Juden, die unter Todesandrohung bzw. unter Androhung der Vertreibung die christliche Taufe angenommen hatten, die aber heimlich noch weiter ihrem jüdischen Glauben anhingen, zu finden und zum Tode zu verurteilen. Heute gibt es solche Zwangschristianisierung (Gott sei Dank) nicht mehr, aber die christlichen Kirchen tun sich auch heute noch schwer, eine selbständige, kirchenunabhängige jüdisch-messianische Jesus-Nachfolge anzuerkennen.

Messianische Juden, in der Urgemeinde ebenso wie heute, sehen sich selbst als Juden, nicht als Christen jüdischer Herkunft, die ihr Judesein verloren oder verleugnet hätten.

Jesus selbst wäre nie auf die Idee gekommen, von seinen Jüngern zu erwarten, dass sie ihr Judesein ablegen müssten, um Jesusgläubige werden zu können. Später, so lesen wir es in der Apg, ging es darum, ob frühere Heiden zuerst Juden werden und beschnitten werden und die jüdischen Gesetze befolgen müssten, um Jesusanhänger zu werden zu können und das haben die Apostel angelehnt.

5) Messianische Juden, damals wie heute, leben ganz selbstverständlich als Juden, fühlen sich dem jüdischen Volk zugehörig (nicht unbedingt dem israelischen, das jüdische Volk, bzw. die jüdische Glaubensgemeinschaft umfasst ja mehr als nur die Juden, die in Israel leben) und feiern die jüdischen Feste nach dem jüdischen Kalender. Das galt auch für die Urgemeinde ganz genau so.

Noch eine Anmerkung dazu: Der Begriff „messianische Juden“ wird zwar heute (fast) überall so gebraucht, wie ich es oben beschrieben habe, aber er ist eigentlich nicht ganz korrekt. Genau und wörtlich genommen ist auch jeder gläubige Jude (ob liberal, traditionell, orthodox oder ultra-orthodox), der nicht an Jesus glaubt, ein messianischer Jude, denn er glaubt an den Messias und an die alttestamentlichen Messias-Verheißungen; er glaubt aber nicht, dass Jesus die Erfüllung dieser Verheißungen ist. Wir müssten die messianischen Juden also eigentlich, wenn wir ganz korrekt sein wollen „Jesus-gläubige messianische Juden“ nennen. Trotzdem, der Begriff „messianische Juden“ hat sich gegenwärtig festgesetzt als Bezeichnung für Juden, die an Jesus als Messias glauben und es wäre sehr verwirrend, wenn wir ihn jetzt anders gebrauchen würden.

Die Entstehung von messianisch-jüdischen Gemeinden in unserer Gegenwart ist ein heilsgeschichtlich bedeutsamer Vorgang, der an die Ausgangssituation der ersten Jesus-Gemeinde wieder anknüpft. Er zeigt, dass auch heute jüdisches Glauben und Leben nicht im Widerspruch zu einer tiefen und echten Jesus-Beziehung stehen muss. Freilich ist die Position der messianischen Gemeinden zwischen Kirche und Synagoge heute schwankend und ungeklärt. Die christlichen Kirchen erschweren diese Klärung, wenn sie die messianischen Gemeinden an kirchliche Strukturen binden wollen. Und wer unter den Christen heute der Meinung ist, nur die messianischen Juden wären „gute“ Juden, nur sie dürfe man zum Volk Gottes zählen, alle anderen wären eben immer noch verstockt, mit Blindheit geschlagen und von Gott verworfen, der hat immer noch nichts von der bleibenden und unaufhebbaren und durch nichts zu erschütternden Liebe Gottes zu seinem ganzen ersterwählten Volk verstanden.

Jetzt, im 21. Jahrhundert, nehmen wir wahr, dass es jesusgläubiges Judentum in einer großen Bandbreite von Prägungen und Ausrichtungen gibt:

– kirchenunabhängige messianische Gemeinden

– „Judenchristen“ innerhalb der verschiedenen christlichen Kirchen

– unorganisierte Juden, die offen oder geheim Jesus als Messias angenommen haben innerhalb oder außerhalb jüdischer Synagogengemeinschaften …).

Alle diese Formen von jesusgläubigem Judentum und dazu die Gesamtheit aller gegenwärtig existierenden christlichen Kirchen und Gemeinschaften bilden nach dem Willen Jesu (Joh 17, 20-23) gemeinsam die eine und unzertrennliche Jesusjüngerschaft.

Soweit eine christliche Sicht. Aus der Perspektive jüdischer Menschen stellt sich die Realität der messianischen Bewegung innerhalb des Judentums aber ganz anders dar:

Das gegenwärtige Judentum sieht sich von drei Seiten her grundsätzlich infrage gestellt: erstens durch die Androhung physischer Vernichtung von Seiten einer feindseligen arabisch-islamischen Welt und eines wachsenden internationalen Antisemitismus (Antijudaismus), zweitens durch die Auszehrung in Form einer kulturellen Assimilation (in der Diaspora, aber auch in Israel), in der sich auch die jüdische Identität allmählich auflöst und drittens durch eine christliche Unterwanderung und kirchliche Vereinnahmung des Judentums in Form der jüdisch-messianischen Bewegung (siehe dazu auch den folgenden Abschnitt „Judenmission?“). Alle drei genannten Befürchtungen und Existenzängste erscheinen durchaus real und begründet (allerdings nicht vom Selbstverständnis der messianischen Gemeinden her). Die jahrhundertelange reale Erfahrung existenzieller Gefährdung mit dem Höhepunkt der Schoah lässt solche Existenzkrisen auch heute noch sehr nah und bedrohlich erscheinen.

Die Ausbreitung messianischer Gemeinden löst in weiten Teilen des rabbinischen Judentums die Befürchtung aus, sie würden einer christlichen Unterwanderung und kirchlichen Vereinnahmung dienen mit dem Ziel, das Judentum im weiten Raum der christlichen Kirchen aufgehen zu lassen. Um diesen Verdacht zu entgehen, versuchen die meisten Kirchen, sich vom messianischen Judentum zu distanzieren. Sie unterliegen dabei aber einem grundlegenden Irrtum: Die Entstehung und Ausbreitung messianisch-jüdischer Gemeinden ist (von Gott her gesehen, soweit wir diese Sichtweise überhaupt wahrnehmen können) nicht dazu da, als „Speerspitze“ der Kirche bei der Missionierung des Judentums zu dienen (während die Kirche selbst sich angesichts ihrer bösen Geschichte vornehm zurückhält) sondern sie ist unter anderem dazu da, die auf ihre Gegenwart fixierte und in ihren internen Belangen versponnene Christenheit an ihre eigene, fast schon vergessene messianische Hoffnung zu erinnern, sie auf das Ziel ihres Daseins im Friedensreich des Messias hinzuweisen, damit sie ihr Leben, Reden und Handeln schon heute darauf einstellen kann.

Auch das orthodoxe Judentum ist messianisch, insofern es auf den Messias Israels hofft. Das ist also nicht der Problempunkt. Die Frage ist, ob der Christus der Christen gleichzeitig auch der Messias der Juden sein kann, angesichts einer zweitausendjährigen Geschichte, in der immer wieder Juden im Namen dieses Christus verfolgt und getötet wurden.

Die Aufgabe der messianisch-jüdischen Gemeinden ist nicht, Juden aus dem Judentum herauszulösen und zu nichtjüdischen Christen zu machen. In dieser Aussage sind sich alle sonst so unterschiedlichen und oft widersprüchlichen messianischen Bewegungen einig. Dass manche messianische Gemeinden auch eine besondere Vollmacht haben, das Evangelium gegenüber Juden zu bezeugen, bleibt davon unberührt. Die messianischen Juden sind nicht dazu da, das Judentum in messianische und nicht-messianische zu spalten, sondern als Katalysator der Einheit zwischen Judentum und Christentum zu dienen. Das aber muss von den christlichen Kirchen gewollt sein! Die ersten christlichen Gemeinden bestanden sehr bald aus jesusgläubigen Juden und Heiden und an ihrer Einheit unter dem einen und gemeinsamen Herrn sollten alle Juden und Heiden ihre grundsätzliche Zusammengehörigkeit erkennen.

2 Judenmission?

Unter den heutigen Christen in Deutschland, die zu Israel und zum Judentum eine positive Beziehung haben, gibt es seit Jahren eine heftige Auseinandersetzung. Sie entzündet sich an den Begriff „Judenmission“. Dürfen Christen, und vor allem Christen aus Deutschland, christliche Mission unter Juden betreiben, oder ist dies nichts anderes als die „Fortsetzung des Holocaust mit anderen Mitteln“, aber mit dem gleichen Ziel, nämlich der Auslöschung des Judentums? Außerdem ist man in den Kirchen gegenwärtig bemüht, nach den furchtbaren Ereignissen der Vergangenheit ein positives Verhältnis zum Judentum aufzubauen. Soll das alles wieder in Frage gestellt werden?

Aber – Gegenfrage – darf man andererseits als Christ den Juden die Botschaft des Evangeliums verweigern? Betreibt man da nicht auch eine Art negativer „Selektion“, indem man einer bestimmten Gruppe von Menschen, den Juden, das vorenthält, was allen Menschen zum Heil dienen soll? Der einzige Ausweg aus dieser „Zwickmühle“ scheint darin zu liegen, dass man das ganze Thema zur Tabuzone erklärt. Und so verhält man sich weitgehend. Ich meine aber, dass dies falsch ist, und dass die Ursache für dieses Dilemma ein gravierender Denkfehler ist.

Der Denkfehler auf beiden Seiten liegt in dem Begriff der „Mission“. Man übernimmt hier einen Begriff, der sich in der Begegnung von Christen mit heidnischen Völkern gebildet hat. Christliche Mission unter „Heiden“ bedeutet, dass man Menschen die Botschaft der Bibel und besonders der Evangelien verkündigt, sodass diese sich von ihren heidnischen Glaubensinhalten und Lebensweisen abwenden, dass sie statt dessen die Bibel als Wort Gottes und Jesus als ihren Heiland annehmen, sich taufen lassen und Mitglied einer christlichen Kirche werden. Das ist christliche Mission unter Heiden. Dieses Missionsverständnis legt man nun auch in den Begriff der „Judenmission“ hinein und lässt dabei außer Acht, dass das Verhältnis von Christen und Juden von Anfang an ein fundamental anderes ist.

1. Jesus selbst war Jude, ebenso waren alle seine Jünger und die ganze christliche Urgemeinde Juden. Keinem von ihnen wäre es je in den Sinn gekommen, dass sie ihr Jude-Sein ablegen und verleugnen müssten, um Jesus-Jünger zu werden und Jesus wäre es nie in den Sinn gekommen, so etwas von ihnen zu erwarten. In der nach­pfingstlichen Diskussion ging es darum, ob Heiden zunächst einmal jüdisch werden müssten, um Christusgläubige sein zu können. Keiner der Beteiligten hat je verlangt oder erwartet, dass ein Jude dazu sein Judentum ablegt.

2. Die christlichen Kirchen bekennen heute zum ganz überwiegenden Teil (leider immer noch nicht alle), dass Gott treu zu allen seinen Verheißungen steht, auch zu denen, die besonders dem jüdischen Volk zugesprochen sind. Sie verwerfen damit frühere Fehlentwicklungen, die eine „Enterbungstheologie“ gegenüber dem Judentum begründeten. Sie achten das Judentum als wesentlichen und bleibenden Teil des Gottesvolkes, das unter einer besonderen und bleibenden Erwählung Gottes steht.

Das aber (wenn man das ernst nimmt) bedeutet, dass der oben erwähnte Begriff von „Mission“ auf Menschen jüdischer Herkunft nicht anwendbar ist. Wenn ein Mensch, der einer heidnischen Religion angehörte, Christ wird, muss er sich zuvor von den Göttern und Götzen, von den Geistern und Dämonen, denen er sich früher unterworfen hatte, lossagen. Ein Jude aber, der Jesus als Messias annimmt, muss dies nicht. Er muss sich eben nicht von seinem früheren Gott, dem Gott des Alten Testaments, lossagen. Denn eben dieser Gott ist es ja, der Jesus als Messias eingesetzt hat. Der Gott des Alten und des Neuen Testaments ist der Gleiche. Das bedeutet: Jüdische Menschen können Jesus-Gläubige werden, ohne ihr Judentum ablegen zu müssen.

Daraus folgt: Christen sollten jede Form von „Judenmission“ ablehnen, die darauf hinzielt, jüdische Menschen ihrem Jude-Sein zu entfremden, sie aus jüdischen Traditionen und aus der Gemeinschaft des Judentums herauszulösen, um sie zu Gliedern einer christlichen Kirche zu machen. Es gibt nur zwei Zeugen für die Königsherrschaft Gottes und seines Gesalbten: Die Juden und die Christen. Zwei Zeugen sind aber auch mindestens nötig, um nach den Aussagen der Bibel einen Tatbestand gültig zu bezeugen: Es soll kein einzelner Zeuge gegen jemanden auftreten (…), sondern durch zweier oder dreier Zeugen Mund soll eine Sache gültig sein (5.Mose 19,15). Wir müssen uns das ganz deutlich vor Augen führen: Wenn es gelänge, alle Juden so „missionieren“ und zu „bekehren“, dass sie ihres Jude-Seins entfremdet und der christlichen Kirche einverleibt würden, dann wäre einer der beiden Zeugen für die Macht und die Liebe Gottes (das Judentum) ausgelöscht und das Zeugnis von der Königsherrschaft Gottes und seines Messias in dieser Weltzeit nie mehr vollgültig zu geben.

Die Christen sollten aber gleichzeitig Bemühungen unterstützen, die dazu beitragen, dass jüdische Menschen Jesus von Nazareth als ihren jüdischen Bruder kennen lernen, ihn als Erfüllung ihrer jüdischen Messiashoffnungen erkennen, ja ihn als ihren Heiland und Erlöser wahrnehmen und annehmen und in Gemeinschaften jüdischen Messias-Glaubens ihre persönliche Jesusbeziehung innerhalb des Judentums und innerhalb der bleibenden Erwählung Israels leben können.

Dabei ist und bleibt die christliche Kirche mit allen ihren Konfessionen und Gliedern herausgefordert, ihr Leben, Reden und Handeln so am Vorbild und Wort Jesu auszurichten, dass sie selbst (die christliche Kirche) so weit christusgemäß wird, dass dadurch jüdische Menschen in Jesus von Nazareth das Antlitz ihres jüdischen Bruders Jeschuah erkennen und in ihm die Menschwerdung ihrer eigenen Messias-Hoffnungen entdecken können. Dieses Christuszeugnis ist die Christenheit dem Judentum durch die Jahrhunderte bis heute weitgehend schuldig geblieben.

3 Alter und neuer Antijudaismus

Der Begriff „Antisemitismus“ ist falsch. Der Hass der „Antisemiten“ wandte sich nie gegen die semitischen Völker oder Kulturkreise (zu denen z. B. auch die Araber gehören), sondern immer gegen das Judentum. Auch Adolf Hitler war kein Antisemit. Am 28.11.1941 empfing er Haj Amin al Husseini, Großmufti (also oberste islamische Autorität) von Jerusalem und glühender Judenhasser, Araber, also Semit (die Araber sind ein semitisches Volk und das Arabische ist eine semitische Sprache, dem Hebräischen relativ nahe verwandt) sehr freundschaftlich in seiner Reichskanzlei. Ihr Judenhass war ihre gemeinsame Basis; die semitische „Rasse” seines Gastes störte Hitler nicht (siehe das Thema „Hitlers Kampf“).

Auch der kirchliche „Antisemitismus“, der über Jahrhunderte immer wieder aufflammte, hatte nichts mit semitischer Rasse oder Kultur zu tun. Das Feindbild war das Judentum. Der Begriff „Antisemitismus“ dient eher der Verschleierung der religiösen Motive, indem er einen rassischen Angriffspunkt in den Vordergrund stellt.

Das Erschütternde am sogenannten „3. Reich“ in Deutschland ist nicht, dass ein vom Leben zuerst tief enttäuschter und dann maßlos emporgehobener Mensch, Adolf Hitler, solche wahnsinnigen Ideen vom Kampf als den Grundprinzip allen Lebens und vom Judentum als dem Feind alles Gutem entwickelte. So etwas kann es immer wieder geben. Das Erschütternde ist, dass Millionen von „normalen“ Bürgern, Männer und Frauen, ihm mit solch blinder Begeisterung folgten. Die Resonanz der Hitler’schen Ideologie im Denken, Empfinden und Handeln weiter Teile der deutschen Bevölkerung, das ist die eigentliche Tragödie dieser 12 Jahre von 1933 bis 1945. Es hat ja im Ausland immer wieder fassungsloses Erstaunen hervorgerufen, wie ein Mann, der es als Schüler nicht einmal zu einem ordentlichen Volksschulabschluss gebracht hatte, ein Möchtegern-Künstler, dessen Talent nicht einmal dazu reichte, überhaupt zu einer Kunstausbildung zugelassen zu werden, ein ehemaliger Obdachlosenasylinsasse und späterer Soldat, der es in den vier Jahren des Ersten Weltkrieges nicht über den Rang eines Gefreiten hinaus geschafft hatte, dann zum „Führer“ des deutschen Volkes werden konnte, dem Millionen von gebildeten, fähigen und einflussreichen Leuten (Künstler, Wissenschaftler, Generäle, Juristen, Ärzte, sogar manche Pfarrer und Bischöfe …) mit solcher Begeisterung und Bedingungslosigkeit folgten.

Auch die christlichen Kirchen haben in der geistigen Auseinandersetzung zwischen Gewaltideologie und Wort Gottes weitgehend versagt. Ihre Aufgabe wäre nicht der physische Widerstand gewesen aber um so mehr der geistige Kampf um die geistigen Grundlagen des Lebens und Handelns. Dieser „Kampf” hätte schon lange vor 1933, begonnen werden müssen (denn die wesentlichen geistigen Verirrungen und Fehlhaltungen gab es ja schon lange vorher) und er wurde auch dann nicht mit der nötigen Entschiedenheit geführt.

Anfangs hatten Hitler und seine führenden Leute noch die Erwartung, dass sie die Christen und die christlichen Kirchen ganz auf ihre Seite ziehen könnten, und sie waren dafür bereit, ihre widergöttliche Ideologie mit einem ganzen Kranz religiöser und pseudoreligiöser Worte und Handlungen zu schmücken. Sie hofften, dass die Christen bereit sein würden, um der Teilhabe an der Macht willen, die zentralen Inhalte ihres Glaubens aufzugeben, und anfangs hatten sie, das haben die christlichen Kirchen eingestanden und beklagt, große Erfolge damit. Die Angehörigen der großen christlichen Kirchen bildeten damals noch die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes, so konnte man sie nicht einfach „auslöschen” (wie das Judentum), aber man versuchte, sie gesellschaftlich zu korrumpieren und spirituell zu vereinnahmen. Am Ende des sogenannten Dritten Reiches aber wurde immer deutlicher, dass die Christenheit als Ganzes, und auch die Christenheit in Deutschland, ihnen nicht in letzter Konsequenz folgen würden. Und wir können an verschiedenen Aussagen von „Nazi-Größen“ mitverfolgen, wie auch der Hass auf die Christen und die Kirchen immer aggressiver wurde.

Man muss zunächst einmal die Schuttschichten von blankem Opportunismus und hohler Phrasendrescherei im sogenannten „Dritten Reich” wegräumen, bis der eigentliche Kern des Phänomens „Nationalsozialismus“ sichtbar wird: Es war die Ideologie der Stärke und des Kampfes, die weite Teile des deutschen Volkes zu einer Gemeinschaft von Anhängern und Mitläufern Hitlers machte: „Wir sind die von der Vorsehung auserwählte und zur Weltherrschaft berufene Herrenrasse, und diese Erwählung kann nur durch Stärke und Kampf verwirklicht werden”! Diese „Droge” führte das (nach dem verlorenen 1. Weltkrieg stark angeschlagene) nationale Selbstbewusstsein vieler Deutscher in einen Rauschzustand, der eine nüchterne Realitätswahrnehmung weitgehend ausschaltete. Der Nationalismus ist (überall auf der Welt, wo es ihn gibt) der Ausdruck einer übersteigerten kollektiven Egomanie.

Nicht nur Adolf Hitler selbst und seine engsten Mitarbeiter, sondern auch große Teile des deutschen Volkes waren bereit, sich die Vorstellungen vom „Kampf ums Dasein“ als normale und notwendige Form der Auseinandersetzung zwischen Völkern und Rassen zu eigen zu machen: Der Stärkste und Rücksichtsloseste in diesem Kampf siegt und herrscht und die Unterlegenen sind dazu verdammt, ihm als Sklaven zu dienen. Wir müssen im Rückblick mit Entsetzen feststellen, in welch furchtbarem Ausmaß es Hitler tatsächlich gelungen ist, die Mehrheit der Deutschen von dieser „Ethik der Stärke und des Kampfes” zu überzeugen und sie zu veranlassen, entsprechend zu handeln. Und wir müssen mit großer Sorge wahrnehmen, dass genau diese Einstellungen wieder Raum greifen in den Herzen und Hirnen vieler Menschen.

Aber darf man denn die heutigen Neo-Nazis oder gar die heutigen NPD-Wähler oder sonstige Sympathisanten (von denen einige gegenwärtig sogar im Deutschen Bundestag sitzen) in die Nähe der Nationalsozialisten des „Dritten Reiches“ rücken, tut man ihnen damit nicht Unrecht? Nein, man darf nicht nur, man muss es tun. Als unsere Eltern und Großeltern 1933 Hitler an die Macht wählten, wussten sie nicht, was daraus werden würde: Eine unbarmherzige Diktatur, der zweite Weltkrieg und der Holocaust. Die deutschen Wähler hätten 1933 zwar manches vorhersehen können (und müssen!), aber das, was dann wirklich geschah, hätte damals kaum einer für möglich gehalten. Sie hatten sich berauschen lassen von den Ideen der Stärke, der rassisch-völkischen Überlegenheit und Über-Macht und sie hatten dafür vieles hingenommen, ja gut geheißen, was sie eigentlich hätten ablehnen und verurteilen müssen. Trotzdem: Die ganze Konsequenz dessen, was sie da bejubelten, konnten sie noch nicht wissen.

Aber die heutigen Neo-Nazis und die heutigen NPD-Wähler (auch manche der AfD-Wähler) und die mehr oder weniger offenen Anhänger ihrer Ideologie, die wissen es (sie wissen es besser, als die meisten Menschen in Deutschland, die sich um geschichtliche Zusammenhänge wenig Gedanken machen) und sie handeln wissend, wenn sie dieses Gedankengut weiter verbreiten und unterstützen. Sie tun es, obwohl sie damit bewusst eine Geisteshaltung pflegen, die zum verlustreichsten Krieg und zum grausigsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte geführt hat.

Dieses Aufbrechen nationalistischer Emotionen und Gewalttaten ist deshalb heute viel erschreckender und schuldbeladener als damals. In einem freien Land leben und freiwillig ein verbrecherisches System befürworten, ist schlimmer, als in einer Diktatur (manchmal unter Zwang) falsch zu handeln. Man lebt in einem demokratischen Rechtsstaat und will alle Vorteile dieses Systems für sich nutzen. Gleichzeitig ist man der Mühe einer demokratischen Willensbildung leid und sehnt sich danach, wieder Teil einer absoluten Macht zu sein, die vorschreibt, was richtig oder falsch, gut oder böse sei. Man möchte schon heute dazugehören zu denen, die morgen (so hoffen sie) die Macht haben werden, alles zu bestimmen, auch das eigene Denken.

Man muss es den Juden in Deutschland und Europa heute sagen: Macht euch keine Illusionen, als ob der Ungeist der Vergangenheit bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen endgültig überwunden wäre und nur noch ein paar „Ewig-Gestrige” übriggeblieben wären. Nein, diejenigen, die jetzt antijüdische Parolen schreien, das sind nur die Fanatiker, die nicht davor zurückschrecken, ihren Hass zum Ausdruck zu bringen, obwohl es jetzt gar nicht opportun ist, das zu tun. Wenn aber eine Zeit käme, wo es wieder geduldet wäre, ja sogar erwünscht und von Vorteil wäre antijüdisch zu sein, dann würden doch wieder sehr viele mitmachen. Nicht alle, gewiss nicht, aber sehr, sehr viele.

Macht euch das bewusst: Viele Deutsche haben euch das bis heute nicht verziehen, dass euch, den Juden, im Namen des deutschen Volkes so viel Unrecht und Leid angetan worden ist. Sie nehmen es euch übel, dass sie vor dem eigenen Selbstbewusstsein und vor den Augen der Welt als Angehörige der Nation dastehen, die an euch das grausigste Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt hat. Sie schwanken zwischen Schuldgefühlen und Verdrängung und werfen euch insgeheim vor, daran Schuld zu sein, dass sie selbst kein unverkrampftes und positives Verhältnis zu ihrem eigenen Volk-Sein finden können.

Ja, gewiss, es ist eine neue Generation herangewachsen in Deutschland, eine Generation, die nicht unter der Gewalt der Diktatur ausgewachsen ist und nicht unter dem Einfluss einer allgegenwärtigen Indoktrination steht. Aber hat diese neue Generation auch eine neue Gesinnung entwickelt? Oder haben viele (gewiss nicht alle) nur die die alten antijüdischen Reflexe auf ein neues Feld verschoben?

Mit welcher Lust wird in Deutschland und Europa, gerade auch von Intellektuellen, alles herbeigezerrt und aufgebauscht, was irgendwie den Staat Israel und die Israelis in einem schlechten Licht dastehen lässt. Und man schaut ganz bewusst nicht genau hin, ob es denn wirklich wahr ist (oder bloße Propagandalüge), was da in den Medien verbreitet und den Israelis (natürlich nur den jüdischen) vorgeworfen wird. Man sagt nicht mehr „Die Juden sind an allem schuld”, man sagt: „Israel ist die größte Gefahr für den Weltfrieden” und meint damit eigentlich das Selbe. Und die Realitäten der Gegenwart, die Israel eher wie eine Insel des Friedens aussehen lassen im Meer islamisch-extremistischer Terror- Kriege, können an dieser Einstellung gar nichts ändern. Wie sehr liebt man die Palästinenser dafür, dass ihre (wirklichen oder angeblichen) Leiden uns in Deutschland und Europa das Recht geben, nun endlich auch einmal die Juden als die Bösen und unmenschlich Handelnden anklagen zu dürfen, auch wenn viele Vorwürfe gegen Israel und die Israelis von heute genau so gelogen sind, wie damals die „Protokolle der Weisen von Zion”.

Macht euch keine Illusionen: Noch ist eine wirkliche Gesinnungsänderung, die den alten Antijudaismus wirklich überwindet, nur bei relativ wenigen in Gang gekommen.

Der alte und der neue Antijudaismus hat seine Wurzeln in der „Feindschaft im Hause Gottes“, aber er wirft seinen Schatten längst weit darüber hinaus in viele Bereiche, die nichts mehr damit zu tun haben. Überwunden kann er aber nur dann werden, wenn endlich diese Wurzeln der Feindschaft gerodet sind.

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© 2011 Bodo Fiebig Gegenwärtige Spannungsfelder“, Version 2018-2

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