Die vier kanonischen Evangelien, die wir unter den Namen Matthäus, Markus, Lukas und Johannes kennen*, entstanden im Lebens- und Wirkungsbereich der nachösterlichen christlichen Gemeinde als Zusammenstellung von Überlieferungen über das Leben und die Botschaft Jesu. Sie enthalten also das, was von diesen Überlieferungen in den Lebensvollzügen, in schriftlichen Dokumenten und im kollektiven Gedächtnis der nachösterlichen Christenheit (mit örtlich verschiedenen Schwerpunkten) als das besonders Bedeutsame und unbedingt Weiterzugebende gegenwärtig und erhalten geblieben war. Man hatte ja nicht alles, was Jesus tat und sagte, aufschreiben können.
* Neben ihnen existiert eine Reihe von apokryphen Evangelien, die in den Kanon der Schriften des NT nicht aufgenommen wurden und auf die in diesem Zusammenhang (mit einer Ausnahme, siehe Abschnitt 2 „Sammlung von Jesus-Worten“) nicht näher eingegangen wird.
Die genaue Datierung für die Abfassung der Evangelien ist umstritten, doch selbst dann, wenn sie erst etliche Jahrzehnte nach dem Kreuzestod und der Auferstehung Jesu entstanden sind, so kann man doch mit Sicherheit davon ausgehen, dass ihre Verfasser sie nicht als frei erfundene fromme Betrachtungen und Erzählungen geschrieben haben, sondern dass sie dabei auf schon vorhandene mündliche und schriftliche Überlieferungen zurückgreifen konnten. Zwischen den Ereignissen zu Lebzeiten Jesu und der Niederschrift der Evangelien lag ja kein leerer Abstand, in dem Wesentliches hätte in Vergessenheit geraten können, sondern die mit spiritueller Hochspannung erfüllte Anfangszeit der ersten Christen-Gemeinden, für die diese Überlieferungen von zentraler Bedeutung waren. Selbst wenn Jahrzehnte dazwischen lagen, so waren die ausgefüllt mit dem lebendigen Umgang mit eben dieser Überlieferung. Und dieser Umgang war bestimmt durch eine hohe Verehrung der Worte, in denen der eigene Glaube und das eigene Gemeindeleben begründet waren. Wenn wir also etwas über das wirkliche Leben und Reden Jesu und seiner engsten Anhänger wissen wollen, so kann es keine besseren Quellen geben als die Evangelien, Berichte und Briefe des NT. Es gibt keine heute noch verfügbaren (schriftlichen) Zeugen, die an den Ereignissen räumlich, zeitlich und existenziell „näher dran“ gewesen wären als sie. In ihnen redete die beginnende Kirche von Jesus als von dem, der die Bewegung begründet hatte, aus der heraus sie selbst entstanden war. Die christlichen Gemeinden konnten das authentisch und glaubwürdig tun, weil unter ihnen noch genügend Gewährsleute lebten (insbesondere die von Jesus selbst berufenen und bevollmächtigten Jünger und Apostel), die solche Überlieferung noch auf eigenes Hören und Erleben stützen konnten. Die Identität der Personen bestätigt die Kontinuität ihres Zeugnisses.
Wie können wir uns den Vorgang der Textüberlieferung konkret vorstellen? Und in welchen zeitlichen Rahmen sollen wir sie einordnen? Meist nimmt man einen mehrere Jahrzehnte umfassenden Abstand zwischen dem Leben Jesu und der Entstehung der Evangelien an. Das mag so sein, aber das kann sich allenfalls auf die heute vorliegende Form und Zusammenstellung der Evangelien beziehen, nicht auf deren Inhalte. Die Evangelien wurden ja nicht wie ein moderner Roman geschrieben, wo ein Autor sich an den Schreibtisch setzt und aus seiner Fantasie eine Geschichte entwickelt. Der Evangelist Lukas betont ausdrücklich, dass er „alles von Anfang an sorgfältig erkundet“ hat, um es „in guter Ordnung“ aufzuschreiben (Lk 1,3). Lukas stellt sich also selbst dar als Redakteur und Herausgeber, der das vorhandene Material, das von jenen stammt, die es „von Angang an selbst gesehen haben“ (Lk 1,2), gesammelt und gesichtet hat, um es in einem zusammenhängenden Bericht darzustellen.
Wir können also davon ausgehen, dass es zu der Zeit, als Lukas sein Evangelium zusammenstellte, schon in Schriftform dargestellte Inhalte der Evangelien gab (z. B. besonders markante Jesus-Worte oder besonders eindrückliche Gleichnisse und Erzählungen oder besonders wichtige Ereignisse oder Handlungen) die wesentlich älter waren, ja die im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang des Geschehens entstanden waren, von dem sie berichten.
Dass eine solche Aussage bei manchen auf heftigen Widerspruch stößt, ist selbst schon Indiz für ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Überlieferungsgeschichte der Evangelien, auch da, wo das sachlich gar nicht begründet ist. Dabei ist es doch (heute wie vor zweitausend Jahren) ganz selbstverständlich, dass schriftliche Notizen einzelner Inhalte, die (wie in den Evangelien) von verschiedenen Zeitzeugen verschieden überliefert wurden, zeitlich deutlich näher an den geschilderten Ereignissen entstanden sind, als spätere zusammenfassende Darstellungen dieser Ereignisse. Das ähnlich wie bei den Zeugenbefragungen der Polizei bei einem (heutigen) Unfall: Die sind auch näher dran an den Ereignissen, als ein späterer zusammenfassender Presebericht.
Sollte es wirklich so undenkbar sein, dass einzelne Worte Jesu schon zu seinen Lebzeiten, ja sogar unmittelbar während oder nach seiner Rede aufgeschrieben wurden? Ist es wirklich unvorstellbar, dass Anhänger eines jüdischen Rabbis der Antike, die es gewöhnt waren, ganze Passagen von Vorträgen ihrer Meister auswendig im Gedächtnis zu behalten, anschließend etwas davon aufgeschrieben haben? Im pharisäisch-rabbinischen Judentum zur Zeit Jesu war das eine Selbstverständlichkeit. Die beiden großen jüdischen Gelehrten aus der Generation vor Jesus, Hillel und Schammai, und ihre bedeutendsten Schüler werden im Talmud vielfach wörtlich zitiert, und auch das waren keine späteren Erfindungen. Der Talmud wurde zwar erst im 5. bis 7. Jahrhundert n. Chr. In seiner heutigen Form zusammengestellt, das Material dafür ist aber viel älter.
Schon zur Zeit Jesu gab es offensichtlich umfangreiche Sammlungen von schriftlich fixierten Lehraussagen verschiedener Autoritäten, die diskutiert, miteinander verglichen und immer neu ergänzt wurden (wie es ja im Judentum bis heute geschieht). Jesus selbst zitiert manchmal aus solchen Texten, z. B. Mt 5, 43: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen“ Der Zusatz „… und deinen Feind hassen“ steht nicht im Alten Testament. Er stammt ganz offensichtlich aus einer solchen Sammlung von Lehrmeinungen pharisäischer Autoritäten, die damals so allgemein bekannt waren, dass Jesus nur auf sie hinzuweisen brauchte: „Ihr habt gehört, dass …“. Und solche Lehrmei-nungen und Diskussionsbeiträge wurden nicht erst Jahrzehnte nach dem Tod eines Rabbis aufgeschrieben, sondern unmittelbar im zeitlichen Zusammenhang seiner Rede. Seine Schüler (Jünger) waren darauf trainiert, sich die wichtigsten Inhalte aus den Lehrvorträgen ihrer Rabbis wörtlich zu merken und manches davon anschließend aufzuschreiben.
Ebenso zeigen die Textfunde von Qumran am Toten Meer, die aus dem ersten und zweiten Jahrhundert v. Chr. stammen, dass es innerhalb einer religiös motivierten Gruppe dieser Zeit selbstverständlich war, wichtige Lehren, Regeln, Predigten, Auslegungen zu biblischen Texten usw. schriftlich festzuhalten, diese Schriften zu sammeln und als kostbarsten Besitz ihrer Gemeinschaft aufzubewahren. Für die Qumran-Gruppe jedenfalls waren ihre Schriftrollen so wichtig und wertvoll, dass sie diese vor den heranrückenden römischen Legionen auf sehr mühsame und fantasievolle Weise in Sicherheit brachten. Sollten ausgerechnet die Anhänger des Jesus von Nazareth die Botschaft ihres „Meisters“ als so belanglos empfunden haben, dass sie es nicht für nötig hielten, etwas davon aufzuschreiben und aufzubewahren? Wenn das so gewesen wäre, dann hätten sie gewiss nicht wenig später ihr Leben riskiert, um eben diese Botschaft weiterzugeben.
Dass es auch unter den Jesus-Anhängern üblich war, Ereignisse und Reden zeitnah schriftlich festzuhalten, zeigen z. B. die Reiseberichte innerhalb der Apostelgeschichte des Lukas. Auch hier gab es offensichtlich schriftliche Vorlagen und Augenzeugenberichte (zum Teil in sehr persönlicher Wir-Form), die dann später von Lukas zusammengestellt wurden.
Es gibt keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass die Inhalte der Evangelien auf späteren Gemeindebildungen beruhen, die mit dem tatsächlichen Leben und Reden Jesu kaum mehr etwas zu tun hätten. Die inhaltlichen Vorlagen für die Zusammenstellung der Evangelien entstanden im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen, von denen sie berichten. Dies gilt ganz besonders für die in den Evangelien überlieferten Worte Jesu. Sie stehen am Anfang der Jesus – Überlieferung.
1 Am Anfang war das Wort
Die Jesus-Botschaft ist zunächst und vor allem gesprochenes, nicht geschriebenes Wort. Sie ist Rede, nicht schriftliche Ausarbeitung. Sie ist Predigt und Lehrvortrag auf den Bergen Galiläas oder am Ufer des Sees Genezareth, Auslegung und Deutung im Dialog mit Interessierten und Gegnern, und Vertiefung auf langen Wanderungen oder bei der Rast am Brunnen, intimes Gespräch im Verborgenen oder öffentliche Auseinandersetzung auf den Straßen und Plätzen der Städte. Heute haben wir die Botschaft Jesu nur noch als geschriebene Worte der vier Evangelisten vor uns, und auch die nur in griechischer Übersetzung. Können wir darin etwas von dem gesprochenen Wort Jesu wiederfinden oder haben wir da vor allem die Gedanken und Überzeugungen späterer Autoren vor uns, die aus dem Abstand von Jahrzehnten, eher die Ereignisse dieser Zwischen-Zeit reflektieren, als dass sie die ursprüngliche Rede Jesu wiedergeben?
Sehen wir uns dazu ein kleines Beispiel der überlieferten Rede Jesu an. Es handelt sich nur um einen kurzen Ausspruch, bestehend aus vier Wörtern (im griechischen Text sind es nur zwei Wörter), in einer besonderen Situation gesprochen. Ich zitiere die gleiche Stelle bei allen drei Synoptikern und verwende dabei die Elberfelder Übersetzung, die als besonders urtextnah gilt.
Mt 8, 1-3: Als er aber von dem Berg herabgestiegen war, folgten ihm große Volksmengen. Und siehe, ein Aussätziger kam heran, und warf sich vor ihm nieder und sprach: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen“. Und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: „Ich will, sei gereinigt!“ Und sogleich wurde der Aussatz gereinigt.
MK 1, 40-42: Und es kommt ein Aussätziger zu ihm, bittet ihn und kniet nieder und spricht zu ihm: „Wenn du willst, kannst du mich reinigen“. Und er war innerlich bewegt und streckte seine Hand aus, rührte in an und spricht zu ihm: „Ich will. Sei gereinigt!“ Und sogleich wich der Aussatz von ihm und er war gereinigt.
Lk 5, 12-13: Und es geschah, als er in einer der Städte war, siehe, da war ein Mann voller Aussatz; und als er Jesus sah, fiel er auf sein Angesicht und bat ihn und sprach: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen“. Und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach: „Ich will. Sei gereinigt“. Und sogleich wich der Aussatz von ihm.
Wir sehen: Die wörtliche Rede Jesu wird hier von den drei Evangelisten genau gleichlautend wiedergegeben, während es bei der Beschreibung der Situation zu Differenzen kommt. Einmal kommt Jesus von einem Berg herab, einmal ist er in einer Stadt, und einmal wird der Ort des Ereignisses gar nicht erwähnt. Einmal kniet der Aussätzige, einmal wirft er sich vor Jesus nieder und einmal fällt er auf sein Angesicht.
Die Szene wird also mit verschiedenen Worten beschrieben, während die Rede Jesu absolut identisch wiedergegeben wird. Wenn man nun davon ausgeht, dass die drei Berichte erst Jahre nachdem Vorfall so zusammengestellt wurden, wie wir sie jetzt vorfinden, dann ergibt sich ein erkennbarer Ablauf für ihre Entstehung: Das, was bei allen drei Berichten genau gleichlautend überliefert ist, die Rede Jesu, muss sehr zeitnah am Ereignis, wahrscheinlich sogar unmittelbar dabei oder danach aufgeschrieben worden sein, sonst stünde sie nicht Jahre später genau gleichlautend zur Verfügung. Es ist unmöglich, dass drei verschiedene Autoren nach jahrzehntelanger und ausschließlich mündlicher Überlieferung einen Text genau gleichlautend wiedergeben, auch wenn man berücksichtigt, dass man damals gewöhnt war, Gehörtes für einige Zeit auswendig im Gedächtnis zu behalten. Und wenn Matthäus und Lukas von Markus „abgeschrieben“ hätten, dann hätten sie auch die Rahmenhandlung gleichlautend wiedergegeben. Nur durch eine sehr frühe Verschriftlichung der Jesus-Worte konnten diese als unveränderlicher Kern aller drei Berichte erhalten bleiben. Alles Übrige beruht dann auf mündlichen Erzählungen von Zeitzeugen, deren Wahrnehmung und Erinnerung die Vorgänge zwar mit verschiedenen Nuancen versehen, aber doch sachlich übereinstimmend bewahrt haben. (Diese Aussagen ließen sich durchaus auch harmonisieren: Jesus kommt von einem Berg in die Stadt. Dort kommt ein Aussätziger auf ihn zu, fällt auf die Knie und beugt sich noch weiter vor ihm, bis sein Gesicht die Erde berührt.)
Nach diesem eher „harmlosen“ Text soll nun ein Beispiel angeführt werden, wo Jesus selbst eine Aussage als Zentrum der ganzen biblischen Botschaft bezeichnet (Elberfelder Übers): Mt 22, 34-40: Als aber die Pharisäer hörten, dass er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich miteinander. Und es fragte einer von ihnen, ein Gesetzesgelehrter, und versuchte ihn und sprach: Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz? Er aber sprach zu ihm: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.“ Dies ist das größte und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Mk 12, 28-31: Und einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander stritten, trat hinzu, und da er wusste, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: „Welches Gebot ist das erste von allen?“ Jesus antwortete ihm: Das erste ist: „Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein Herr; und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft!“ Das zweite ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Größer als diese ist kein anderes Gebot. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: „Recht, Lehrer, du hast nach der Wahrheit geredet …“
Lk 10, 25-28: Und siehe, ein Gesetzesgelehrter stand auf und versuchte ihn und sprach: „Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu erben?“ Er aber sprach zu ihm: „Was steht in dem Gesetz geschrieben? Wie liest du?“ Er (der Gesetzeslehrer) aber antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Er (Jesus) sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu dies, und du wirst leben.
Hier ist die Situation komplizierter: An der „anstößigen“ Botschaft Jesu entzündet sich gleichzeitig der Konflikt zwischen den damals mächtigsten Parteien im Judentum, den Pharisäern und den Sadduzäern. Die Ausgangslage für die Äußerung Jesu erscheint in schillerndem Licht: Bei Matthäus merken die Pharisäer, dass Jesus ihren „Intimfeinden“ klug widersprochen hatte, und wollen die Gelegenheit nutzen, um auch Jesus selbst (vorläufig nur theologisch) in die Enge zu treiben. Bei Markus fragt ein Schriftgelehrter, der Jesus (zunächst innerlich und dann auch ausdrücklich) zustimmt. Bei Lukas sagt Jesus den entscheidenden Satz gar nicht selbst, sondern er bewirkt nur mit einer geschickten Rückfrage, dass sein Gegenüber selbst die richtige Antwort auf seine eigene Frage findet.
Trotzdem können wir auch an diesem Beispiel feststellen: Der Inhalt der Rede Jesu, nämlich die Zusammenstellung und Herausstellung der beiden Verse aus dem Alten Testament (5. Mose 6,5 und 3. Mose 19,18) als innerste Mitte und höchste Verdichtung des ganzen Wortes Gottes, bleibt in allen drei Versionen der Gleiche. Unterschiedlich ist nur, wie ausführlich die beiden Verse zitiert werden und wer sie zitiert. Diese Varianten sind aber leicht erklärbar als Ergebnis unterschiedlicher redaktioneller Vorgehensweise der Evangelisten, die zwar die Rede Jesu als schriftliche Überlieferung vor sich hatten, die situative Einbettung der Rede aber aus mündlicher Überlieferung zusammenstellen mussten.
Als drittes Beispiel nehmen wir die bekanntesten Worte, die Jesus gesprochen hat: das Vater-Unser. Es ist zweimal überliefert, bei Matthäus und bei Lukas (Elberfelder Übers.).
Mt 6, 9-13: Betet ihr nun so: Unser Vater, der (du bist) in den Himmeln, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden! Unser tägliches Brot gib uns heute; und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben; und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen.
Lk 11,1-4: Und es geschah, als er an einem Ort war und betete, da sprach, als er aufhörte, einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte! Er sprach aber zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; unser nötiges Brot gib uns täglich; und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir selbst vergeben jedem, der uns schuldig ist; und führe uns nicht in Versuchung.
Hier haben wir zwei Varianten der Rede Jesu vor uns, die sich sowohl in der Ausführlichkeit als auch in der Wortwahl unterscheiden (auf die situative Einbettung der Texte möchte ich hier nicht eingehen). Wenn wir uns diese Unterschiede genauer ansehen, merken wir, dass Lukas nur einen Ausschnitt des Matthäus-Textes bringt und außerdem geringfügige Abweichungen des Textes bei der Brot-Bitte und der Bitte um Vergebung vorhanden sind.
Diese Unterschiede sind dann am schlüssigsten zu erklären, wenn wird davon ausgehen, dass diese Sequenz unabhängig von zwei verschiedenen „Protokollanten“ aufgeschrieben wurde. Einer, der in der Lage war, ganze Redeteile wörtlich mitzuschreiben, und ein anderer, der sich nur kurze Redeausschnitte notierte. Einige der Differenzen im Wortlaut entstanden wohl erst bei der Übersetzung der Reden-Texte ins Griechische (vgl. Beitrag 2 „Die Sprache der Evangelien“). Einem unvoreingenommenen Betrachter muss es völlig selbstverständlich erscheinen, dass verschiedene Zuhörer der Predigt Jesu, von denen ja viele lesen und schreiben konnten, unabhängig voneinander einzelne Aussprüche, z. B. besonders eindrückliche Lehrsätze und Gleichnisse sofort schriftlich festgehalten haben, oder sie wörtlich im Gedächtnis behielten, um sie möglichst noch am gleichen Tag aufzuschreiben (so machten es die Schüler anderer Rabbis auch). So entstanden eine ausführlichere und eine knappere Version des Gebets, von denen Matthäus nur die längere und Lukas nur die Kürzere zur Verfügung stand.
Zusammenfassend können wir also feststellen, dass wir erstens Teile der Rede Jesu vor uns haben, die offenbar sehr zeitnah am Geschehen wörtlich aufgeschrieben wurden und zu denen man später den situativen Zusammenhang aus der mündlichen Überlieferung hinzufügte.
Zweitens finden wir Ausschnitte der Rede Jesu vor, wo bei der redaktionellen Zusammenstellung von Rede und Situation die Wiedergabe der Rede auf die jeweils dargestellte Situation bezogen wurde, ohne sie dabei inhaltlich zu verändern.
Drittens haben wir Texte vorliegen, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie von mehreren Ohrenzeugen der Rede Jesu unabhängig voneinander aufgeschrieben wurden und sie sich deshalb in der Ausführlichkeit der Darstellung und durch die Betonung bestimmter Anliegen unterscheiden.
Diese unmittelbaren Textzeugen aus der jeweils aktuellen Predigt Jesu sind die Grundlage unserer heute vorliegenden Evangelien. Dabei ist es selbstverständlich, dass diejenigen, die Teile der Reden Jesu aufgeschrieben haben, nicht immer ganze Predigten mitschreiben konnten, sondern jeweils nur das festgehalten haben, was ihnen besonders wichtig erschien, und da setzte jeder Schreiber seinen persönlichen Schwerpunkt. Aber alle diese Notizen waren authentische Wiedergabe der tatsächlichen Rede Jesu.
Wir können davon ausgehen, dass es relativ bald nach den Oster- und Pfingstereignissen mehrere kleine Sammlungen von Jesus-Worten gab. Diese Sammlungen von Jesus-Worten (und später auch Jesus-Geschichten) sind ganz sicher nicht am Schreibtisch von einfallsreichen Phantasten entstanden, sondern aus schriftlich und mündlich überlieferten Quellen hervorgegangen. Wobei wir davon ausgehen können, dass die Worte Jesu meist sofort schriftlich festgehalten und überliefert wurden, die Ereignisse und Taten zunächst eher mündlich. So machen wir es ja heute auch: Wenn wir einem Vortrag hören, der uns bewegt und fasziniert, dann machen wir uns dabei oder unmittelbar danach Notizen, in denen wir Passagen des Vortrags möglichst wörtlich wiedergeben. Die Ereignisse darum herum erzählen wir zunächst eher mündlich weiter.
Nun waren Papyrusblätter, auf denen man solche Notizen machen konnte, damals eine vergleichsweise kostspielige Sache und man hätte sich davor gehütet, bedenkenlos Mengen an vollgekritzeltem Papyrus zu produzieren. Trotzdem können wir davon ausgehen, dass es einzelnen unter den Zuhörern wert war, sich Worte Jesu unmittelbar und wort- wörtlich aufzuschreiben. Es gab ja unter seinen Zuhörern viele, die des Schreibens kundig waren und sogar einige, die eine Art „Kurzschrift“ beherrschten, mit der man gesprochene Sätze direkt mitschreiben konnte. Matthäus/Levi z. B., der Jünger und spätere Apostel, der vor seiner Berufung durch Jesus Zolleinnehmer gewesen war, musste in seinem früheren Beruf häufig diese Kurzschrift gebrauchen; sollte er sie wirklich nur für Steuerlisten verwendet haben und nicht auch, um Gleichnisse und Lehrsätze Jesu wörtlich mitzuschreiben?
Das im Neuen Testament mit „Jünger“ übersetzte Wort heißt in der Sprache Jesu „Talmidim“ (Lernende, Schüler; dabei ist weniger an kleine Kinder zu denken als an studierende Jugendliche und Erwachsene). Pharisäische Lehrer zur Zeit Jesu hatten entweder ein festes Lehrhaus wie z. B. Rabbi Gamaliel, bei dem Paulus studierte, oder waren als Wanderrabbis mit ihren Schülern unterwegs. Solche Talmidim waren durch jahrelange Übung darauf trainiert, sich ganze Passagen der Lehrvorträge ihrer „Meister“ wörtlich auswendig zu merken, sie anschließend im Gespräch zu vertiefen und schließlich die wichtigsten Merksätze aufzuschreiben. So machten es die „Jünger“, die mit Jesus gingen, auch.
Diese einzelnen Notizen und Mitschriften bekamen nach dem Tod und der Auferstehung Jesu plötzlich eine ganz neue Bedeutung und für die ersten Christen einen unschätzbaren Wert. So wurden sie jetzt in den verschiedenen Gemeinden des frühen Christentums um so sorgsamer gesammelt und aufbewahrt, auf Pergament abgeschrieben, zum Teil auch schon durch immer wieder erneutes (und sehr sorgfältiges) Abschreiben vervielfältigt, vielleicht auch schon in die jeweilige Umgangssprache übersetzt.
Die Worte Jesu in den Evangelien enthalten nichts anderes, als das, was die Zuhörer Jesu im unmittelbar zeitlichen Zusammenhang von der Predigt Jesu aufgeschrieben hatten und was in den verschiedenen Gemeinden durch die Botschaft der Apostel und der übrigen Zeugen von der Rede Jesu gegenwärtig und wirksam geblieben war. In den Evangelien ist die Rede Jesu unverfälscht und weitgehend im „Urzustand“ enthalten (wenngleich bei der Übersetzung in andere Sprachen Ungenauigkeiten entstehen konnten, die oft daher stammten, dass die Übersetzer die ursprüngliche Bedeutung von jüdischen Sprachbildern und hebräischen Redewendungen, die Jesus verwendet hatte, nicht mehr richtig zu deuten wussten).
2 Sammlung von Jesus-Worten
Der zeitliche Abstand zwischen dem Leben Jesu und der Entstehung der Evangelien war auf jeden Fall kürzer als ein Menschenalter. Klaus Berger z. B. datiert die Entstehungszeit des Johannes-Evangeliums (das gewöhnlich als das späteste angesehen wird) auf die Jahre 68/69 nach Chr., (siehe „Das Neue Testament und frühchristliche Schriften“, Ausgabe 2005). Die Begründung für spätere Datierungen waren meist Hinweise in den Evangelien auf datierbare Ereignisse (z. B. die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr.). Man ging dabei davon aus, dass es keine vorausschauende Prophetie geben könne und deshalb diese Texte erst nach den Ereignissen entstanden sein könnten.
Wenn man so eine frühe Entstehungszeit annimmt, bedeutet das, dass viele Zeitzeugen der Ereignisse noch am Leben waren, als die Evangelien in der uns heute vorliegenden Form entstanden, so konnten die noch lebenden Zeugen die fertigen Evangelien mit ihren eigenen Erinnerungen vergleichen. Legendenbildungen, die, von späteren theologischen Absichten geleitet, eine Verfälschung der Überlieferung hätten bewirken können (wie oft unterstellt wird), entstehen aber normalerweise erst in späteren Generationen, die bei der Betrachtung der „Ursprünge“ nicht mehr auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können. Zu dieser Zeit waren die Evangelien aber schon fixiert und als „heilige Texte“ (siehe unten) unantastbar.
So gab es keinen zeitlichen „Graben“ und keinen inhaltlichen Bruch zwischen dem Leben Jesu und der Jesusüberlieferung. Die Evangelien selbst sind die uns überlieferte Klammer zwischen der vorösterlichen Jüngergemeinschaft und der nachösterlichen Urchristenheit, und sie sind die stabile Brücke über dem Graben einer zweitausendjährigen Geschichte, denn sie entstanden in der Gegenwart der Apostel und Zeugen (wie weit direkt durch sie selbst oder unter ihren Augen, ist nicht so entscheidend).
Die Überlieferungsgeschichte von alten Texten zeigt, dass Aussagen von Personen, die von einer bestimmten Gruppe von Menschen hoch verehrt, ja für „heilig“ angesehen wurden, dann nicht mehr verändert wurden, wenn sie einmal schriftlich fixiert waren. Solche Texte waren dann selbst heilig und unantastbar. Die in Qumran gefundenen Jesaja-Rollen z. B. sind ca. tausend(!) Jahre älter als die ältesten Textvorlagen, die man bis zur Entdeckung der Qumran-Texte zur Verfügung hatte. Trotz dieser unglaublich langen Zeit, in der dieser Text immer wieder abgeschrieben und vom Abgeschriebenen wieder abgeschrieben wurde, zeigt der Vergleich, dass bis auf einige unwesentliche Schreibfehler der Wortlaut unverändert überliefert wurde. Das gilt selbstverständlich auch für die Texte, die wir als Evangelien kennen. Nachdem sie einmal fertig zusammengestellt waren, wurden sie mit großer Treue und Genauigkeit weitergegeben. Selbst wenn es spätere Entwicklungen gab, wo sich unter veränderten Umweltbedingungen veränderte Sichtweisen und Einstellungen ergaben, so wirkten die sich zwar auf die Interpretation der Texte aus, nirgendwo aber ist eine Tendenz erkennbar, die dazu geneigt hätte, die Texte selbst anzutasten und zu verfälschen. Die Textüberlieferung der ältesten uns vorliegenden Evangeliumshandschriften, die einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten umfasst, zeigt, dass die Texte eben nicht nach der jeweils vorherrschenden theologischen Meinung umformuliert wurden, sondern dass sie bis auf wenige Abweichungen, die den Sinn und Inhalt der Texte nicht verändern, unverfälscht überliefert worden sind.
Das gilt aber nicht nur für die fertigen Evangelien, sondern erst recht auch für die Quellentexte, aus denen die Evangelisten ihre Jesus-Berichte zusammenstellten. Auch die waren für die Menschen, die in den frühen christlichen Gemeinden mit ihnen umgingen, heilig und niemand von ihnen hätte es gewagt, oder wäre auch nur auf die Idee gekommen, etwas an ihnen herumzumanipulieren. Diese Quellentexte (siehe die Zusammenstellung weiter unten) bestanden aus Sammlungen von Jesus-Worten, die unmittelbar während und nach der Verkündigung Jesu aufgeschrieben worden waren.
Wir können also davon ausgehen, dass die in den Evangelien überlieferten Jesus-Worte authentische und unverfälschte Jesus-Rede sind. Eine solche Sammlung von Jesus-Worten, die uns heute noch als geschlossene Einheit vorliegt, stellt das sogenannte „Thomas-Evangelium“ dar, dessen Entstehungszeit allgemein relativ früh, also parallel zur Entstehung der kanonischen Evangelien, angesetzt wird. Hier wird keine Jesus-Geschichte erzählt, sondern es werden nur einzelne, unverbundene Jesus-Worte zitiert. Meist heißt es einfach nur: „Jesus sagt: …“, und dann kommt ein Zitat, das manchmal nur aus einem einzelnen Satz, manchmal aus einem längeren Redeabschnitt besteht. Ein situativer Zusammenhang zu diesen Reden wird nicht berichtet.
Man kann sich gut vorstellen, wie einer der Zuhörer Jesu, der ihn längere Zeit auf seinen Wanderungen durch Galiläa begleitet hat (der Überlieferung nach war das der Jünger Thomas), einzelne Sätze und kurze Redeteile unmittelbar während oder nach der Predigt Jesu aufgeschrieben hat und so im Laufe der Zeit der öffentlichen Verkündigung Jesu eine ganze Sammlung solcher bruchstückhaften Mitschriften angelegt hat. Diese Sammlung von Jesus-Worten wurde allerdings nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen, wenngleich der Text zum überwiegenden Teil mit den Jesus-Worten der kanonischen Evangelien übereinstimmt. Wahrscheinlich lag sie den Verfassern der vier Evangelien nicht vor. Das bedeutete aber, dass diese Texte später nicht in gleicherweise als „heilige Texte“ angesehen und so vor Veränderungen geschützt waren. Das uns heute vorliegende „Thomas-Evangelium“ ist eine spätere Fassung in koptischer Sprache, bei der offensichtlich der ursprüngliche Textbestand nach und nach und entsprechend dem damaligen vorherrschenden Zeitgeist mit gnostischem Gedankengut „aufgefüllt“ worden war.
Offensichtlich gab es schon sehr früh, also schon in den ersten Monaten und Jahren nach den Ereignissen von Ostern, Pfingsten und Himmelfahrt, zumindest in der Jerusalemer Urgemeinde, vielleicht auch schon an anderen Orten, mehrere kleine Sammlungen von Jesusworten, aus denen z. B. auch die Apostel zitieren konnten, wenn sie die Botschaft Jesu weitergaben. Berichte von Heilungen und anderen Wundern, von wichtigen Ereignissen und Entwicklungen wurden wahrscheinlich erst später nach den mündlichen Überlieferungen der Apostel und anderer Augenzeugen aufgeschrieben. Die Passions- und Auferstehungsberichte machten dabei möglicherweise eine Ausnahme, indem sie, ähnlich wie die Worte Jesu, schon sehr zeitnah schriftlich fixiert und als Zentrum der apostolischen Verkündigung den Reden-Sammlungen hinzugefügt wurden. Die Kindheitsgeschichten und andere erzählenden Darstellungen wurden wahrscheinlich erst deutlich später hinzugefügt, als mit dem zeitlichen Abstand der Ereignisse das Interesse an weiteren Details wuchs.
Diese Textsammlungen (wahrscheinlich anfangs nur einzelne Blätter und kleinere Rollen) waren ja nun gewiss nicht freie Handelsware auf den Märkten der damaligen Städte, sondern kostbarer und sorgsam gehüteter Schatz einzelner christlicher Gemeinden, z. B. in Jerusalem, Antiochien, Ephesus, Rom… Eine Gemeinde, die über eine Anzahl von Schriften und Abschriften von Worten Jesu und von Berichten über sein Leben verfügte, war sich bewusst, mit ihnen die Grundlagen ihres Glaubens, das Fundament ihres Christ-Seins zu bewahren. Solche Texte wurden nach und nach durch Abschreiben weiter vervielfältigt und unter verschiedenen Gemeinden ausgetauscht. Ja, man kann vermuten, dass nach der Neugründung einer Gemeinde dieser bei gegenseitigen Besuchen oder ähnlichen Anlässen auch Abschriften verschiedener Texte übergeben wurden als Grundlage ihres Glaubens und ihrer Verkündigung.
Auf diese Weise enthielten die meisten Textsammlungen der Gemeinden einen Stamm von gemeinsamen Texten, wobei einzelne Gemeinden trotzdem auch Texte aufbewahrten, die in anderen Sammlungen nicht enthalten waren (sogenanntes „Sondergut“). Verständlich ist auch, dass die Textsammlung einer bestimmten Gemeinde ganz bestimmte Schwer-punkte bildete, und zwar durch die besondere Beachtung und Wertschätzung von Texten, die auf die jeweilige besondere Situation der betreffenden Gemeinde bezogen werden konnten.
So können wir nun eine ganze Reihe solcher Rede-Jesu-Sammlungen identifizieren: Die Markus-Sammlung, die Sammlung der sogenannten „Logienquelle“, das Matthäus-Sondergut, das Lukas-Sondergut, die Johannes-Sammlung, die Thomas-Sammlung. Selbstverständlich verfügten nicht alle Gemeinden über den ganzen Bestand an Texten. Bei manchen mag auch der Textbestand der einzelnen jeweils verfügbaren Sammlungen unvollständig gewesen sein. Aus diesen Rede-Jesu-Sammlungen (abgesehen von der Thomas-Sammlung), zusammen mit den Berichten der Jünger über Abläufe, Ereignisse, Heilungen und andere Wunder usw., vor allem auch mit den Passions- und Auferstehungsberichten, stellten schließlich die vier Evangelisten ihre Evangelien zusammen.
Wobei nicht allen Evangelisten alle Redesammlungen vorlagen. Dem Verfasser des „Matthäus-Evangeliums“ standen die Markus-Sammlung (wahrscheinlich nicht das fertige Markusevangelium), die Logienquelle und zusätzliches Material zur Verfügung, das unter dem Namen „Matthäus-Sondergut“ zusammengefasst wird. Dem Verfasser des „Markus-Evangeliums“ lag im Wesentlichen nur das Material der hier so genannten „Markus-Sammlung“ vor (die aber selbstverständlich inhaltliche Parallelen mit den anderen Sammlungen hatten; alle berichteten als Augen- ind Ohrenzeugnissen von den selben Ereignissen und Reden). Der Verfasser des „Lukas-Evangeliums“ hatte die Markus-Sammlung, die Logienquelle und zusätzliches Material vorliegen, das wir unter der Bezeichnung „Lukas-Sondergut“ kennen. Johannes verwendete eine eigene Redensammlung, die offensichtlich den „Synoptikern“ nicht zur Verfügung stand. Sie enthält z. B. ausführliche Aufzeichnungen von Auseinandersetzungen Jesu mit den jüdischen Autoritäten seiner Zeit und Selbstbezeichnungen Jesu in den „Ich-bin-Worten.
Die Thomas-Sammlung war wohl den Herausgebern der vier kanonischen Evangelien nicht bekannt und es lässt sich nur vage vermuten, dass diese Sammlung relativ frühzeitig aus dem normativen Umfeld der Apostel und Zeugen heraus in die Hände von Gruppierungen (in Nordafrika) gelangte, wo die ursprüngliche Überlieferung mit gnostischem Gedankengut „angereichert“ wurde.
3 Zusammenstellung der Evangelien
Erst Jahre nach dem Tod und der Auferstehung Jesu unternahmen es einzelne besonders schriftkundige und am Zusammenhang der Jesus Verkündigung interessierte Gemeindeglieder (z. B. Lukas) den Versuch, die Textsammlung einer bestimmten (wahrscheinlich ihrer eigenen) Gemeinde zusammenzufassen, ihre Inhalte (die zum Teil schon in übersetzter Form vorlagen) zu ordnen, sie mit der Erzähltradition über besondere Ereignisse und Abläufe zu verbinden und sie als zusammenhängendes „Evangelium“ (Frohe Botschaft) darzustellen (Lk 1,3-4: „So habe auch ich’s für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist.“
Lukas betont in der Einleitung seines Evangeliums ausdrücklich, dass er für seinen Bericht die Überlieferung derer benutzte, die selbst Augen- und Ohrenzeugen der Ereignisse waren und dass er bemüht war, diese Überlieferungen durchzusehen (vielleicht auch bisher in Privatbesitz verstreute Texte und mündliche Überlieferungen hinzuzufügen) und alles in eine „gute Ordnung“ zubringen. Die Übereinstimmungen unter den Evangelien entstanden ganz selbstverständlich dadurch, dass die Evangelisten Textsammlungen benutzten, die zu einem mehr oder weniger großen Teil die gleichen Texte enthielten. Die Differenzen entstanden dadurch, dass die Herausgeber der Evangelien zum Teil auch verschiedene Reden-Jesu-Sammlungen vorliegen hatten.
Es kann, muss aber nicht so gewesen sein, dass einer der Evangelisten (z. B. Matthäus), ein schon existierendes Evangelium, (das des Markus) vorliegen hatte und durch Texte einer anderen Sammlung ergänzte. Es ist auch durchaus möglich, dass Matthäus, so wie es die frühe Überlieferung beschreibt*, als Erster den Versuch unternahm, die (umfangreichere) Textsammlung seiner Gemeinde zu ordnen und zusammenzufassen, und dann etwas später Markus die (kleinere) Sammlung seiner (einer anderen) Gemeinde zusammenstellte, die aber zum Teil gleiche Textbestandteile enthielt. Bei Lukas verhielt es sich dann entsprechend.
*Bischof Papias von Hierapolis (erste Hälfte des 2. Jahrhunderts) schreibt: „Matthäus hat die Aussprüche (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte.“ (Papias – Fragmente 5,16).
Bei dieser Interpretation der Evangelien als der Zusammenfassung einer Sammlung von Texten über Leben und Botschaft Jesu, die in einer bestimmten Gemeinde Verwendung fand, tritt der Verfasser (oder richtiger: Herausgeber) des jeweiligen Evangeliums wesentlich hinter den vorhandenen Textvorlagen zurück und versucht nicht, eine eigene Theologie in sie hineinzulegen. Freilich wurden allein schon durch die Anordnung und Gewichtung der Texte in der Evangeliendarstellung verschiedene Schwerpunkte gebildet, die durch die Anforderungen einer bestimmten Gemeinde als Adressat des Berichts und durch die Herausforderungen einer bestimmten Gemeindesituation beeinflusst wurden. Wesentlich sind die Evangelien aber durch das ihnen zugrunde liegende Textmaterial geprägt, das authentisch die Botschaft Jesu und besondere Ereignisse seines Lebens wiedergibt. Lediglich manche erzählenden und kommentierenden Teile der Evangelien, die möglicherweise nicht auf schriftlichen Textvorlagen, sondern nur auf mündlicher Überlieferung beruhten, sind dann von der persönlichen Sicht des Evangelisten als Redakteur und Herausgeber stärker beeinflusst.
Lukas berichtet, dass vor ihm „schon viele es unternommen haben, Bericht zu geben von den Ereignissen, die unter uns geschehen sind“. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass es außer den vier Evangelien, die im NT enthalten sind, noch mehrere ähnliche Zusammenstellungen von Berichten und Reden aus dem Leben Jesu gab, die nicht mehr erhalten sind. Im sogenannten „Thomasevangelium“ liegt uns möglicherweise eine Sammlung von Jesus-Worten vor, die noch nicht von einem Herausgeber geordnet und in eine Jesus-Geschichte eingebettet wurden, vielleicht auch deshalb nicht, weil hier oft nur sehr kurze Rede-Bruchstücke überliefert sind, die nirgends einen situativen Zusammenhang erkennen lassen. Spätere Evangelienzusammenstellungen, die nur noch in kleinen Bruchstücken (und auch die nur in später stark überarbeiteter Form) erhalten geblieben sind, z. B. das „Petrus-Evangelium“, das „Hebräer-Evangelium“, das „Nazaräer-Evangelium“, das „Ebioniten-Evangelium“ usw., lassen die ursprüngliche Rede Jesu nur noch schwer erkennen.
Wir können uns die Überlieferung der Evangeliumstexte so vorstellen, als ob jemand heute die Notizen und Mitschriften mehrerer Studenten aus den Vorlesungen eines bestimmten Professors vorliegen hätte und nun versuchen würde, die Inhalte nun auch für andere zugänglich zu machen (Kopiergeräte und Computer denken wir uns jetzt mal weg). Das würde dann am besten gelingen, wenn der Herausgeber möglichst alle verfügbaren wörtlichen Zitate in seine Zusammenstellung mit aufnimmt. Um den Lesern auch die Person des Professors näher zu bringen, würde der Herausgeber dann Menschen befragen, die längere Zeit mit ihm zusammen gelebt und gearbeitet haben und deren Berichte in die Textüberlieferung mit einflechten. Das Johannes-Evangelium beruht nach dieser Deutungsversion auf einer eigenen Textsammlung, die weitgehend unabhängig von den drei „synoptischen“ Evangeliumsvorlagen entstanden war, aufgeschrieben durch einen Jünger Jesu, der weniger an der Reich-Gottes-Botschaft Jesu interessiert war (oder diese in anderen, schon vorliegenden Evangelien gut zusammengefasst wusste), sondern mehr an der Person Jesu und an seinem Verhältnis zum Vater und an den Auseinandersetzungen Jesu mit den jüdischen Autoritäten seiner Zeit (und warum sollte das nicht der Jünger und spätere Apostel Johannes gewesen sein?).
Widersprüche zwischen dem Johannesevangelium und den Synoptikern (z. B. im zeitlichen Ablauf der Ereignisse) gehen dann möglicherweise auf verschiedene Handhabung der kalendarischen Vorgaben in verschiedenen Gemeinschaften zurück oder auch auf Missverständnisse und Fehlinterpretationen der späteren Herausgeber der verschiedenen Textsammlungen, die manche der Aufzeichnungen zeitlich nicht mehr eindeutig zuordnen konnten. Die fertigen Evangelien wurden dann wahrscheinlich sehr bald durch Abschreiben vervielfältigt und zwischen den verschiedenen Gemeinden hin und her ausgetauscht, so dass größere Gemeinden mehrere und später sogar alle vier zur Verfügung hatten. Heute ist es nur noch schwer möglich, die Evangelien ihren Ursprungsgemeinden zuzuordnen, sonst wäre es wohl sinnvoller, sie anstatt nach ihrem Verfasser (Evangelium des Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes) sie nach ihrem Entstehungsort zu benennen. Also etwa: „Jerusalemer Evangelium“, „Römisches Evangelium“, „Antiochenisches Evangelium“, „Ephesus-Evangelium“ …
Außer den Texten, die Berichte über Leben und Botschaft Jesu enthielten, wurden nach und nach in den Textsammlungen der Gemeinden auch Briefe wichtiger „Väter“ des Glaubens (z. B. des Paulus oder Petrus und Johannes …), bzw. Abschriften davon aufbewahrt. Diese Sammlung wichtiger Schriften aus den Anfängen der Christenheit war nicht zu Ende, nachdem der Kanon des NT zusammengestellt und abgeschlossen war, sondern umfasste später auch die Briefe der wichtigsten Zeugen der frühen Kirche, der sogenannten „Apostolischen Väter“ usw. Genau genommen ist diese Sammlung wichtiger Stimmen aus der Christenheit bis heute nicht abgeschlossen und wächst auch heute noch von Tag zu Tag.
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Bodo Fiebig „Von der Rede zur Schrift“, Version 2020-8
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