Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb?“, fragt der auferstandene Jesus seinen Jünger, den er auch „Petrus“ nannte, den „Felsen“. Und Simon antwortet: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Simon Petrus war drei Jahre lang mit Jesus zusammen gewesen, auf allen Wegen, bis hin zu jenen Ereignissen, bei denen er seinen Freund und „Meister“ kurz vor dessen Tod drei mal verleugnet hatte, um sein eigenes Leben zu retten. Und nun stand er ihm gegenüber, ganz nah und persönlich und antwortete ganz persönlich auf diese Frage „… hast du mich lieb?“ Petrus war in einer sehr schwierigen Lage, als ihm diese Frage gestellt wurde, aber er ist ihr nicht ausgewichen, sondern hat sie ehrlich beantwortet. Und irgendwann, irgendwo, in irgendeiner Situation steht jeder Jesus-Jüger, jede Jesus-Jüngerin vor dieser Frage Jesu (manche auch mehrmals in ihrem Leben): „Hast du mich lieb?“
Die Antwort des Petrus kennen wir. Aber, wie geht es uns mit dieser Frage? Wir waren nicht mit Jesus unterwegs gewesen am See Genezareth. Wir waren nicht mit ihm von Ort zu Ort gewandert, wir waren nicht mit ihm hungrig und durstig gewesen, hatten nicht den letzten Bissen, den letzten Schluck mit ihm geteilt. Wir haben nicht den Klang seiner Stimme im Ohr. Wir kennen nicht den Ausdruck seines Gesichts, wenn er lacht, oder weint, nachdenklich schweigt, begeistert redet oder aufmerksam zuhört, … Wie können wir Jesus lieben, wenn wir ihn gar nicht persönlich kennen?
Ja, wir kennen Aussagen im Neuen Testament der Bibel über ihn: Dass er gepredigt und geheilt hat, dass er gekreuzigt wurde und gestorben und auferstanden ist. Und wir kennen theologische Aussagen über ihn: Dass sein Leiden und Sterben, seine Auferstehung und Himmelfahrt, dass die auch für uns geschehen seien, zu unserem Heil. Wir verdanken ihm viel.
Aber wir haben keine Erinnerung an einen Händedruck (oder sonst eine Berührung) oder an ein Gespräch mit ihm, wenn wir uns von ihm verstanden fühlten oder wenn wir selbst ihn gar nicht mehr verstehen konnten, und wie er reagierte, wenn er es merkte, dass wir ihn nicht verstehen, obwohl er sich doch so bemüht hatte, seine Anliegen möglichst anschaulich zu erklären. Können wir jemanden lieben, den wir nie mit eigenen Augen gesehen, nie mit eigenen Ohren gehört haben? Können wir jemanden lieben, dem wir nie persönlich begegnet sind?
Können wir, kann ich jemanden lieben, dem ich nie persönlich und körperlich nahe war, den ich nie selbst gesehen, gehört, berührt habe? Oder bin ich nur verliebt, verliebt in das Idealbild, das ich mir selbst von ihm gemalt habe mit den Farben meiner Wunschvorstellungen? Jesus, mein Retter und Erlöser, Jesus, mein Bruder und Freund, Jesus, mein Vertrauter und Helfer in allen Lebenslagen … Ist meine Jesus-Liebe so etwas wie eine romantische Fern-Beziehung, in der der ferne Geliebte immer verklärtere Züge annimmt?
Oder bin ich ihm doch schon begegnet, nicht nur im Wort der Evangelien oder im Bericht von Zeugen, nicht nur im gläubigen Gebet und geistlicher Betrachtung, sondern ganz real, sichtbar, hörbar, berührbar, manchmal widersprüchlich, fremd und unverstehbar, aber doch nahe, im Leben und Zusammenleben, so wie er seinen Begleitern (Männern und Frauen) damals nahe war? Jesus selbst sagt zu seinen Jüngern (auf dem Ölberg, als sie allein waren, Mt 24,3) tatsächlich und ganz ernsthaft, dass sie ihm so direkt (also körperlich, geistig, seelisch präsent) begegnen werden, aber dann doch ganz anders, als sie es erwartet hätten:
(Mt 25, 31-45): Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich („ich“ sagt Jesus!) bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir („mir“ sagt Jesus) nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
Jesus sagt denen, die ihn lieben wollen: „Jener Hungrige, Durstige, Fremde, Nackte, Kranke, Gefangene, (du erinnerst dich noch?) das war ich. Und da habe ich nicht auf innige Gefühle gewartet, nicht auf emotionale Seelenverwandtschaft, nicht auf erotische Anklänge, sondern auf jemanden, der mir zu Essen gibt, weil ich hungrig bin, der mir etwas zum Trinken bringt, weil ich Durst habe, der mich bei sich aufnimmt, weil ich als Fremder keine Bleibe habe für die Nacht, auf jemanden, der meine beschämende Nacktheit sieht und mir etwas zum Anziehen gibt, der mich in meiner Krankheit besucht, der zu mir ins Gefängnis kommt … So, so wollte ich geliebt werden von dir. Und diese Liebe wird ihre Bedeutung haben und behalten bis zu jener Zeit, wo der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm. Das andere, die innigen Gefühle, die emotionale Seelenverwandtschaft, die erotischen Anklänge, das kann später noch dazukommen (oder auch nicht). Und irgendwann, irgendwo, in irgendeiner Situation werde ich auch dir diese Frage stellen: Hast du mich lieb? Und wenn du mich dann schon so real geliebt hast in deinem Nächsten, dann wird dir die Antwort leicht fallen: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.“
Wenn wir Jesus nur im Idealbild des Gottessohnes und Messias, des Retters und Erlösers lieben und nicht auch in der Realität und Gegenwart des (oft gar nicht idealen) „Nächsten“, mit dem wir es „zu tun haben“, dann sind wir zumindest in der Gefahr, nur das eigene Wunschbild zu lieben, und nicht auch die reale Gegenwart Jesu im nächsten Menschen. Das sage ich mit voller Überzeugung, auch wenn ich mir meiner eigenen weitgehenden Unfähigkeit (manchmal auch Unwillligkeit) zu solcher „Nächstenliebe“ bewusst bin.
Im letzten gemeinsamen Gebet mit seinen Jüngern spricht Jesus noch einmal dieses “Eines-sein“ an, das Eines-sein von Gott, dem Vater, und ihm, dem Sohn und den Menschen, „die an ihn glauben werden“ durch die Liebe (Jo 17, 20-23):
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.
Die Einheit des Vaters und des Sohnes und der Menschen, die an Jesus als Messias glauben durch den „Geist“ Gottes, der die Liebe ist, das ist die „Dreieinigkeit“, die Jesus uns offenbart. (Und nur soweit unsere „Trinitäts-Lehren“ dem entsprechen, sind sie auch biblisch und wahr.)
Auch im ersten Teil der Bibel (AT) ist von diesem „Eines-sein“ der Liebe zu Gott, die in der Liebe zum Nächsten real wird, die Rede. Jesus, (im zweiten Teil der Bibel), zitiert dazu zwei Kernsätze aus dem ersten Teil (Mt 22, 35-40):
Und einer von ihnen, ein Lehrer des Gesetzes, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt“ (5.Mose 6,5). Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3.Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. (Der Ausdruck „Gesetz und Propheten“ steht für „das ganze offenbarte und schriftlich überlieferte Wort Gottes“.) Und zur Veranschaulichung dessen, wie die Liebe zu Gott und zu den Menschen zusammengehören, erzählt Jesus gleich anschließend das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ (Lk 10, 30-36): Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Wir Menschen können Gott (normalerweise) nicht unmittelbar wahrnehmen. Wir können ihn auch nicht unmittelbar „lieben von ganzem Herzen“ und wir können unsere Liebe zu ihm nicht im konkreten Tun bestätigen und handfest verwirklichen. Unsere Gottesliebe realisiert und verleiblicht sich in ganz realen und handfesten „Liebestätigkeiten“ an den Menschen, mit denen wir es jeweils „zu tun haben“.
Als Simon Petrus auf die Frage Jesu antwortet „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe“ gibt Jesus zurück: „Weide meine Schafe“. Das heißt: „Erweise deine Liebe zu mir als echt und real, indem du die Herde, die ich dir anvertraue „von ganzem Herzen“ liebst und sie und jede/n Einzelne/n in der Herde leitest und mit allem versorgst, was sie (leiblich und geistlich) brauchen. Und das gilt ja nicht nur für Simon, den „Felsen“, sondern für uns alle (1. Kor 12 ): Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller. Dem einen wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben; dem andern ein Wort der Erkenntnis durch denselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will.
Welchen „Geist“ Paulus da meint, wird gleich im nächsten Kapitel seines Briefes deutlich, im „Hohelied der Liebe“. Erst im Geist dieser Liebe werden alle unsere Begabungen zu „Gottesgaben“ an die Menschheit (auch wenn die in den meisten Situationen nur durch Einzelne oder wenige Menschen repräsentiert wird).
„Wer ist Jesus für uns oder für mich?“, das war die Frage dieses letzten Beitrags zum Thema „Jesus – die Person“. Und wir merken: Der Jesus, der uns in der Bibel begegnet, ist uns auch noch im 21. Jahrhundert viel näher, als dir dachten.