Selbstverständlich hätte eine verbale Botschaft allein nicht so viele Menschen bewegen können (und könnte sie nicht bis heute noch bewegen), wenn sie nicht von der Lebenspraxis der Menschen, die sich zu ihr bekannten, bestätigt und „verleiblicht“ worden wäre. Joh 1,1+14: Im Anfang war das Wort (…). Und das Wort ward Fleisch … So beginnt das Johan-nes-Evangelium. Das ist bei Johannes zunächst auf Jesus, das „Fleisch gewordene Wort Gottes“ bezogen. Aber schon Jesus selbst fordert seine Jünger auf, seine Worte „Fleisch“ werden zu lassen (Lk 6,46): Was nennt ihr mich aber Herr, Herr, und tut nicht, was ich euch sage? Die Jünger sollen Menschen aus allen Völkern nicht nur zu Kennern sondern auch zu Nachfolgern Jesu machen. Mt 28, 18-20 (Lutherübers.): Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Diese „Mission“ der Jünger sollte nicht nur darin bestehen, die Menschen zu belehren, sondern auch und vor allem, sie anzuweisen, alles zu halten, was Jesus seinen Jüngern befohlen hat. Es geht also nicht nur um die Lehre (um die auch), sondern vor allem um das Leben. Es geht um die Herausbildung von Lebensgemeinschaften, bei denen das Gemeinschaftsleben nach dem Vorbild und der Lehre Jesu ausgerichtet und gestaltet ist. Und Jesus kündigt an, dass er selbst in solchen Gemeinschaften gegenwärtig sein wird und dass dadurch in ihnen Wunder geschehen werden, die (aufs Ganze gesehen) seine eigenen Taten noch übertreffen (Joh 14,12): Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun.
Das Wort des Evangeliums muss „Fleisch“ werden, muss „materialisiert“, „verlebendigt“ und „vermenschlicht“ werden, damit es seine Wirkung in der Welt und für die Welt entfalten kann. In der Jerusalemer Urgemeinde ist das beispielhaft geschehen (Apg 2, 42-47): Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.* Das klingt in den Ohren von gläubigen Christen heute gar nicht so aufregend. Lediglich der gemeinsame Besitz ist für uns ungewohnt. Aber auch das kennen wir ja seit Jahrhunderten aus den Klostergemeinschaften und ähnlichen christlichen Zentren. Für die Menschen zur Zeit der ersten Christen war das alles aber eine schier unglaubliche Erscheinung und Herausforderung.
* Das bedeutet natürlich nicht, dass es nur in der Jerusalemer Jesus-Gemeinde so geschehen wäre.Diese war nur die erste, modellhafte Entfaltung einer Lebensform der Jesusjüngerschaft, die sichdanach noch in vielen anderen Orten und Ländern unter anderen äußeren Bedingungen in ver-schiedener Weise fortsetzte.
Die Völker und Volksgruppen im Nahen Osten lebten seit vielen Jahrhunderten unter der Oberherrschaft von Großreichen, die eine gewaltsame Unterwerfungspolitik gegenüber den von ihnen eroberten Territorien und Menschen ausübten (hier sind nur die wichtigsten zu nennen): Ägypten, Babylonien, das Hethiter-Reich, Assyrien, dann das Neubabylonische Reich, danach die Meder und Perser, dann das Reich Alexanders des Großen und seiner Nachfolger, der Ptolemäer und Seleukiden, dann, östlich des Euphrat, das Partherreich und zugleich, westlich davon, das Römische Reich …
Der Wechsel der Machthaber folgte immer dem gleichen Muster: Wenn eines der Herrschaftssysteme, aus welchen Gründen auch immer, schwach geworden war, drang eine andere aufstrebende Macht ein, die in der Nachbarschaft lebte oder die, als eine der unterworfenen Volksgruppen, bisher ein Sklavendasein gefristet hatte, und unterwarf nun ihrerseits in einem gewaltsamen Eroberungszug die bisher herrschende Klasse. Dabei ging man nicht zimperlich vor: Die bisherigen Machteliten wurden abgeschlachtet, ganze Völker in die Verbannung getrieben und versklavt, die bisherige Religion wurde für ungültig erklärt oder vereinnahmt und durch die Verehrung der Götter der neuen Machthaber ersetzt. Oben und unten wurden vertauscht: Die früheren Knechte wurden Herren und die früheren Herren wurden Sklaven. Das System der Unterdrückung selbst blieb dabei weitgehend unverändert.
Die Religion funktionierte bei so einem gewaltsamen Herrschaftswechsel als Instrument der herrschenden Klasse zur Disziplinierung der eroberten und unterworfenen Völker und zugleich zu deren emotionalen Bindung an das neue Herrschaftssystem: „Wir haben gesiegt, weil unsere Götter die Stärkeren waren. Deshalb ist es zwecklos, sich gegen uns, die neuen Herren, auflehnen zu wollen, denn das wäre auch Auflehnung gegen eben die Götter, die sich jetzt als die Mächtigsten erwiesen haben. Dient diesen Göttern, indem ihr uns dient in unterwürfiger Haltung, dann werden sie auch euch gnädig sein.“ Religion als Herrschaftsinstrument der herrschenden Mächte, das war eine selbstverständliche und allen Menschen der damaligen Zeit geläufige Funktion aller religiösen Denksysteme, Glaubensinhalte, Kulte und Zeremonien. (Siehe das Thema „Weltreligionen und biblischer Glaube“.
Die jüdische Gotteserfahrung aber, die im Christentum eine „weltgängige“ Ausprägung erhalten hatte, widersprach entschieden dieser Instrumentalisierung des Glaubens (5. Mose 7, 7-8): Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat.
Religion wird hier auf ganz neue Weise erfahrbar: nicht als Mittel zum Zweck des Machterhalts, sondern als Ausdruck der Liebe Gottes, die sich in der Liebesgemeinschaft der Gläubigen in menschlich wahrnehmbarer Weise darstellt und verwirklicht (siehe das Thema „AHaBaH – das Höchste ist lieben“). Joh 13, 34-35: Ein neues Gebot gebe ich euch,dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebhabt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. Das Christentum war eben nicht Repräsentant eines neuen Herrschaftssystems, sondern Antwort des Glaubens und Lebens auf die schon geschehene Erlösung durch den Tod und die Auferstehung Jesu, auf die erfahrene Zuwendung und die erlebten Wohltaten Gottes. So war es für die unterdrückten Volksgruppen ebenso annehmbar, wie für die Angehörigen der herrschenden Schichten, konnte jüdische Menschen ebenso ansprechen, wie Angehörige verschiedenster heidnischer Religionen, wurde zur Brücke zwischen ehemals starr voneinander abgegrenzten Teilen der Bevölkerung.
Die Verbindung der Botschaft Jesu mit der anschaubaren und erfahrbaren Realität im Leben und Zusammenleben der christlichen Gemeinschaften überzeugte viele Menschen. Die christlichen Gemeinden der Anfangszeit in den Ländern rund ums Mittelmeer bestanden meist aus unbedeutenden Leuten, Sklaven, kleinen Handwerkern und Händlern … Und doch wagten sie es, den römischen Gott-Kaiser-Kult abzulehnen und damit der herrschenden Macht zu widerstehen. Und sie waren zugleich offen für alle Gesellschaftsschichten, bereit, sich den Ärmsten und Machtlosesten ebenso zuzuwenden, wie den Mächtigen und Gebildeten, sie in ihre Gemeinschaft aufzunehmen und ihnen zu dienen.
Das Evangelium (die „Frohe Botschaft“) wurde (und wird auch heute) für viele überzeugend und annehmbar, wenn es von der Lebenswirklichkeit der christlichen Gemeinden gedeckt und bestätigt wird, wenn es über alle Mauern und Gräben menschlicher Abgrenzungen hinweg zur Einheit der Verschiedenen in versöhnter Vielfalt und zur Gemeinschaft gelebter Liebe wird. Und das gilt heute noch genau so wie damals.
.
Bodo Fiebig „Gemeinschaft des Evangeliums“, Version 2020-8
© 2010, herausgegeben im Selbstverlag, alle Rechte sind beim Verfasser.
Vervielfältigung, auch auszugsweise, Übersetzung, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen und jede Form von kommerzieller Verwertung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers.