Zwischen Juden und Christen gibt es eine lange Geschichte der Schuld, die anfangs gegenseitig war und die dann auf der Seite der Christen immer schwerer wog, je mächtiger sich das Christentum ausbreitete und je mehr es sich mit den Machtinstrumenten der Welt ausstattete. Es begann eine schier endlose Leidensfolge in der Geschichte des über die ganze Erde verstreuten Volkes der Juden, bei der Menschen, die sich Christen nannten, oft genug die Rolle der Unterdrücker, Verfolger und Mörder spielten. Der grauenhafte Höhepunkt (eigentlich: der Tiefstpunkt) dieser Entwicklung war die Vernichtung des Judentums in Deutschland und Europa zur Zeit des sogenannten „Dritten Reiches“ in Deutschland.
Gleichzeitig mit der Zerstreuung des Judentums begann aber auch die Zeit der christlichen Gemeinde und der Mission. Es war und ist die Zeit der Aussaat des Evangeliums in den harten, dornigen, felsigen und doch auch fruchtbaren Acker der Menschheit. Die Zeit der Aussaat dauert schon fast 2000 Jahre. Zwar gibt es immer noch Volksstämme auf der Erde, die von der Botschaft des Evangeliums kaum erreicht wurden, und die Mission unter den Völkern muss noch weitergehen, aber die Zeit der Aussaat neigt sich dem Ende zu.
Weitgehend unbeachtet von der Christenheit blieb dabei, dass noch ein zweiter Same ausgestreut wurde: Das Volk Israel. Gleichzeitig mit der beginnenden Weltmission zur Zeit der ersten Apostel begann auch die Zerstreuung des jüdischen Volkes über alle Länder der Erde. Und was uns noch viel weniger bewusst ist: Auch das war Aussaat Gottes. Die Verheißung Gottes an Abraham (…durch dich sollen gesegnet werden alle Völker auf Erden (1. Mose 12,3) wurde nicht nur durch die christliche Mission verwirklicht, sondern auch durch die Zerstreuung der Juden.
Überall, wo in den vergangenen zwei Jahrtausenden Juden hinkamen und lebten, wurden sie zum Segen für die Völker, die sie aufnahmen (und zum Fluch für diejenigen, die sie misshandelten und vertrieben). Wir können bei Weitem nicht ermessen, welche Ströme des Segens durch die Anwesenheit jüdischer Gemeinden in die sie umgebenden Völker geflossen sind, vor allem durch ihr unablässiges Gebet und ihre alle Anfechtungen überstehende Treue zum Gebot Gottes.
Während die Völker der Welt durch Israel gesegnet wurden (mit der Ausbreitung des biblischen Ein-Gott-Glaubens über die ganze Erde durch die christliche Mission ebenso wie durch die Anwesenheit von jüdischen Gemeinden in allen Nationen), wurde gleichzeitig Israel durch die Völker der Welt verfolgt, verurteilt, verdammt, verbannt, vergast, verbrannt – Holocaust ohne Ende – bis heute. Eine Überwindung der Trennung zwischen Juden und Christen ist nur möglich, wenn die Christen miteinander und in Einheit diese ihre Schuld bekennen und bereuen.
Nach der Zerstreuung ist gemäß den Verheißungen Gottes eine Zeit der Sammlung vorgesehen. In vielen Verheißungen des Alten Testamentes und in mehreren Gleichnissen Jesu wird uns gesagt, dass nach der Zeit der Aussaat eine Zeit des Einbringens der Früchte, eine Zeit der Sammlung und Ernte kommen soll. Hier wird nur je ein Beispiel aus dem Alten und Neuen Testament angeführt. Jes 45, 5+6: So fürchte dich nun nicht (Israel), denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten her deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter von den Enden der Erde.
Mt 13,24-26+30: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut (…) Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut; (…) aber den Weizen sammelt mir in meine Scheunen. Der Weizen ist ein Bild für das Volk Gottes. Dieses soll gesammelt und in die „Scheunen“ Gottes gebracht werden (die „Scheunen“ sind hier ein Sinnbild für einen Ort der Sammlung, Bewahrung und Gemeinschaft bei Gott). Unsere gegenwärtige heilsgeschichtliche Situation kann man bezeichnen als Zeit der Zerstreuung, die sich dem Ende zuneigt und sich überschneidet mit der beginnenden und schon begonnenen Zeit der Sammlung. Diese Sammlung des Gottesvolkes geschieht in drei verschiedenen, aber sich ergänzenden Bewegungen:
-
Die Sammlung des Volkes Israel in seinem verheißenen Lande
-
Die Sammlung der Christenheit zur Einheit der Kirche Jesu Christi in allen Konfessionen und zur Gemeinschaft aller Jesus-Gläubigen einschließlich der messianischen Juden
-
Die Sammlung aller biblisch gläubigen Christen und Juden zur Einheit des Gottesvolkes Alten und Neuen Testaments
Diese Sammlung zur Einheit geschieht, um durch das voranzubringen, was Gott von Anfang an gewollt und verheißen hat, nämlich, dass durch sie alle Völker und Stämme der Menschheit gesegnet werden. Dabei stehen das deutsche Volk (und besonders die christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland) vor einer besonderen Herausforderung: Sie, die wie kein anderes Volk Leid und Tod über die Juden gebracht haben, sollen nun zum sichtbaren Zeichen dieser Einheit des alt- und neutestamentlichen Gottesvolkes werden vor den Augen der Welt. Dabei können sich das deutsche Volk und die Christenheit in Deutschland von niemand anderem vertreten lassen, denn das besondere Zeichen unserer Zeit besteht ja darin, dass genau diejenigen, die Israel gehasst haben wie niemand sonst, nun Israel lieben wie niemand sonst. Und dieses Zeichen kann nur dann wahrgenommen und wirksam werden, wenn es nicht eine gefühlige Israel-Liebe bleibt, sondern zum handfesten Handeln und unbeirrten Eintreten für Israel wird in den realen Gegebenheiten und Vorgängen unserer realen Welt und Zeit.
.
Bodo Fiebig Die gegenwärtige heilsgeschichtliche Situation, Version 2023-6
© 2011 Herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
Vervielfältigung, auch auszugsweise, Übersetzung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und jede Form von kommerzieller Verwertung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers